Nachdenken über Europa

Mircea Cartarescu seziert in seinen Texten Zeiten und Räume

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wundersame Donau-Insel Ada-Kaleh, die Roma-Vertreibung und ihre mediale Darstellung, die Heimatstadt Bukarest oder die Besonderheiten des Balkans sind für Mircea Cartarescu Anlässe, um in einer sehr persönlichen Art und Weise über rumänische und europäische Identitäten sowie über die Zukunft des Kontinents nachzudenken. In den acht Arbeiten des vorliegenden Bandes geht es um die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Ideologien, die Thematisierung von Träumen, Nostalgie und Zukunftsvisionen. Der Rumäne Cartarescu ist im deutschen Sprachraum inzwischen vor allem durch seine Prosa bekannt. Sein vielbeachteter Roman "Die Wissenden" erschien in deutscher Übersetzung ebenfalls 2007 (siehe literaturkritik.de, 3/2008).

Die hier versammelten Texte zu Kultur und Literatur - zum Teil in den letzten Jahren bereits in anderen Publikationen veröffentlicht - wurden vom Schriftsteller während seines Aufenthaltes auf Schloss Solitude in Stuttgart für die "Reihe Literatur" zusammengestellt, die in Zusammenarbeit mit der Merz Akademie, in einer sehr ansprechenden Form aufgelegt wird. Die Texte mit Titeln wie "Europa hat die Form meines Gehirns", "Ein Rumäne in Brüssel" oder "Der Westen" "beschreiben die geistige Verfassung, die Gedanken und Wertvorstellungen eines Künstlers in einer Zeit großer Umbrüche politischer, gesellschaftlicher und kultureller Natur".

Ob Essay, Zeitungsartikel, Buchrezension oder Gedicht - aus allen spricht sowohl Unsicherheit und Verzweiflung angesichts vorgefundener Zustände als auch ein großer Optimismus und die Hoffnung auf ein demokratisches Europa, das gleichzeitig ein Europa der Vielfalt sein möge. Kulturrelativismus wie Europazentrismus lehnt Cartarescu ebenso ab wie die als Ausgrenzung empfundene ost- oder südosteuropäische Etikettierung. Der "Vielzahl Europas" fügt er sein Europa hinzu.

In "Der Balkanexpress" versucht er, aus einer Binnenperspektive "die Struktur des Balkanisch-Imaginären" zu beschreiben und die Diskrepanz zu den Tragödien der letzten Jahre, wie sie sich im zerfallenden Jugoslawien abgespielt haben, darzustellen sowie die Ursachen dafür freizulegen. Zugleich setzt er sich kritisch mit dem historisch gewachsenen Selbstverständnis seiner rumänischen Landsleute auseinander, die sich in Distanzierung zu ihren balkanischen Nachbarn als besonders und überlegen definieren.

Die Erfahrung der westlichen Welt - "Was er gesehen hat, war zu schön und zu traurig." - relativiert für den Schriftsteller das bisherige Leben und sein Selbstbild und lässt ihn Entwurzelung erfahren: "Ich finde meinen Platz nicht, ich bin nicht mehr von hier und kann von dort keiner sein."

Zwiespältig geprägt ist auch sein Verhältnis zu Bukarest, dem Ort seines Lebens von Kindheit an, das sowohl Gegenstand als auch Handlungsraum seiner Prosa ist. Und so präsentiert er verschiedene imaginäre Bilder von dieser Stadt.

Besonders berühren die Seiten über Ada-Kaleh, die geschichtsträchtige Insel, die als Mythos zu seiner Kindheit gehört und in der Ceausescu-Ära wegen des Baus eines Staudamms geflutet wurde. Heute vom Donaustrom bedeckt, ist sie ihm Symbol für ein orientalisches Paradies voll magischen Zaubers und Wohlbehagen sowie Sinnbild für die Suche nach dem eigenen Wesen. Und man begreift bei der Lektüre, wo für den Autor die Quellen seiner wundersamen, schriftstellerischen Inspiration liegen.


Kein Bild

Mircea Cartarescu: Europa hat die Form meines Gehirns.
Akademie Schloß Solitude, Stuttgart 2007.
110 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783937158266

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch