Eifersucht unter Kolleginnen

Über Ingrid Nolls Roman "Kuckuckskind"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ingrid Noll hatte die Fünfzig längst überschritten, als sie 1991 mit ihrem Debütroman "Der Hahn ist tot" sofort die Bestsellerlisten stürmte. Ein neuer, etwas unkonventioneller Stern am deutschen Krimi-Himmel war aufgegangen. Auch die nachfolgenden Werke (alle bei Diogenes erschienen) "Die Apothekerin" (1994), "Kalt wie der Abendhauch" (1996), "Selige Witwen" (2001) und "Rabenbrüder" (2003) fanden reißenden Absatz, wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und machten Ingrid Noll zur meist gelesenen deutschsprachigen Krimi-Autorin.

Ihr neuer Roman "Kuckuckskind" ist mehr psychologisches Familiendrama als Kriminalroman, wenngleich es am Ende auch zwei Tote gibt. Erzählt wird die Geschichte der Lehrerin Anja und ihrer Kollegin Birgit - beide verheiratet und kinderlos. Als Anja eines Abends verfrüht von ihrer Chorprobe heimkehrt, erwischt sie ihren Ehemann Gernot (bei den Klängen von "Je t'aime") mit einer anderen Frau. Mit dem zuvor präparierten Abendtee verbrüht sie das Paar, verlässt dann das Haus und zieht einen Schlussstrich unter ihre Ehe.

Anja zieht sich völlig zurück in ihre schäbige Mietwohnung, die sie gegen das schmucke Eigenheim eingetauscht hat, verbringt die meiste Freizeit mit Sudoku-Rätseln und Grübeleien über die Vergangenheit. Der Schulunterricht, auf den sie sich zumeist pedantisch vorbereitet, bietet ihr noch den einzigen Halt. Die Lebenskrise und die Stimmungskapriolen der knapp vierzigjährigen Frau, die sich so sehr ein Kind gewünscht hat, schildert die 72-jährige Ingrid Noll äußerst authentisch.

Richtig in Schwung kommt der Roman jedoch erst, als Anja erfährt, dass ihr Ehemann Gernot ein Verhältnis mit ihrer Kollegin Birgit hatte. Sie weiht Birgits Ehemann Stefan ein, und das emotionale Chaos ist komplett, als Birgit ein Kind erwartet.

Anja ist der Verzweiflung nahe, sie hat ihren Ehemann und die Aussicht auf das herbeigesehnte Kind verloren, und ihre Freundin und Kollegin ist möglicherweise von ihrem Ex-Mann schwanger. Durch diese doppelte Niederlage fallen bei der Protagonistin alle Schranken des Anstands. Rasend vor Eifersucht treibt sie Birgits Ehemann zu einem Vaterschaftstest, sie selbst besorgt sich aus der einstigen gemeinsamen Wohnung "Material" ihres Mannes und gibt selbst einen anonymen Test in Auftrag.

Nachdem Anja im Haus des alleinerziehenden Vaters ihres Schülers Manuel eine neue, anspruchsvolle Wohnung (mit Familienanschluss) gefunden hat, scheint sich auch ihr Gefühlshaushalt wieder einzupegeln.

Der Mittelteil von Ingrid Nolls Roman liest sich etwas zäh - mit all den Beschreibungen aus dem kunterbunten Lehrerkollegium, den Details aus Anjas wechselnden Wohnungen und den Treffen mit ihrer besserwisserischen Mutter.

Zum Ende nimmt die Handlung dann aber noch einmal mächtig Fahrt auf. Während Anja wieder aufblüht, kommt es zwischen ihrer Kollegin Birgit und ihrem Mann Stefan zum Eklat. Sein Vaterschaftstest (übrigens auch der von Anjas Ex-Mann Gernot!) ist negativ ausgefallen. Er verprügelt seine Frau, die daraufhin mit dem Auto flieht. Als Stefan zur Besinnung kommt, gibt er den gerade geborenen Sohn Victor in die Obhut von Anja und macht sich auf die Suche nach seiner Frau.

Die Leiche von Anjas Kollegin Birgit wird irgendwann aus einem See gefischt (die Todesursache bleibt ungeklärt), und deren Ehemann Stefan nimmt sich das Leben. Zwei negative Vaterschaftstests und die rasende Eifersucht einer enttäuschten Frau führten zu einem verheerenden Drama. Durch die schrittweise "Enttarnung" des Vaters wird der Spannungsbogen bis zum Schluss aufrecht gehalten. Insofern ist "Kuckuckskind" wieder ein ganz typischer Ingrid-Noll-Roman.


Titelbild

Ingrid Noll: Kuckuckskind.
Diogenes Verlag, Zürich 2008.
339 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066326

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