Halt Dich an Deiner Liebe fest

Ulrich Peltzers poetische Kunst der Fuge über Revolte und Staatsschutz

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer schreibt eigentlich hierzulande die wichtigen, politisch aussagekräftigen Gesellschaftsromane? Sind es wirklich noch Günter Grass, Martin Walser und ihre Generationsgenossen, die entscheidende Konflikte aufspüren und in einer zeitgemäßen Erzählform darbieten? Welcher deutsche Autor besitzt die soziologische Einbildungskraft eines Don deLillo oder die provokatorische Chuzpe eines Michel Houellebecq? Die derzeit erfolgreiche Welle der Familien- und Generationsromane trifft gewiss ein Bedürfnis nach Orientierung in wandlungsreichen Zeiten. Und dieses Genre taugt fraglos auch zu historisch tief gestaffelten Schnappschüssen sozialer Verhältnisse sowie generationsspezifischer Befindlichkeiten und Konflikte. Doch bleibt das Erzählmodell der Familiensaga meist eigentümlich altbacken und ästhetisch konventionell.

Deutschsprachige Leitsterne des politisch wachen Gegenwartsromans und Pendants deLillos sind Ernst Wilhelm Händlers kapitalistischer Hyperrealismus sowie Ulrich Peltzers ähnlich minutiöse Bewusstseinscollagen aus der Welt des akademischen Prekariats und der revolutionären Zellen. Während Händler die Handlungslogiken und Bewusstseinströme von Firmeneigentümern und Managern in so überzeugenden wie beunruhigenden Bildern und Geschichten darbietet, gelingen Ulrich Peltzer mit ähnlichen ästhetischen Mitteln eines polyphon collagierenden Realismus vergleichbar eindringliche und fesselnde Gesellschaftsbilder. Beide interessieren sich im übrigen gleichermaßen für gebaute Außenwelten, für Interaktionen in Organisationen und für psychische Innenwelten. Beide arbeiten zudem an einer unsentimentalen, doch nicht plumpen Sprache der Liebe, des Begehrens und des Sex'.

Peltzers leitende Perspektive ist freilich die von links außen. Wo Händler sein Personal aus den solventen Funktionseliten rekrutiert, zählen die Protagonisten in Ulrich Peltzers neuem Roman "Teil der Lösung" zum zunehmend von Unsicherheiten geprägten, alternativen, akademischen Milieu - mithin zu einem urbanen Segment des diffundierenden 'Mittelstands'. Christian ist ein freier Journalist, der sich mit ungeliebten und so schlecht wie unzuverlässig bezahlten Katalogtexten oder gar geschönten Restaurantempfehlungen durchschlägt. Er lebt zur mitleidig subventionierten Untermiete in der Wohnung seiner Ex-Freundin und muss im Laufe des Romans eine neue, billige Bleibe suchen. Sein Lebensgefühl nebst einigen ästhetischen und realen Lebensstationen kondensiert Peltzer in einem dichtem Stichwort-Strom: "Auf Vinyl hatte man sich damals noch Hüsker Dü und Gunclub gekauft, wenig später als CD dann schon die erste Public Enemy und Daydream Nation von Sonic Youth - Monate, wenn nicht Jahre, die aus Drogen und Nichtstun bestanden, Theorien der Geschwindigkeit und des Sinns, grammatologische Prüfungen. Wodkaräusche und Speed in Behausungen unterhalb jeden Standards. Erst zehn Jahre her und es kommt einem vor, als seien es hundert gewesen. Seltsame Gegenwart."

Dieser Christian wird von seinem Jugendfreund Jakob, einem geringfügig weniger prekär etablierten Privatdozenten der Literaturwissenschaft, eher zufällig auf das Schicksal ehemaliger italienischer Linksterroristen aufmerksam gemacht, die seit über 25 Jahren in Paris leben und unter neuen politischen Verhältnissen nun von der Abschiebung bedroht sind. Christian würde gern mit diesen Menschen ein Interview führen über ihr Leben zwischen gewalttätiger Untergrundvergangenheit und jetzigem normalen 'Doppelleben' als Ärzte oder Anwälte. Dies geht freilich nur auf konspirativ umständlichen Wegen über einen mit Jakob befreundeten Romanistikprofessor und weitere Zwischenmänner.

Der zweite Handlungsstrang inszeniert das Katz- und Maus-Spiel zwischen jungen Protestlern, die Anschläge gegen Zwangsabschiebung, Videoüberwachung und Globalisierung planen, und ihren Gegnern vom polizeilichen Staatsschutz, der mit V-Männern, Telefon- und E-mail-Überwachungen die Angriffe aufzuklären versucht. Das zeitgemäße Augenmerk des Romans gilt dabei den medialen Dispositiven, in denen politische Aktionen und Repräsentationen formatiert werden. Die Geschichten der italienischen Roten Brigaden werden zu guten Teilen durch eine Fernsehdokumentation herbeizitiert und von Christian und Jakob kommentiert. Noch prägnanter zeigt Peltzer die mediale Überwachung des öffentlichen Raums in der fulminanten Auftaktsequenz des Romans: Die Protestaktion einer clownesken Widerstandsgruppe gegen die ubiquitäre Privatisierung und Überwachung 'öffentlicher' Räume am Potsdamer Platz wird aus der Perspektive der Wachleute gezeigt, die vor ihren Video-Monitoren das Geschehen beobachten und kommentieren.

Hier zeigt sich - wie später auch bei den Analysen, Disputen und Bewusstseinströmen der Staatsschutzpolizisten - Peltzers grandioses Vorstellungsvermögen für gegensätzliche Positionen und Blickwinkel. Die Gegner werden in ihrer realen dialektischen Interdependenz gezeigt. Der Autor komponiert die widerstreitenden Stimmen, die er mit beeindruckendem Einfühlungsvermögen ablauscht oder imaginiert, zu einer großen politischen Fuge. So werden etwa die Motive der jungen Demonstranten am systematischsten in den sympathetischen Ausführungen eines Staatsschutzbeamten erhellt. Freilich will dieser mit seinem Nachvollzug der Anschlagsgründe zugleich seine Abteilung vor Umschichtungen zugunsten der anti-islamistischen Terrorabwehr bewahren.

Der Bohemian und Gelegenheitsjournalist Christian schreibt im Buch an einem Roman in der Form einer polyperspektivischen Stimmencollage. Wie John Dos Passos "Manhattan Transfer" soll sein immer wieder verworfener und aufgeschobener Romanentwurf werden - nur "Anonymer. Als hätte Dos Passos vorher Kafka gelesen." Und Peltzer liefert genau einen solchen fugierten Roman - etwa wenn wir die Anschläge der Abschiebungsgegner erst aus ihren Vorbereitungsdiskussionen präsentiert bekommen und dann die Polizei bei der Betrachtung und Kommentierung der Videoüberwachungsbilder von der Tat sehen. Der im Roman inszenierte Widerstreit antagonistischer Perspektiven beginnt übrigens schon auf den paratextuellen Vorblättern des Buches. Hier dankt der Autor zuerst der Stiftung preußischer Seehandlung für ein Stipendium und spricht eine Widmung 'für Kathrin' aus. Auf der gegenüberliegenden Buchseite wird dann ein solipsistisch-existenzialistisches Motto von Joseph Conrad ausgerufen: "Wir leben, wie wir träumen - allein."

Der Autor präsentiert sich in seinen Gegenschnitten als wunderbar beweglicher Dialektiker mit einer geradezu hegelschen Force des Über-die-Bande-Imaginierens. Dieses notwendige Hineindenken in die Logik der Anderen kennzeichnet nicht nur die Opponenten des politischen Gewaltszenarios, sondern erweist sich auch als poetische Schlüsselqualifikation dieser Romandarstellung eskalierender sozialer Konflikte. Wobei (auch für die Figuren des Buches) fraglich ist, ob die wirklich ausschlaggebenden gesellschaftlichen Prozesse und Konflikte überhaupt nach solch antagonistisch agonalen Mustern ablaufen. Oder ob sie nicht eher in einer nahezu un(an)greifbaren Funktionale aus Marktlogik und internationaler Arbeitsteilung zu verorten sind und der Preis an Opfern gewaltsamen Widerstands nicht unerträglich hoch ausfällt.

Der Titel des Romans spielt an auf Holger Meins' manichäische RAF-Maxime: "Entweder Du bist Teil des Problems oder Du bist Teil der Lösung. Dazwischen gibt es nichts." Doch wird diese verhängnisvoll harte Kriegslogik im Verlauf des Romans in dialektisch verschlungenen Handlungen und einer Polyphonie der Stimmen aufgehoben. Als Roman bietet das Buch politisch kein 'Dazwischen' sondern ein 'Darüber'. Und die allmähliche Verlagerung der Schwergewichte von einer politischen Räuberpistole zu einer einfühlsamen Romanze suggeriert wohl weniger eine Lösung der sozialen Misere als ein 'Daneben'.

Die beiden Handlungsstränge - Christians journalistisches Interesse an den Ex-Terroristen und die heutigen Bemühungen um politische Aktion durch eine neue Generation von Revoltierenden - werden durch die Liebesgeschichte zwischen Christian und Nele verbunden. Nele schreibt bei Christians Kumpel Jakob ihre Magisterarbeit über Jean Paul und gehört zur Gruppe, die Anschläge auf U-Bahn-Einrichtungen und Lufthansa-Büros durchführt. Daneben jobbt sie im Archiv des (wohl Hanns Zischler nachgebildeten) Erfolgsschauspielers und intellektuellen Connaisseurs Walter Zechbauer. In der von Verunsicherung, Anziehung und Abstoßung geprägten Liebesgeschichte des Mittdreißigers Christian mit der 23-Jährigen inszeniert der Roman auch die Spannung zwischen eingreifendem, präsentischem Handeln und dem repräsentierenden Geschäft des Journalisten. Für den sind die Taten der anderen - so der Vorwurf Neles an Christian - nur Material. Das offene Ende des Romans zeigt die beiden sich entzweienden und wiederfindenden Liebenden im Exil in Paris. Denn Nele kann kaum nach Berlin zurück, wo die Polizei sie wegen der qua Mail-Überwachung aufgeklärten Anschläge sucht.

Das Motiv der Überwachung und Verfolgung wird in einer weiteren Variation nochmals aufgenommen - als individueller Wahnsinn. Martin, der enge Jugendfreund von Jakob und Christian, arbeitet als Schauspieler und Regisseur und leidet zunehmend an schizophrener Paranoia, wegen der er sich schließlich umbringt. Jakob kann wegen eines wichtigen akademischen Bewerbungsvortrags nicht zur Beerdigung; so muss Christian alleine (mit seiner Liebsten) an den ungeliebten Ort der Jugend zum Begräbnis fahren. Beide sind erschüttert, dass sie den abdriftenden Freund nicht halten konnten.

Der Roman wurde von der Kritik zu recht nicht nur als eine aufschlussreiche politische Erzählung begrüßt, sondern auch als ein großer Liebesroman gefeiert. So widersprüchlich wie die hier inszenierten Gegensätze - und am Ende vielleicht doch stimmig - ist es übrigens, dass dieser bedeutende Roman nicht zumindest auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises kam. Und zugleich den ersten Platz der SWR-Bestenliste der Kritiker erklomm. Hier kann man, je nach affirmativer oder kritischer Optik, Verschwörungen des Literaturbetriebs beklagen oder die vielstimmig ausdifferenzierte Landschaft von Kritikern und Preisrichtern begrüßen.

Dieses Buch bietet nicht nur eine meisterlich komponierte Stimmencollage aus dem politischen Widerstreit von Protestaktionen und Überwachungsgesellschaft. Es ist zugleich ein hyperrealistischer Stadtroman, in dem symbolisch aufgeladene Orte des neuen Berlin und des guten alten Kreuzberger Kiez' mit feinem stadt-physiognomischen Sinn für Details porträtiert werden. Zudem ist es mit seiner geschickten Dramaturgie ungemein spannend zu lesen. Spannung herrscht in der Liebesgeschichte, die von Attraktionen wie Repulsionen der Liebenden lebt, und die Peltzer auch als einen sprachlich potenten Erotiker ausweist. Spannung produziert natürlich auch der Räuber-und-Gendarm-Plot zwischen den Protestlern und der Staatsschutzpolizei. Und bis zum Schluss spannend bleibt die Frage, ob Christians Interview mit den italienischen Ex-Terroristen in Paris zustande kommt und was im Interview zur Sprache kommen und erklärt wird.

Diese Spannung macht den Roman im Verbund mit Peltzers politischer Vorstellungskraft und seiner sprachlichen Präzision zu einem Leseabenteuer. Die Rätselfrage nach dem politisch und ästhetisch zeitgemäßen Roman findet in Peltzers gelungener Fuge aus Revolte, Staatsschutz und Liebe in den Zeiten des Prekariats mindestens einen sehr beachtlichen Teil der Lösung.


Titelbild

Ulrich Peltzer: Teil der Lösung.
Ammann Verlag, Zürich 2007.
456 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783250601135

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