Das Denken und die Bilder

Zu zwei Bildern Albrecht Dürers und Caspar David Friedrichs nebst einem Versuch, den Sinn des "Denkens in Bildern" näher zu bestimmen

Von Reinhard BrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Brandt

I. Bild und Gegenbild

1. Dürers Kupferstiche des Erasmus von Rotterdam und Philipp Melanchthons (1526)

Zum ersten Kupferstich: Rechts im Bild sieht der Betrachter Erasmus von Rotterdam schreibend an einem Pult, links im Hintergrund eine wie ein Bild gerahmte Schrifttafel mit einer oberen lateinischen und einer unteren, die lateinische in der Syntax fortsetzenden griechischen Inschrift: "(Ab-)Bild des Erasmus von Rotterdam, nach dem lebenden (Ur-)Bild von Albrecht Dürer gezeichnet / das bessere werden seine Schriften zeigen."

Dürer operiert mit einer klaren Wertstufung. Das Lateinische steht in der Lektürefolge am Anfang, die höhere Würde kommt jedoch dem nachfolgenden Griechischen zu. Das Bild, das wir vor uns sehen und erkennen ("imago"), stellt den lebenden Erasmus selbst (hier "effigies") dar. Das bessere, stärkere Abbild werden dagegen seine Schriften zeigen - das Abbild nicht der lebenden äußeren Gestalt, sondern seines Geistes, der in dem jetzt entstehenden Werk präsent sein wird. Ein seltsames Futur, durch das das jetzt im Bild festgehaltene Schreiben der Hände (in der planimetrischen Mitte des Bildes) zum Entstehungsakt der syngrammata wird. Die im Vordergrund liegenden Bücher sind nicht die Werke des Erasmus, sondern die Quelltexte; deswegen ist der aufgeschlagene Band nicht dem Betrachter, sondern dem schreibenden Erasmus zugewandt.

Die Stufung von Latein und Griechisch sowie bildhafter und logoshafter Darstellung entstammt einem Topos und zielt natürlich auf Allgemeinheit. Dürer bedient sich einer älteren Wertstufung, die sich in ähnlicher Weise von Vergil bis hin zu Kant in der Reflexion über die duale Schönheit, die äußere sichtbare und die innere geistige, gut belegen lässt. Die niedere Form der Schönheit zeigt sich in der bloßen, äußeren Gestalt des lebendigen Wesens, etwa bei der Kuh des Bildhauers Myron; die höhere Schönheit ist dagegen nur beim Menschen möglich, denn nur der Mensch verfasst geistvolle Werke. Das Bild Dürers, in das auf der bildhaften Tafel die lateinische und griechische Inschrift integriert ist, ist als solches an den Augensinn gebunden, die syngrammata dagegen können als solche gelesen und gedacht werden, sie sind Ausdruck des logos, der über allem sinnlich Wahrnehmbaren steht. Vielleicht auch: Dürer im Modus des bescheidenen Handwerkers, der nur die Wirklichkeit abmalt, Erasmus dagegen ein Lehrer der artes liberales. Dürer ist nur des Lateinischen mächtig, Erasmus jedoch auch des Griechischen.

Beziehen wir das Bild von Dürer auf das Thema des Denkens in Bildern, dann behauptet Dürer den Primat des Denkens vor dem Bild, allerdings auch so, dass wir im Erkenntnisaufstieg vom Bild zum logos gelangen. Der iconic turn will dagegen in der alten Gigantomachie das Obere zuunterst stürzen und die Herrschaft des logos durch die der Bilder ersetzen.

Im zweiten Kupferstich desselben Jahres wird Philipp Melanchthon dargestellt; wie beim Bild von Erasmus von Rotterdam ist der Zweck der Darstellung nicht bekannt. Hier lautet die Inschrift: "Viventis potuit Durerius ora Philippi / Mentem non potuit pingere docta manus", also: "Dürer konnte zwar das Antlitz des Philippus zeichnen, aber die gelehrte Hand konnte nicht seinen Geist malen." Wieder der Kontrast von Außen und Innen, von Malkunst, die sich auf das Äußere beschränkt, und der Dimension des bildlich nicht mehr darstellbaren Geistes; in unserem Thema: Bilder auf der einen Seite und auf der anderen das in keinem Bild mehr darstellbare Denken, kein Denken in Bildern.

2. Caspar David Friedrichs Andachtsbilder

Die für die Öffentlichkeit bestimmten Bilder von Caspar David Friedrich sind weder signiert noch datiert noch betitelt; der Name des Malers und die Themenangabe im Titel, die wir heute bei jedem Bild finden, sind entsprechend fremde, verfälschende Hinzufügungen. Dass kein Titel nachweisbar von Caspar David Friedrich stammt, ist selbst in der Forschung kaum bekannt, obwohl es wichtig ist für die Interpretation der Bilder. So identifiziert der Titel "Der Mönch am Meer" eine Figur, die nicht als Mönch, sondern als allgemeine Menschenikone konzipiert ist und in dem Fantasiegewand nicht zu Fuß zu dem Platz gelangen könnte, an dem sie steht. Und was will ein Mönch am Meer? Der Mann ist kein Mönch, und das Bild stellt viel mehr dar als den einen Nichtmönch am Meer, zum Beispiel den bewölkten Himmel, das Meer, den Strand. Ähnlich verhält es sich bei "Zwei Männer in der Betrachtung des Mondes" - der Titel ist ebenfalls entschieden falsch, denn die Betrachtung der Männer richtet sich auf die Stufung von Mond und Abendstern.

Das Fortlassen von Datierung, Künstlernamen und Thema ist ein bewusstes Verfahren Friedrichs gegen die übliche Registratur der Kunstwerke in unserer Kultur des Ausstellens und Beredens. Seine Bilder sind namenlose, zum andächtigen Betrachten in Einsamkeit bestimmte Malwerke, die vom Sichtbaren hinüberleiten zum Unsichtbaren, Überirdischen. Dazu bedarf es keiner Worte, im Gegenteil, alle Begriffe verengen und verstellen das vom Bild Gemeinte. Übrigens gibt es auch im Bild keine Figuren, die miteinander sprechen, sie wenden sich zu zweit oder auch zu dritt der Ferne zu. Die Inschrift "Esperance" des im Eismeer eingefrorenen Schiffes wurde in der endgültigen Fassung getilgt. Dem romantischen Motiv der "Lieder ohne Worte" entspricht die Losung "Bilder ohne Worte". Für Friedrich gibt es offenbar eine Inkongruenz von intuitiv-anschaulicher und verbaler Gestaltung; das schweigende Bild ist ein absolutes ineffabile. Dabei ist die Entsprachlichung das Ergebnis der Bilderzeugung; wie das Wort "Esperance" eliminiert wurde, so wurden auch die Datierungen und genauen Angaben in den Zeichnungen und Vorarbeiten im Werk selbst mit Absicht fortgelassen. Das Werk soll strikt anonym sein und unvermittelt aus sich selbst wirken; der Betrachter soll sich auf die Seelenführung des Malwerks einlassen und nicht bildäußere Berge und Städte und Felsen hersuchen, denn das Bild meint sie nicht, es bezieht sich nicht auf sie.

Ob man nun Denken und Sprechen miteinander identifiziert oder nicht, das Bild wendet sich gegen seine Kategorisierung im Urteilen, jedes Wort und jeder prädizierende Denkakt verfehlt es. Friedrich ist kein Mystiker, aber er will mit seinen Bildern das Betrachten gegen das Urteilen und Erkennen stellen und ist hierin den Mystikern mit ihrer Binnenschau verwandt. Parallelen finden sich auch bei Platon, bei dem sich Spuren nicht nur einer ungeschriebenen Lehre finden, sondern auch Hinweise auf die Unaussprechbarkeit des wahren Wissens. Bei Dürer konnte das Bild den schriftlich niedergelegten Gedanken nicht erreichen und begnügte sich entsprechend mit einer niederen Rolle; bei Friedrich wehrt sich dagegen das Bild gegen die Invasion des sprachlich formulierten Denkens und besteht auf seiner Autonomie in der Seelenführung, die über das urteilende Denken hinausgeht. Beurteilen jedoch, was die zu vollziehende Meditation vor den Andachtbildern eigentlich ist, dieses Urteil kann offenbar nur die Seite des kritischen Denkens liefern, das Friedrich ausschließen will.

II. Bestimmung der beiden Leitbegriffe

Unser Motto lautet: "In Bildern denken?" Dabei wird vorausgesetzt, dass Bild und Gedanke unterschieden werden können, wenn auch - so offenbar die Frage - die Bilder das unabdingbare Medium sein könnten, in dem sich das Denken vollzieht, oder dass wenigstens in Bildern gedacht werden kann. Vielleicht im Sinne des Kantischen Diktums: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)." Das klingt sehr suggestiv, und die Einlösung dieses Lehrsatzes ist eines der Beweisziele der Kritik der reinen Vernunft; nur ist der Satz, isoliert man ihn, handgreiflich falsch und widerlegt sich selbst, denn außer den Kategorien lässt sich den Begriffen der Vernunfterkenntnis, die die Kritik der reinen Vernunft gewinnen will, kein "Gegenstand in der Anschauung" beifügen, schon die Begriffe "Kritik", "rein", "Vernunft" können nicht versinnlicht werden. Und wie könnte der kategorische Imperativ mit seinen expliziten und impliziten Begriffen in einem bildgebenden Verfahren dargestellt werden? Man kann nicht in Bildern die Gesetzestauglichkeit von Maximen prüfen oder das Sollen darstellen.

"In Bildern denken?" lautet unser Thema. Wir müssen versuchen, zu klären, in welchem Sinn "Bild" und "Denken" gebraucht werden können und welche Bedeutung das In-Sein des Denkens in Bildern haben kann.

1. Bilder

Die neuen Bildwissenschaften sind nicht in der Philosophie entstanden, sondern im Feld der empirischen Forschung, sei es der Wahrnehmungspsychologie, der Anthropologie, Kunstgeschichte, Ethnologie, Medienwissenschaft und all der Wissenschaften, die von den so genannten bildgebenden Verfahren profitieren. Wir dringen in das unsichtbare Innere der Materie und der Organismen und des Weltraums durch verschiedene Formen von Wellen ein: Schallwellen, Röntgenwellen, magnetische Wellen, Lichtwellen und können die Wellenberichte aus Gründen der Bequemlichkeit in optische Phänomene verwandeln, die dann Bilder genannt werden. Fledermäuse würden ihre Forschung anders gestalten, aber nur äußerlich, nicht in der Sache.

Wenn auf diesen verschiedenen Gebieten von Bildern gesprochen wird, dann im Sinn einer ungefähren Wortverwendung. Wir wollen versuchen, einen Kern der Terminologie auszumachen, der konsensfähig ist und den man gut verteidigen kann, alles im Rahmen einer pragmatischen Weltorientierung, in der wir so tun, als wüssten wir, was "sehen" und "hören" und "Stimme" und "Menschen" oder Fledermäuse sind. Wer das alles genau wissen möchte, ist kein geeigneter Hörer oder Leser der folgenden Ausführungen.

Zuvor: Lambert Wiesing unterscheidet bei der Bestimmung des Bildes einen anthropologischen, einen zeichentheoretischen und einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz. Bei der Charakteristik des ersten wird betont, nur Menschen könnten Bilder herstellen (Jonas); der zweite (Goodman) operiert mit der semiotischen Trias von Zeichenträger - Intension - Extension beziehungsweise "Darstellendes - Darstellung - Dargestelltes"; Wiesing selbst schließt sich der wahrnehmungstheoretischen Richtung Husserls an (womit die ersten beiden Positionen durchaus vereinbar sind). Aber Wiesing ist mit Ernst Gombrich der Meinung, es sei nach wie vor eines der größten Rätsel der Menschheit, wie ein Bild funktioniere. Hätte man eine Erklärung für das Bildphänomen, "so hätte man nichts Geringeres als eines der großen Rätsel der Menschheit gelöst." Vermutlich gibt es hier kein Rätsel, und wenn doch, dann lässt es sich lösen, es muss nur die Reflexionspalette, die Wiesing uns anbietet, um eine Möglichkeit erweitert werden.

Ein Bild macht etwas in der Vorstellung oder der Wirklichkeit sichtbar und erkennbar, ohne dieses Etwas selbst zu sein. Ein Derivat dieses Bildes ist das nicht-gegenständliche Bild, das paradoxerweise das Sichtbare selbst ist. Das Rätsel des Bildes steckt in der dem Menschen möglichen Integration der besonderen Verneinung in das Bild-als-Bild-Erkennen.

Einige Erläuterungen. Zuerst zur Negation: Sie taucht wie ein Derwisch in den Bildtheorien auf, wird jedoch gleich wieder verjagt. Gottfried Boehm schreibt: "Negation ist die Grundlage aller bildlichen Erscheinung." Wenn dies korrekt ist, dann muss die Negation auch die Grundlage aller Erörterungen der Frage sein "Was ist ein Bild?" Aber Boehm folgt seinem eigenen Hinweis nicht, wenn er "ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche" als solches ein Bild sein lässt. Immer wieder wird René Magrittes "Ceci n'est pas une pipe" zitiert, zu Recht, denn genau dieses Nicht-sein ist der Dreh- und Angelpunkt des Bildseins. Das Sichtbare des Bildes als Bild hat keine physikalische Realität; es nimmt an den physikalischen Kausalbeziehungen der Welt nicht teil, so dass sich die Frage, ob das vor mir Sichtbare ein wirkliches Bild ist oder eine Halluzination, nicht durch die Einhilfe anderer Sinne beantworten lässt. Innerhalb des Sichtbaren selbst verschwindet das Bild bei einer ungeeigneten Distanz des Betrachters. Im physikalischen Raum ist das Sichtbare des Bildes ein u-topos, ein Phantom, das es nicht gibt.

Die Stimme im Telefon, die Reize auf der Retina und der Duft des Parfums aus dem Nebenzimmer sind keine Bilder, weil sie nicht sichtbar sind. Die Bedingung der Sichtbarkeit ist eine Schranke gegenüber aller Begrifflichkeit; fragt der Bewohner einer raumlosen Welt, was denn das für eine seltsame Sache sei, Raum und Sichtbarkeit, dann bin ich unfähig, deren Wesen oder Eigenschaften verbal zu vermitteln.

Das Bild erfüllt den zwei- oder dreidimensionalen Raum kontinuierlich, auch dann, wenn das Bild Lücken in seine Komposition einbezieht. Jedes Bild ist auf seine Sichtbarkeit durch den Menschen im Großen und Kleinen begrenzt; selbst Sternbilder sind für uns übersichtlich, also mit einem Blick zu erfassen. Bilder können in einem Zeitkontinuum bewegt und dreidimensional sein (Bild als Hologramm oder Plastik).

Die Bestimmung ist indifferent gegenüber der Frage, wie das Bild zustande kommt; es kann das Spiegelbild im Quellwasser des Narziss sein, das Erzeugnis einer Digitalkamera oder das Kunstbild eines Malers. Entweder verursacht das Dargestellte die Darstellung (Foto, Film), oder die Darstellung wird durch mentale Steuerung der Herstellung erzeugt (alle traditionellen Bilder und Plastiken), oder sie bleiben imaginär wie das Bild des Bären in den Sternen oder Erinnerungs- und Fantasiebilder nur im Bewusstsein. Die Geburt des künstlichen Bildes vollzog sich nach Plinius dem Jüngeren so: Ein Hirte in Arkadien musste seine Schafe und seine Geliebte verlassen und in die Ferne ziehen. Die kluge Hirtin stellte ihn beim Abschied in der Mittagsonne vor eine Wand und zeichnete sein Profil im Schattenriss nach. Dann zog der Hirte weg. Der verbliebene Schattenriss bestand für die Hirtin aus drei Elementen: Der Wand als Bildträger, dem Schattenriss selbst und drittens dem Schäfer, der nun nicht mehr da war, den das Profil jedoch in absentia sehen ließ. Die angepflockten Schafe erkannten gar nichts, die dialektisch geschulte Hirtin jedoch wusste als Vierte: Das Schattenbild macht etwas sichtbar, das es selbst nicht ist, den fernen Menalcas. Die Entstehung dieses Bildes ist eine Mischform von Natur und Kunst. Das Stück Holz, dessen Rand mit Zacken und Einbuchtungen versehen ist, hat die Form der Polarküste Nordamerikas; die Indianer benutzten dieses Bild zur Orientierung auf ihren Wanderungen. Qua Bild unterscheidet sich dieses amerikanische Urbild in nichts von einem Digitalpräparat aus dem Jahr 2007.

Das Bild setzt für uns das auf ihm Sichtbare in den Modus des Nicht-Da-Seins. Dieses Sichtbare selbst unterscheidet sich von den übrigen Dingen im Raum nicht durch seine Zeichenhaftigkeit oder Zeichenbesetzung. Die Welt ist für Menschen und Tiere insgesamt voller optischer (auch akustischer, haptischer und olfaktorischer) Zeichen, sonst können sich selbst bewegende Wesen nicht in ihr orientieren. An der Zeichenfülle lässt sich eine Wand im Dom nicht von einem Bild unterscheiden.

Was auf dem Raumkontinuum als Bild sichtbar wird, steht im Belieben des Bilderzeugers ohne jede Verpflichtung gegenüber dem Bildträger; es kann wie in unserem Fall der Erinnerung an Menalcas dienen, es kann mit emotionalen und magischen Kräften versehen werden, es kann der Übermittlung von Wissen dienen, der Macht und der puren Unterhaltung, der Pornografie oder der Ridikülisierung von Mohamed. Der Fantasie ist nur die Grenze des optischen Mediums als eines solchen vorgegeben. Seit es Bilder auf dieser Welt in den Wüstenhöhlen von Nordafrika oder Altamira, in Arkadien und der Grenze des Nordpols gibt, ist dieses Spektrum ungefähr ausgereizt worden.

Die Nicht-Klausel jedes Bildes, das nicht zu sein, was es sichtbar macht, schafft unendliche Möglichkeiten, so dass der Maler und Filmemacher, der Fernsehredakteur und Historiker, der Politiker, Wissenschaftler und Künstler wie ein zweiter Gott, a second Jove, wirken und die Gegenwelt des Nichtseins nach eigenem Gusto verantwortungsvoll oder unverantwortlich verändern können.

2. Denken

Das Wort "Denken" wird umgangssprachlich vielschichtig gebraucht; unser Haushund denkt, das Kind komme gleich nach Hause, oder es heißt, unser Denkprozess werde in neuronalen Prozessen realisiert. Wir wollen das Wort im Folgenden so verwenden, dass das jeweilige Denken auch zu Urteilsakten befähigt sein soll. Das Urteilen ist kein mentales Lallen und kein kognitiver Prozess, zu dem auch andere Tiere als der Mensch befähigt sind, sondern eine psychische Handlung mit diskreten künstlichen Urteilselementen. Diese Urteilshandlung mag eingebettet sein in ein kognitives Kontinuum vielfältiger mentaler, gewissermaßen multimedialer Leistungen des animalischen oder exklusiv menschlichen Fühlens, Erinnerns, Imaginierens, aber es ist isolierbar, etwa so: "Überlege: A sei die notwendige und hinreichende Bedingung von B; ist dann auch B die notwendige und hinreichende Bedingung von A?"

Wir vollziehen bei dem Überlegen oder Denken, zu dem wir hier aufgefordert werden, mentale Operationen, die im genannten Fall vielleicht durch Fantasiebilder begleitet werden, sie haben jedoch keinen mitteilbaren Erkenntniswert. Denken qua Urteilen ist somit eine geistige oder mentale Tätigkeit oder zielgerichtete Handlung, nicht im Raum, sondern mental in der Zeit, nicht nur prozesshaft, sondern mit diskreten Elementen. Es muss sich um das im Prinzip identische Denken der verschiedenen Sprecher handeln, ein Denken, das in einer der vielen verschiedenen, in einander übersetzbaren Sprachen ausgedrückt und mitgeteilt werden kann. Die sprachlichen Elemente sind künstliche Symbole, die - im Gegensatz zu Bildern - in andere Symbolsysteme transferierbar sind.

Zum Denken wird man zum Beispiel die Tätigkeit zählen, die jemand vollbringen muss, wenn er/sie das hier Gesagte bestätigt oder widerlegt. Zum Denken gehört damit die Gedankenoperation des Fragens und Antwortens. "Denkt der Mensch in Bildern?" "Ja / Nein, der Mensch denkt / nicht in Bildern, denn Frage und Antwort lassen sich vollständig in Bildern darstellen / weder Frage noch Antwort lassen sich visualisieren." Der zentrale Begriff, zu dem wir gelangen, ist der des Urteils, das die Struktur von Frage und Antwort bestimmt.

Jedes einfache Urteil ist grundsätzlich durch vier Merkmale ausgezeichnet: Es bezieht sich auf etwas Bestimmtes außerhalb seiner selbst, es benötigt dazu einen urteilsinternen Statthalter (unser Subjektbegriff), es enthält drittens eine Eigenschaft beziehungsweise ein vom Subjektbegriff getrenntes Prädikat. Viertens: Der Urteilende bejaht oder verneint und spricht dadurch dem urteilsexternen Ding das Prädikat zu- oder ab. Durch Bejahung oder Verneinung kann das Urteil wahr oder falsch werden.

Zur Erläuterung: Die Referenzobjekte des Urteils sind beliebige Objekte in der Welt, im Jenseits, in der Logik und Mathematik, sogar das Nichts kann Gegenstand des Urteils werden, auch das Bewusstsein und Selbstbewusstsein, das Denken und Urteilen; in diesem letzteren Fall werden das Urteil und auch das Bewusstsein wie ein externes Objekt behandelt. Logische Aporien tauchen auf bei bestimmten Formen der Reflexivität wie: "Der Hut hat drei Buchstaben" (nicht: "Das Wort ,Hut' enthält 3 Buchstaben"), "Alle Kreter behaupten, sie seien Lügner". Wir brauchen uns um diese Probleme nicht zu kümmern, weil sie unweigerlich in der Form erörtert werden, die wir an den Anfang stellten; die Thematisierung der Paradoxien setzt sie in den urteilsexternen Bereich und behandelt sie mit bejahenden oder verneinenden und wahren oder falschen Urteilen.

Das Verweisen auf etwas Äußeres findet sich zuerst beim menschlichen Zeigegestus, aber dieser kann nur auf den nahen oder fernen sichtbaren Umkreis referieren und niemals auf etwas Vergangenes, Künftiges, Abstraktes, Nichtseiendes; der Zeigegestus ist verneinungsunfähig und kann entsprechend für sich nicht wahr oder falsch sein. Die Zeigehandlung, zu der nur Menschen befähigt sind, ist eine genetische Vorstufe des Denkens in Urteilen.

Weiterhin verweist der interne Statthalter auf das externe Ding: unser Subjektbegriff, "Der Stuhl", "Das Lallen", "Das Denken". Die deiktische Beziehung soll stabil sein. Drittens folgt der Begriff einer Eigenschaft: "grün", "existent" et cetera. Viertens wird das Urteil als einheitliche Aussage durch die Tätigkeit des Verknüpfens von Subjekt und Prädikat ermöglicht; die Verknüpfung ist bejahend oder verneinend und damit (häufig, nicht etwa in einer Bitte) wahr oder falsch. Durch diese bejahende oder verneinende Verknüpfung tritt zum Inhalt nichts Neues hinzu, es kommt jedoch nun erst die einheitliche Aussage zustande. Das Urteil verbindet hierbei also seine Inhalte so, dass die formale Einheit des Urteils erhalten bleibt, auch wenn in ihm die Trennung der Inhalte behauptet wird. Über diesen bloß konstatierenden Charakter kommt durch die Tätigkeit des Behauptens ein Geltungsanspruch gegenüber den Hörern oder Lesern zustande: Die bejahende oder verneinende Behauptung ist wahr und soll akzeptiert werden, das heißt der Sprecher verbürgt sich, dass der behauptete Sachverhalt tatsächlich von jedermann so aufzufinden ist. Der Urteilsakt impliziert auf Grund seines Geltungsanspruchs und seiner Verbürgung, dass er frei ist. Man nehme zur Kontrolle den Bienentanz, der den Bienen im Stock den "richtigen" Weg zu den Blüten zeigt. Bei einer geschickten Änderung der Umstände sind die Angaben "falsch", so wie die Richtung der Wüstenameise nicht mehr stimmt und die Maiglöckchen naturgesetzlich zu früh aus der Erde kommen.

III. Bilder und Denken

Das Denken besteht im Bereich des Urteilens aus mentalen Operationen mit diskreten Elementen, die wir in sprachlichen Symbolen fassen; Bilder dagegen nehmen ein begrenztes wirkliches oder imaginatives, zwei- oder dreidimensionales, statisches oder bewegliches Raumkontinuum ein, ihre Darstellung, ihr sichtbares Motiv, bedarf einer mentalen Operation, die aus dem Sichtbaren zuerst ein Bild macht. Das Bild zeigt nicht auf das Dargestellte und hat seinen Ursprung nicht in der menschlichen Zeigehandlung.

Die Denkoperation ist so beschaffen, dass sie die Urteilsinhalte in einer formalen Einheit belässt, auch wenn ihr Getrenntsein in einer Negation behauptet wird. Durch die Möglichkeit von Bejahung und Verneinung können Urteile wahr oder falsch werden. Bilder dagegen können beides nicht, sie können nicht bejahen oder verneinen, und sie können nicht wahr oder falsch sein. Das Bild ist damit auf einer epistemisch niederen Stufe angesiedelt, wie immer es auch im Emotionalen, in der Funktion der Erinnerung die Operation des Urteilens übertrumpfen mag. In Bildern zu denken ist daher im strikten Wortsinn unmöglich.

Die formale Einheit des Urteils, die auch dann besteht, wenn die Inhalte im Fall der Verneinung getrennt sind, findet sich weder in der Natur noch auf irgendwelchen Bildern, weder im Gehirn noch in einem bildgebenden Verfahren oder Diagramm. Der Urakt des Denkens entzieht sich also jeder Verbildlichung und ist in keinem Bildmedium präsent, weder vor dem iconic oder pictorial turn noch nach ihm.

Ergänzend zum Letzteren: Bejahung und Verneinung gibt es nicht in den akustischen und visuellen und auch olfaktorischen Kommunikationssystemen anderer Lebewesen. Der Vogelgesang, das Heulen der Wölfe, der Gesang der Buckelwale und der Bienentanz mögen Lust und Schmerz ausdrücken und Auskunft geben über ihre Kraft und Größe oder auch über die Lage und Entfernung von Blüten, es kann jedoch mit ihren Medien nicht mitgeteilt werden, dass etwas nicht der Fall ist.

Wenn wir uns mündlich oder schriftlich über die Frage: "In Bildern denken?" verständigen, dann machen wir Gebrauch von Denkoperationen, die nicht durch innere Bilder realisiert und nicht in Bildern mitgeteilt werden können; daher besteht unser Motto nicht in einem oder zwei oder einer Serie von Bildern, sondern in einer sprachlichen Formulierung. Ein etwaiges Hintergrundgetümmel von Bildern, mit denen die Lektüre oder das Hören der Frage begleitet sein mag, ist für die Mitteilung selbst irrelevant und ist auch keiner Objektivierung fähig.

Soweit zum Unterschied von Bildern und Denken. Aber was soll das "in" des Titels "In Bildern denken" genau besagen? Soll es vorgestellt werden wie "im Kopf, im Gehirn denken"? Der Plural "in Bildern" weist in eine andere Richtung, dass nämlich beides neben einander besteht, wir denken in einem Kopf in vielfältigen Bildern. Denken ist keine statische Angelegenheit, sondern eine Tätigkeit oder ein Prozess; nun suggeriert der Bildbegriff jedoch, dass primär oder wenigstens fakultativ auch an unbewegte Bilder gedacht wird, also die festen Bilder dem Denken in ihnen nicht so zu denken, dass sie selbst die verschiedenen Denkbewegungen vollziehen, sondern der Bewegung zur Verfügung stehen, vielleicht wie der ruhende See dem Schwimmer: Im Wasser schwimmen. Oder es wird an bewegte Bilder der Einbildungskraft gedacht, so dass alles Denken in seinem Vollzug immer an eine für es selbst konstitutive Bildbegleitung zu denken ist?

Nun gibt es im Gegenzug eine vielfältige mögliche und notwendige, poetische und prosaische Verbindung von Denken und Imaginieren, vom Denken vielleicht nicht in, aber mit Bildern. Von Bildern kann einerseits eine kreative Stimulierung für das Denken und Dichten ausgehen (wie auch vom Geruch der Äpfel), sie können andrerseits zum Scheindenken verführen. Ein Beispiel für das letztere ist die Prosapoesie von Didi-Huberman, ein auflodernder Bildgesang: "Künstler und Historiker hätten also eine gemeinsame Verantwortung, die darin bestünde, einerseits die Tragödie in der Kultur sichtbar zu machen [...] und andererseits die Kultur in der Tragödie sichtbar zu machen." Und: "Ein gut betrachtetes Bild wäre also ein Bild, das fähig wäre, uns zu verwirren, um dann unsere Sprache und unser Denken neu zu formen." Das Bild "ist ein Eindruck, eine Spur, ein visuelles Schlepptau der Zeit, die es berührt hat, aber auch verschiedener anderer Zeiten, die unvermeidlich anachronistisch und heterogen sind und deswegen vergessen worden sind. Es ist mehr oder weniger heiße Asche verschiedener Feuersgluten. In diesem Sinne also brennt das Bild." Bilder also als Opium des Denkens.

Seriöser nähert man sich dem Problem, wenn man auf das "in" verzichtet und von einem Bildgebrauch beim Denken und Urteilen spricht. Hierbei ist zunächst daran zu erinnern, dass unsere bisherige Rede von Bildern sich auf statisch oder bewegt Vorhandenes bezog. Tatsächlich "gibt es" diese nicht, wenn auch ihre fiktionale Annahme notwendig ist; tatsächlich ist jede Bildbetrachtung immer schon eine Bildverwendung in einem bestimmten Kontext, häufig mit einer bestimmten Zielsetzung. Insofern kann man mit leichter Übertreibung sagen, nicht ihr "esse est percipi et percipi posse", sondern ihr "esse est in usu", das Sein des Bildes besteht in seiner Verwendung oder besser vielfältigen Verwendbarkeit, wenn nur zugestanden wird, dass wir uns auf ein pragmatisch identisches Bild bei den unterschiedlichen Gebrauchsweisen beziehen.

Diesen Gebrauch von Bildern gibt es zweifellos in vielfältigsten Formen, wobei die Bilder Abbilder sein können, reine Fantasiebilder des realiter Unmöglichen oder auch Antizipationsbilder. Bildhafte Modelle antizipieren geplante Bauwerke, und die neuen bildgebenden Verfahren machen plastische Modellierungen und Alternativen möglich, die früher nicht denkbar waren. Es wird sich für die jeweiligen Akteure im Vollzug selbst keine Grenze zwischen Urteilen und Imaginieren ziehen lassen, beides wird zusammen vollzogen. Es gibt Situationen, in denen nicht ein Text, sondern ein Bild verlangt wird, man denke an den ausgedachten Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober. Er wurde durch textorientierte Juristen und Beamte festgelegt, weil an diesem Tag irgendein endgültiges Dokument von Funktionären unterzeichnet wurde - die entscheidenden Bilder, die sich dem einheitlichen Gedächtnis mit allen ihren Gefühlen eingeprägt haben, waren die der Überwindung der Mauer, Gegenbilder zum Sturm auf die Bastille: Das war der Tag der Einheit, zu feiern mit emotionalen Bildern.

Es gibt längst etablierte ernsthafte Kooperationen von Bildern und Denken und Erkennen, man denke an die Embleme, an den gesamten Bereich der Schul- und Hochschuldidaktik, an die Wissensvermittlung im Fernsehen: Kein Lernen ohne Bilder. Aber hier betätigt sich das Erkennen im second-hand-shop, denn bevor die Bilder der Erkenntnisvermittlung dienen, muss die ursprüngliche begriffliche Erkenntnis geleistet sein, und die begnügt sich nicht mit dem Hinsehen, sondern benötigt Gründe - das "weil" jedoch verweigert sich jeder Verbildlichung. Wer ein Weil-Bild oder überhaupt ein Urteils-Bild erfindet, kann gleich nach Oslo zum Nobelpreis für den wahrhaften iconic turn fahren.

Zu den vielfältigen Gebrauchsweisen gehört auch der Supermarkt der Täuschungen und Illusionen, der Bildrhetorik in allen Feldern der Theorie und Praxis, zu denen Bilder und Bildüberschreitungen hergerichtet werden können.

Literatur:

Brandt, Reinhard (2006): Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung, Freiburg i. Br. und Berlin.

Brandt, Reinhard (2008): Können Tiere denken? Frankfurt am Main.

Földényi, Lászlo F. (1993): Caspar David Friedrich. Die Nachtseite der Malerei, München.

Hubermann, Didi (2006): Ästhetik und Ethik - Das Bild brennt, in: Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume, herausgegeben von Christa Maar und Hubert Burda, Köln.

Niederée, Reinhard und Dieter Heyer (2003): The Dual Nature of Picture Perception: A Challenge to Current General Accounts of Visual Perception, in: H. Hecht, R. Schwartz, & M. Atherton (eds.): Looking into Pictures: An Interdisciplinary Approach to Pictorial Space, MIT Press 2003.

Noll, Thomas (1995): Morphologische Grundlagen der abendländischen Harmonik, Berlin.

Panofsky, Erwin (1955): Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München.

Preimesberger, Rudolf (1999a): Albrecht Dürer: Das Dilemma des Porträts, epigrammatisch (1526), in: Preimesberger u. a. (Hrsg.) (1999), 220-227.

Preimesberger, Rudolf (1999b): Albrecht Dürer: Imago und effigies (1526), in: Preimesberger u. a. (Hrsg.) (1999), 228-238.

Preimesberger, Rudolf u. a. (Hrsg.) (1999): Porträt (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 2), Berlin.

Wiesing, Lambert (2005): Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main.