Der verrückte Mann und das Meer

Claudio Magris' neues Buch "Blindlings" ist ein Jahrhundert-Roman

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diese milchige Finsternis, dieses im Unendlichen schwimmende Gerinnsel, das bin ich - wenn dies das Porträt eines Menschen ist, kann man daraus seine Geschichte erzählen?" Die Frage stellt sich der Ich-Erzähler in Claudio Magris' fulminantem neuen Roman selbst und meint sie freilich nur rhetorisch. Denn wie man daraus eine Geschichte erzählt, erfährt der Leser bei der durch viele Zeitsprünge und Erzählerwechsel nicht immer einfachen Lektüre dieses als Lebensbericht zu verstehenden Romans.

Wir lesen - und sind doch eigentlich Zuhörer - von den Erlebnissen, die der am 27.3.1992 in eine psychiatrische Klinik in einem schäbigen Vorort von Triest eingelieferte Salvatore Cippico seinem behandelnden Arzt erzählt. Doch Salvatore ist nicht nur fast so alt wie das 20. Jahrhundert, sondern durch sein langes Leben auch mit all seinen Grausamkeiten, Umstürzen und Verrücktheiten vertraut.

Als Sohn einer tasmanischen Mutter und eines australischen Vaters kommt er früh als Einwanderer nach Italien, um dann wieder nach Australien zurückzukehren, weil sein Vater nicht in einem faschistischen Land leben möchte. Salvatore aber treibt es als erwachsener Mann zurück nach Italien. Er schließt sich den italienischen Kommunisten an, erlebt das KZ und danach die Selbstzerfleischungen der europäischen Linken, als er - nach dem Bruch Titos mit Stalin - in Jugoslawien mithelfen will, den Sozialismus aufzubauen, statt dessen aber von der politischen Polizei Titos, der Ubta, verhaftet und im berüchtigten Lager Goli Otok interniert wird.

Der Text vermittelt weniger eine präzise zeitliche Organisation oder liefert Markierungen der Erzählinstanzen, sondern bezieht seine rauschhafte Wirkung gerade aus der scheinbaren Unordnung und Irrationalität des Geschilderten. Denn neben diesen Erzählsträngen kommen auch - ebenfalls aus einer Ich-Perspektive sprechende - historische Gestalten wie der dänische Seefahrer des frühen 19. Jahrhunderts, Jorgen Jorgensen vor, der sich für einen unbedeutenden Augenblick in der Geschichte selbst zum König vom Island ernannte und kurz darauf Gefangener der britischen Krone wurde. Zwar ist diese Figur als Alter Ego Salvatores zu verstehen, doch muss man in seiner Lebensgeschichte nicht unbedingt nach Spiegelungen suchen, die einen Bezug zum 20. Jahrhundert herstellen würden. Schon vom Erzählprinzip her wird deutlich, dass Salvatore hier seine eigene Lebensgeschichte mit Erinnertem und Phantasiertem durchmischt und es nicht so sehr um Schlüssigkeit geht, sondern sich damit vielmehr aus der Innenperspektive eines Menschen heraus dessen psychische Verfasstheit ablesen lässt.

Salvatore Cippico ist einer der vielen scheinbar und vielleicht auch tatsächlich Verrückten, von denen die Literaturgeschichte nicht gerade wenige kennt. Viele von ihnen durchschauen meist klarsichtiger die Triebfedern einer Gesellschaft und die Tendenzen einer Epoche - zumindest verbirgt sich hinter ihren vordergründig zusammenhanglosen und wirren Erzählungen oftmals eine Kassandra-Stimme, die freilich weniger warnen als vielmehr nur noch die Katastrophen nacherzählen kann. Salvatore ist und bleibt Idealist. Einer, der "an die Sonne glaubte, die für alle aufgehen sollte". Aber er weiß zum Zeitpunkt seines Lebensberichtes vor allem vom Scheitern dieser Ideale zu berichten: "Die wahre Revolution befreit die Welt. Doch in diesem Anspruch liegt auch ihr Scheitern, denn wir wollen alle befreien, auch die Brüder im Schwarzhemd, während die nichts anderes im Sinn haben, als uns einzulochen."

Magris' Roman ist ein Jahrhundert-Roman, der mit den Folien verschiedener Gattungen wie dem historischen Roman, dem Abenteuer- und Zeitroman spielt und mit Salvatore Cippico einen Protagonisten geschaffen hat, in dessen Lebensgeschichte sich die Schrecken der Schlachtfelder und Gefängnisse, die Grabenkämpfe der europäischen Ideologien und die barbarischen Absagen an die Zivilisation und Kultur im 20. Jahrhundert in einer Person verdichten. Am Ende seines Lebens sind dieser Bericht und das Reden über sein Leben für Salvatore Cippico auch eine Therapie: er redet buchstäblich um sein Leben. Er erzählt mit therapeutischer Gewalt, mal poetisch und witzig, mal anklagend und resignierend, atemlos und retardierend - und immer Wunden aufreißend, die das Jahrhundert bei ihm geschlagen hat.

Der 1939 in Triest geborene Magris hat sich hierzulande vor allem als Essayist und mit seiner vor einigen Jahren auch wieder neu aufgelegten Dissertation "Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" (zuerst erschienen im Jahr 1966) als Germanist einen Namen gemacht. In seinem neuen Roman greift Magris nun auf die klassische Mythologie zurück und überblendet die Lebensgeschichte seines Protagonisten immer wieder mit intertextuellen Anspielungen etwa auf die Argonautenfahrt oder bezieht sich mit dem großen Bild des Meeres auf den alten Topos des Lebens als navigatio vitae ("Leben bedeutet zur See zu fahren"). Der Titel "Blindlings" ist dabei bewusst doppeldeutig zu verstehen, was im Italienischen Original - "Alla cieca", auf blinde Art und Weise, blindlings - noch besser zur Geltung kommt: Mehr noch als nur einem blindem Schicksalsweg folgend und auch mehr noch als den Helden der sagenhaften Argonautenfahrt gleicht Salvatores Leben in symbolhafter Weise dem menschlichen Dasein im allgemeinen, wie es Hölderlin in "Hyperions Schicksalslied" beschrieben hat: "Doch uns ist gegeben, / Auf keiner Stätte zu ruhn, / Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab."

Am Ende seines Sturzes ins Ungewisse scheint Salvatore nur noch eine Gewissheit zu kennen und die ist ebenso erkenntnis- und zivilisationskritisch wie ernüchternd und spricht allen gerade heute allzu übereifrig formulierten Phrasen vom Lernen aus der Geschichte Hohn: "Die Geschichte ist ein an das verbundene Auge angesetztes Fernrohr."


Titelbild

Claudio Magris: Blindlings. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Regni Maria Gschwend.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
413 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446208254

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