Rebell im Minnedienst

Im Reiseroman "Liebesbrand" wandelt sich Feridun Zaimoglu, der Erfinder der "Kanak Sprak", zum romantischen Märchenerzähler

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Feridun Zaimoglu dürfte der am stärksten kanonisierte Autor aus der immer größer und immer interessanter werdenden Menge deutschsprachiger Schriftsteller mit Migrationserfahrung sein. Die Werke des Kieler Autors mit türkischem Familienhintergrund werden in fast allen neueren Kompendien der deutschen Literaturgeschichte nach 1945 als herausragende, thematisch brisante und stets sprachmächtige Werke interkultureller Gegenwartsliteratur gewürdigt. Erscheint ein neuer Text von ihm, ist ihm das Interesse der Feuilletons ebenso sicher wie bei seinen publizistischen Äußerungen zu Religion, Integration oder Sprachpolitik. Immer öfter gelangen seine Bücher als Aufmacher einer Buchmessenbeilage in die Pole Position literaturbetrieblicher Aufmerksamkeit. Dass diese erhöhte Anerkennung auch eine gesteigerte Fallhöhe mit sich bringt, zeigte die Debatte um die Plagiatsvorwürfe, die sein Roman "Leyla" hervorrief, der Parallelen zum Roman "Das Leben ist eine Karawanserei..." von Emine Sevgi Özdamar aufwies.

Verfolgt man das Œuvre des Autors, der auch als bildender Künstler tätig ist, so fällt zuallererst eine große Wandlungsfähigkeit ins Auge. Seine Frühwerke provozierten zumindest die Aufmerksamkeit aller Sprachliebhaber mit einer semi-dokumentarischen Literatur aus dem Milieu marginalisierter, rebellischer Migranten; und mit der Erfindung einer stilisierten Kunstsprache, die den deutschtürkischen Ghettoslang mit großer Bildkraft und fulminanten Rhythmusgefühl zu Zaimoglus Kreation der "Kanak Sprak" überhöhte. Die Bücher "Kanak Sprak", "Abschaum" und "Koppstoff" (von 1995-1999) inszenierten in einem kunstvoll rohen Ton die harten, gewaltdurchwirkten Verhältnisse im Außenseiterdickicht der Städte.

Schon im Briefroman "Liebesmale scharlachrot", der mit Werther-Anklängen operiert, zeigte sich eine andere, romantisch sanfte Seite des Kieler Poeten. Freilich folgte darauf die ziemlich grobianische Attacke auf den Avantgarde-Kunstbetrieb und seine durchgeknallten Protagonisten in dem Buch "German Amok", das im Titel und der satirisch-brutalistischen Haltung auf Ellis' "American Psycho" anspielt. Viele Kritiker fanden nicht ganz zu unrecht, dass dieses Buch in seinen Visionen provokanter Kunstpraxen und transgressiver Sexualität selbst eher Symptom als Satire der unappetitlichen Exzesse avantgardistischer Kunstbemühungen sei.

Zaimoglus Entwicklung zarterer Plots kreiste um das gute alte Thema der Liebessehnsucht und die Schwierigkeiten, zueinander zu finden. Sie wurde von einer Suche nach einer neuen, möglichst empfindsamen und doch zugleich bildmächtigen Sprache begleitet; besonders im Erzählungsband "12 Gramm Glück", der seine Geschichten abwechselnd im Westen und im Osten ansiedelte. Hier entfaltete sich ein Erzähler, bei dem man auf das Überraschende gefasst sein musste; ein Wortkünstler, der den Tonfall, das Ambiente und die Sujets seiner Bücher immer wieder neu zu gestalten sucht. Doch blieb sich Zaimoglu in einer Hinsicht wohl immer treu: er erwies sich in Semantik, Syntax, Rhythmik und Bilderreichtum als ein äußerst sprachvirtuoser Autor. Und er scheute mit seinen Themen und Volten kaum ein Risiko. Nach den rauhen Tönen des Frühwerks beschert er uns in dieser Saison die geradezu retrohaft romantisch wirkende Geschichte einer Liebeswallfahrt. Angedeutet hatte sich dieses Thema ja schon in den Werther-Anklängen seines Briefromans "Liebesmale scharlachrot" und im Erzählband "Zwölf Gramm Glück". Doch erst im neuen Roman geht der Kieler Autor nun auch in diese Richtung tollkühn aufs Ganze, indem er seinen Ich-Erzähler ohne jegliche Ironie seine unbedingte Verfallenheit an eine Frau berichten lässt.

David, ein deutschtürkischer ehemaliger Börsenmakler, der nun von seinen Ersparnissen leben kann, verliebt sich in der Grenzsituation eines schweren Busunglücks traumahaft in eine hilfsbereite Retterin, von der er kaum mehr als ihr Gesicht, ihren Ring und ihr deutsches Autokennzeichen in Erinnerung behält. Der Auftakt der Erzählung gelingt furios. Das Buch beginnt mit den zeitlupenhaft ablaufenden Bewusstseinsfetzen des Erzählers während des Unfalls - Zaimoglu selbst überlebte im Jahr 2006 ein solches Busunglück, bei dem auf einer Straße in der Türkei zwölf Passagiere starben, nur um Haaresbreite. In dem Horrorszenario des zerquetschten und brennenden Busses erscheint als hilfreiche Hand und Wasserspenderin kurz jene Frau, die als Erlöserin dann zur Sehnsuchtsfigur für den Erzähler wird. Doch die Liebe zeigt sich im Text schon bald als ein Ort der Schmerzen, der Verfehlungen und der Trennungen.

Auf das Inferno des Unfalls folgt der Krankenhausaufenthalt, dessen Figuren und Aktionen bei aller Tristesse des überfüllten türkischen Krankenhauses doch eher komödiantisch erscheinen. Märchenhaft typisierte Gestalten begegnen uns im Purgatorium des Hospitals. Der Mitpatient Messer, der seinen Namen wie alle Krankengenossen der Art seiner Blessur verdankt, gibt sich als ein Kenner der Liebe. Er wisse, "daß wir die Frauen nicht beherrschen können, [...] sie lieben in alle Richtungen, und wenn wir zufällig in der Richtung anzutreffen sind, in die sie sich bewegen, werden wir ein wenig glücklich. Sie befassen sich mit uns, wir nennen es Liebe, und dann schlagen sie eine andere Richtung ein, und wir reiben uns die verweinten Äuglein."

Die Kontigenz und Endlichkeit von Liebesbeziehungen wird so schon früh zum Leitmotiv. Mit präzisen Detailbeobachtungen und hier noch lakonischen Worten beschreibt der Ich-Erzähler David die Schlussszene seiner vorigen Liebesaffäre. Weniger lakonisch gestaltet sich sein Bericht von der Suche nach seiner Retterin, aus deren kurzer, gütiger Aktion, kaum mehr als eine Geste, sein titelgebender Liebesbrand entflammte. Von einem Freund leiht sich David ein Auto und fährt der Spur ihres memorierten Autokennzeichens folgend in die niedersächsische Kleinstadt Niendorf an der Weser. In einem Café begegnet er tatsächlich seiner (Alp-)Traumfrau. Doch diese ist verheiratet - allerdings wenig glücklich. Und so beginnt das Spiel von Attraktion und Repulsion, von Entzug und Verfolgung, das den Roman zum Roadmovie macht, in dem David seiner Angebeten erst nach Prag und dann nach Wien folgen wird. Tyra, wie die Dame mit einem altdeutschen Namen heißt, recherchiert dort für ihre Doktorarbeit über historische Marketenderinnen und entzieht sich solcherart den engen Kleinstadtverhältnissen und ihrem Apotheker-Gatten.

Davids Freund mit dem bezeichnenden Erzengelnamen Gabriel versucht, seinen Kumpel von seiner fatalen und aussichtslosen Liebe abzubringen: "Sie ist in festen Händen. Sie hat alles, was eine moderne Frau braucht: eine unglückliche Ehe, Mutterschaft, eine intellektuelle Beschäftigung, einen Doktorvater, der sie in eine Stadt mitnimmt, die die Bürgerlichen sehr lieben. Und was bist du für sie? Ein Idiot, ein Steigbügelhalter, ein zweitklassiger Romeo."

Doch David kann von Tyra nicht lassen; seine Ablenkungsversuche auf der Hamburger Reeperbahn oder einer Kieler Singleparty fallen allesamt wenig befriedigend aus. Und immerhin lässt sich Tyra, die den Erzähler abwechselnd ins Rollenfach eines unangenehmen Stalkers und eines willkommenen romantischen Verehrers zu projizieren scheint, schnell auf ein kleines sexuelles Abenteuer in einem Hotelzimmer ein. David erläutert Tyra, immer in der Sorge, sie könnte sich von ihm verfolgt und belästigt fühlen, seine Hingerissenheit: "ich war halbtot, und als du dich über mich gebeugt hast, dachte ich: sie schenkt mir das Leben."

Es ergibt sich ein Abend mit kratzbürstig heftigem Sex, der jedoch aus Sicht der Frau einmalig bleiben sollte. Diese erste erotische Nacht offenbart zugleich das eigentümlich spannungsreiche Verhältnis von Liebe, Sex und Gewalt, das diese Erzählung, bei aller romantischen Sehnsucht des Erzählers kennzeichnet: "Kampf und Krieg im Bett, sie liebte es, besessen zu sein, und ich wollte von ihr besessen sein, du verdammter Mann, schrie sie und nahm mich in sich auf, lass' mich in Ruhe, schrie sie, und umschlang mit ihren langen Beinen meine Hüften, hielt mich gefangen in ihrer Fleischzwinge".

Szenen irritierender und weitgehend unmotivierter Gewalt widerfahren dem sanften Erzähler auch bei seinem Aufenthalt in Prag, wo ihn Unbekannte sowie ein merkwürdiger Freund seiner Stadtführerin wiederholt bedrohen und attackieren. Ohne dass einem recht klar wird, woher die Opferrolle Davids rührt, unterstellt ihm seine spröde Stadtführerin Jarmila: "Du ziehst es an." Sie ist im Hauptberuf übrigens Schauspielerin und tritt mit einem Soloprogramm auf, das sich über die Prager Heimatseligkeit mokiert - zum Wohlgefallen von Einheimischen und Touristen. Mit dieser Frau verwickelt sich David in eine Parallel- und Substituts-Affäre. Die erotischen Stelldicheins mit ihr oszillieren, ganz ähnlich wie die mit Tyra, zwischen keuschem Kuscheln und rabiaten Vereinigungen. So fremd wie sich die Figuren trotz ihrer Sehnsucht nach Nähe im Grunde bleiben, so befremdlich muten den Leser gelegentlich die überraschenden Annäherungen und Abstoßungen der Protagonisten an. Jarmila bringt die emotionale und erotische Gemengelage wohl am ehesten auf den Punkt, wenn sie David erklärt: "Du und ich sind zweite Wahl [...] eine Verlegenheitslösung". Er gesteht ihr gleichwohl, dass er Tyra, die er auch in Prag gelegentlich sehen durfte, nach Wien nachreisen wird. Tyra wiederum hat David mit Jarmila gesehen und amüsiert sich, dass er in seinem Leben eine Haupt- und eine Nebenliebe 'installiere'. Der romantische Minnediener David schämt sich für seinen 'Verrat' an seiner doch gewollt großen, einzigartigen und unbedingten Liebe.

In Wien steht David dann sein Kieler Freund Gabriel zur Seite, um ihm gegen eine üppige Gage bei der neuerlichen Suche nach Tyra zu helfen. Zu seinem Missvergnügen soll David hier in die krummen Geschäfte des Maoisten Napp einbezogen werden, der kranken, abergläubischen Menschen Alraune-Wunderwurzeln verkauft. So operiert die Erzählung nicht nur in Prag mit einigen kafkaesken Wunderlichkeiten, unmotivierten Begebenheiten und verschrobenem Personal. In Wien sind es nicht nur der leicht abgedrehte Freund und dessen alter Kumpel, und nicht nur die kauzigen Wirte, die für eine irritierende, märchenhaft phantastische Atmosphäre sorgen. In Wien dreht nämlich auch die angebetene Dame ab - in Folge einer Neapel-Visite und ihrer Verwicklungen in die gewaltsame Trennung einer Freundin. Tyra konvertiert zum Katholizismus. David trifft sie zufällig in einer Kirche, wo sie ins Gebet versunken ist, und spaziert anschließend mit ihr auf einem Wiener Friedhof, wo auch er ein islamisches Gebet für die namenlosen Toten spricht. Als die zur Gläubigen sich wandelnde Tyra David befragt, was sie für ihn sei, erklärt er ihr in einer großen, von Pathos erfüllten Tirade: sie sei seine Frau, sie seien für einander bestimmt. Und so darf er dann am Rande ihres Bettes die Nacht mit ihr verbringen.

Doch verkündet der Schluss keine glückliche Vereinigung und kein gemeinsames märchenhaftes Fortleben. Obwohl sich Tyra, nachdem sie in Wien dem Vergewaltigungsversuch eines Fremden zum Opfer fiel, an David klammert, weist sie ihn weiter zurück: "Du bist das, was ich nicht wirklich will und was mir aber nachläuft." Am Ende stehen, wiederum im sakralen Raum eines Gotteshauses, Davids Resignation und Tyras Fall aus der Geschichte in den Glauben: "kein Wort mehr, keine Beschwörung mehr, keine einzige Bitte mehr, sollte sie sich doch verstecken vor meiner Liebe, die zu einfach war und kein Feuer und keine Verdammnis vorsah, sie wisperte in der Kapelle mit geschlossenen Augen, und plötzlich riß sie die Augen auf und fiel zur Seite auf den Boden."

Tyra erklärt die Affäre mit David für beendet. Sein Begleiter Gabriel hat eine Geliebte in Wien gefunden, und David erhält einen Anruf von Jarmila aus Prag. Mitpatient Messer scheint mit seiner traurigen Liebesweisheit recht behalten zu haben.

Diese Erzählung verstört in ihrer thematischen wie sprachlichen Faktur in mancherlei Hinsicht. Die Ereignisse schwanken zwischen psychologischem Realismus und verschrobenen Begebenheiten. Ähnlich schwankend ist der Erzählton für diese Geschichte einer Liebesverfallenheit, der zwischen einer leicht archaischen, romantischen Patina und ruppigeren Passagen heutiger Sprache changiert. Angesichts des Eindrucks, es hier mit einer doch gelegentlich umständlichen, ungelenken Prosa zu tun zu haben, fragt man sich beim Sprachmagier Zaimoglu freilich, ob diese wackelige Sprache vorsätzlich eingesetzt ist, um die weltfremde Obsession und gelegentliche Verwirrung des Erzählers zu markieren. Ähnlich überraschend ist die mit großer Offenheit gezeichnete religiöse Konversion der Geliebten, die den Roman sanft ins Verschmockte driften lässt - und doch zugleich auf die nicht nur im islamischen Kulturkreis virulente Wiederkehr der Religionen hinweist.

Der Rezensent, bekennender Bewunderer Zaimoglus, gesteht, dass er in der recht bald voraussehbaren Folge von Begegnungen und Trennungen, Anziehungen und Abstoßungen sowie im Reigen der hübsch anschaulichen Ortserkundungen von Prag und Wien und angesichts der Kette wunderlicher Begebenheiten einige Längen beim Lesen zu überstehen hatte. Trotzdem: eine lesenswerte, außergewöhnliche Liebesgeschichte und eine neuerliche, faszinierende Volte im Schreiben Zaimoglus. Vom rohen Ton der frühen Tage begibt sich dieser außergewöhnliche Sprachkünstler nun offenbar auf die Suche nach dem hohen Ton einer neuen Empfindsamkeit.


Titelbild

Feridun Zaimoglu: Liebesbrand. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
375 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462039696

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