Alte Gefühle, vermeintlich neue Ideen

Die "neuen deutschen Mädchen" Jana Hensel und Elisabeth Raether sind in Wahrheit unsichere junge Frauen ohne Geschichtsbewusstsein

Von Nicole SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir wollten nicht für jemanden sprechen. Wir wollten erzählen, was wir erlebt haben." Was Elisabeth Raether in einem Interview mit "Literaturtest" sagte, klang schon reichlich defensiv. Zu laut und übermächtig waren die Stimmen, die nach Erscheinen des Buches den beiden Autorinnen vorwarfen, lediglich ihre eigenen Geschichten erzählt zu haben und damit das Sprachrohr junger Frauen sein zu wollen. Schnell behaupteten die Autorinnen, lediglich ein autobiografisch-erzählendes Sachbuch verfasst zu haben, ohne den Anspruch, auch andere Frauen oder gar eine ganze Generation vertreten zu wollen. Vielleicht wurde den beiden Freundinnen nach den ersten Kritiken klar, dass es doch nicht der große Wurf war, was sie in kühner Absicht niedergeschrieben hatten.

Doch dem Buch selbst ist deutlich anzumerken, dass es beim Schreiben sehr wohl noch darum ging, einen neuen Feminismus zu formulieren. Und nicht die autobiografische Perspektive, sondern genau das ist es, was dieses Buch so schlecht macht - denn wenn es neue feministische Ideen vorstellen sollte, ist es gründlich misslungen.

Die Texte sind autobiografische Rückblicke jeweils von Hensel oder Raether zu verschiedenen Themen, und es wird schnell klar, dass die beiden Frauen nicht nur flüssig und stilistisch sicher schreiben können, Gedanken gut formulieren und gekonnt Stimmungen evozieren, sondern dass sie auch - trotz ihres ausgesprochenen Ansinnens, mit den eigenen Geschichten gegen die Klischees über Frauen anzuschreiben - vielen, zu vielen Klischees von modernen jungen Frauen entsprechen. Die Texte sollen persönlich sein und sind es auch. An vielen Stellen sind sie zu persönlich, um noch irgendetwas mit einem Sachbuch zu tun zu haben. Und doch formt sich das Bild von zwei Freundinnen, die prima in eine moderne TV-Serie passen würden, in denen es um moderne Großstadt-Singles und ihre Affären, um Parties in Berlin, Praktika in Paris und in Rückblenden um familiäre Konflikte in Heidelberg oder das Aufwachsen in der ehemaligen DDR geht.

Doch die Autorinnen wollen nicht nur sich selbst in verschiedenen Texten vorstellen, denn wenn allein das ihre Intention wäre, würde es sich um ein gutes, gelungenes Buch handeln. Nein, sie sind nicht einverstanden mit dem, was Feminismus - wohlgemerkt ihrer Meinung nach - heute bedeutet. Deshalb haben sie aufgeschrieben, was ihnen so einfällt zum eigenen Leben, zur weiblichen Rolle, zu bestehenden Ungleichheiten und zu Alice Schwarzer, zum Wort Feminismus und beruflichen Erfolgen von Frauen: um der Öffentlichkeit klar zu machen, was Frauen um die dreißig wirklich denken und fühlen und wie sie leben. Denn das, was von Alice Schwarzer vertreten wird, habe, wie sie schreiben, mit ihrem eigenen Leben nichts mehr zu tun. Wie die anderen "alten" Feministinnen spricht sie zuviel über schreckliche Dinge wie Klitorisbeschneidung, Vergewaltigung, Pornografie oder Magersucht. "Und weil niemand merken soll, dass sie so vieles nicht weiß über Frauen, die heute jung sind. Denn das Allerschlimmste passiert selten, und meistens passiert es nicht uns, es passiert woanders. Unser Leben, Janas und meins, ist kein Drama." So Elisabeth Raether zu Beginn des Buches. Diese Sätze muss man als Leserin einige Male kauen, um sie schlucken zu können. Es mag sein, dass sich die jungen Frauen heute nicht wirklich durch den Feminismus vertreten fühlen. Doch durch diese Art der Argumentation ändert sich daran mit Sicherheit nichts.

Ganz davon abgesehen, dass gerade Pornografie oder Magersucht nun wirklich keine "alten" Themen sind, die in der modernen Welt keine Rolle mehr spielen, sondern im Gegenteil wirkliche Problemfelder der globalisierten Welt darstellen, die nur von den Feministinnen wie Alice Schwarzer bereits sehr früh benannt und thematisiert wurden. Auch ganz davon abgesehen, dass Raether im Buch nebenbei erwähnt, dass sie zwar gelernt hat, zu essen, wenn sie Hunger hat, sich aber doch noch sehr viele Gedanken über ihr Gewicht macht, und dass sie in Paris jahrelang mit einem viel älteren Mann zusammen war, der ihr, der jungen, hübschen Praktikantin, "Sicherheit" in Form von unzähligen Paar Schuhen und Handtaschen geboten hat. Für dieselbe Frau sind Magersucht und Prostitution Themen, die sie nichts angehen und die, wie mehrere Male betont wird, nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun haben - dafür kann man nach der vollständigen Lektüre des Buches nur Verdrängung verantwortlich machen. Darüber hinweg gesehen, dass Hensel und Raether vielleicht das Glück hatten, selbst nicht sexuell missbraucht, vergewaltigt, genital beschnitten oder sonst wie aufgrund ihres Frauseins gewalttätig behandelt worden zu sein, dass aber auch die Zahlen von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung in den Jahrzehnten seit der "Machtergreifung" von Alice Schwarzer in der deutschen Feministinnen-Bewegung keineswegs rückläufig sind, dass hier also sehr wohl noch Rede- und Handlungsbedarf besteht. Von all diesen groben Fehlern abgesehen - wie kann man allen Ernstes argumentieren, ein Thema sei nicht wichtig oder "historisch", die Zeit habe es eingeholt, nur weil man es selbst nicht am eigenen Leib erlebt hat? Da geht das Subjektive eindeutig zu weit.

Es wäre interessant zu erfahren, was Hensel und Raether von, sagen wir, beispielsweise einem türkischen Migranten hielten, der ein Buch zum Thema "Auseinandersetzung mit Ausländerfeindlichkeit in Deutschland" schreiben und dabei Themen wie sexuelle Ausbeutung von ausländischen Frauen, rechtsradikal motivierte Gewalttaten gegen Türken und dergleichen als "historisch" bezeichnen würde, weil sie ihm selbst noch nicht vorgekommen sind, und mit diesem Argument eine neue Form der Auseinandersetzung mit Ausländerfeindlichkeit fordern würde.

Wie so häufig in der feministischen Bewegung sind es auch hier leider wieder Frauen, die sich nicht damit begnügen, neue Ideen einbringen zu wollen, sondern gleich zu einem blinden Rundumschlag gegen alle Frauen, die vorher da waren, und alle Themen, die bisher im Mittelpunkt standen, ausholen. Das tut weh.

Die trotzdem vorhandenen guten Ansätze des Buches bleiben ohne weitere Diskussion oder Stellungnahme flach und oberflächlich, wie Überschriften eines Kapitels ohne nachfolgenden Text, und da es sich - anders, als die Autorinnen offensichtlich glauben - um alte Ideen des Feminismus handelt, die seit Jahrzehnten vertreten werden, ist in dem Buch, was den Feminismus angeht, nichts wirklich neu.

Dass sich "trotz der selbstbewussten Dialoge" in "Sex and the City" für die meisten Frauen gar nicht soviel geändert habe in den Neunzigern, bemerkt Hensel, und dass der berufliche Erfolg einzelner Frauen nicht viel mit der Masse der Frauen zu tun gehabt habe und überhaupt vor allem ein Produkt von Anpassung an männliche Maßstäbe sei. Gespannt wartet die Leserin nach diesem allseits bekannten Ist-Abriss auf neue Vorschläge - und erhält lediglich den Hinweis, dass für die moderne Frau der Wunsch nach Geborgenheit und nach Familie mit der individuellen Lebensplanung, insbesondere der Karriereplanung, noch schwer zu vereinbaren sei. Ach nee.

Auch die längst in tausend Texten beschriebene und beklagte Orientierungslosigkeit der modernen Großstadtmenschen in unserer globalisierten Welt bekommt in diesem Buch weitere Zeugnisse hinzugefügt - und dabei handelt es sich sogar noch um die schönsten, literarisch kostbarsten Stellen. Der Alltag mit "allen nur denkbaren Optionen" wird da beklagt, die ziellos erscheinende Gegenwart voller Unverbindlichkeiten und kurzfristiger Bekanntschaften. Und wenn dann die Autorin Hensel ihre eigene Mutter um ihre Jugend in einem "Zustand der Alternativlosigkeit" beneidet, dann liegt darin schon Potenzial zur Erklärung vieler romantischer Rückschritte moderner Frauen - doch dieses Potenzial versickert ungenutzt, wie es auch an anderen Stellen der Fall ist, denn Hensel und Raether ziehen niemals explizit Schlüsse aus dem Erlebten, Subjektiven. Nur einzelne Bemerkungen deuten darauf hin, dass die beim Lesen entstehenden Eindrücke eben doch einen neuen Feminismus abbilden sollen. "Die Frage, wie eine Gesellschaft liebt, ist nichts anderes als die Frage, wie eine Gesellschaft ist", steht da im Zusammenhang mit den eher unglücklich verlaufenden Affären der Autorinnen, geprägt von schweigsamen, egoistischen Männern und eigener Unsicherheit und Anpassung. Und: "Unsicherheit gehört als wesentliches Merkmal zur weiblichen Rolle." Doch was bedeutet das für einen modernen Feminismus? Sicher nicht, dass Alice Schwarzer, die solche einfachen Wahrheiten bereits seit Jahrzehnten formuliert, nun ausgedient hat. Und sicher ebenso wenig, dass Pornographie und Essstörungen keine wichtigen Themen mehr sind.

An vielen Stellen des Buches taucht daher der Verdacht auf, dass die Autorinnen ihr formuliertes Motiv, von dem "alten" Feminismus weg zu wollen, weil dieser nur noch zur Erklärung einer vergangenen Welt tauge, nicht mehr jedoch für die Gegenwart junger, längst emanzipierter Frauen, dass sie dieses Motiv aus einem bestimmten Grund kontinuierlich selbst widerlegen: weil sie in Wahrheit keine Ahnung haben, was der "alte" Feminismus, den sie angreifen - und die Sätze über Alice Schwarzer sind die deutlichsten Aussagen im ganzen Buch -, eigentlich zum Inhalt hat. "Wir kommen aus dem Leben und nicht aus einem Gender-Seminar", sagte Hensel in einem Interview auf "satt.org" zu dem Buch, und dass sie Charlotte Roche mögen, weil man ihr "den Feminismus nicht schon an der Nasenspitze ansieht" - ohne jedoch ihren Roman "Feuchtgebiete" gelesen zu haben, wie sie zugab. Und genau dieser Anfängerfehler ist den Autorinnen auch bei ihrem Buch unterlaufen: Sie haben geschrieben und eine Meinung verkündet, ohne sich zuvor kundig zu machen. Als Leserin, die sich auch nur einigermaßen in feministischer Literatur und Geschichte auskennt, kann man da nur viele Male den Kopf schütteln über soviel Unkenntnis und mangelndes Bewusstsein der Geschichte der Frauen. Es ist ein wenig so, als ob jemand ein Buch darüber schreiben würde, dass die "alten" Umweltschützer in der modernen Welt ausgedient haben und dass jetzt die neue Idee des Umweltschutzes komme, nämlich Strom zu sparen und die Natur wie ein ausgewogenes System und nicht nur wie eine Rohstofflieferantin zu behandeln: Die Welt scheint für Hensel und Raether etwa mit dem Fall der Mauer ihren Anfang genommen zu haben. Was davor war, interessiert sie nicht, und erst recht nicht glauben sie, irgendwo mal nachlesen zu müssen, ob die Ideen, die sie wie völlig neue verkünden, vielleicht schon vor Jahrzehnten irgendwo formuliert wurden. Da ist es leichter, gleich zu sagen, dass die "olle Rhetorik" einer Alice Schwarzer sie nicht vom Hocker reißt.

Was dies alles noch unverzeihlicher macht, ist nicht nur die Tatsache, dass es sich bei den Autorinnen um beruflich mit Texten arbeitende Menschen handelt, die studiert und in Redaktionen und Verlagen gearbeitet, ja, bereits Bücher geschrieben haben, kurz: wissen sollten, dass man andere Stimmen lesen und recherchieren sollte, bevor man selbst ein "Sachbuch" zu einem Thema veröffentlicht. Das Schlimmste ist jedoch, dass das, was hier als "neuer" Feminismus verkündet wird, nicht einmal nur alt und bereits tausendmal formuliert ist, sondern noch dazu eine lahme, harmlose Version der alten Gedanken.

Ein passender Satz findet sich in dem Buch selbst, wenn Hensel das Fernsehen kritisiert: "Und anstatt über interessante Fragen zu streiten, kreist man um Grundsätzliches, eigentlich längst Geklärtes." Genau das machen Hensel und Raether selbst. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gleiche Chancen im Beruf für Frauen, Anpassung an männliche Regeln, die weibliche Rolle in Beziehung und Familie - wo, bitte, haben die Autorinnen gelebt, dass ihnen entgehen konnte, dass diese Themen an sich nicht neu sind? Dass höchstens neue Ansätze, neue Ideen, neue Schwerpunkte die Diskussion um diese Themen voranzubringen imstande sind? Wie können sie sich anmaßen, die Werke bedeutender Feministinnen und die Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte komplett zu ignorieren - um dann auch noch große Themen wie den Islamismus oder die sexuelle Beschneidung einfach als nicht relevant wegzuwischen?

Wenn Raether berichtet, dass Hensel ihr mit verärgerter Stimme gesagt habe, dass es in einer Rede von Alice Schwarzer um beschnittene Frauen, gesteinigte Frauen, eingesperrte, geschlagene, vergewaltigte Frauen gegangen sei, um "das Allerschlimmste, was einem passieren" könne, dann möchte man ihr entgegen rufen: Hat das nichts mit Frausein zu tun? Wird eine Frau in dieser Welt aus anderen Gründen beschnitten, gesteinigt oder vergewaltigt, als weil sie eine Frau ist? Wie kann man einer beschnittenen, geschlagenen, vergewaltigten Frau erklären, dass das, was sie aufgrund ihres Geschlechts erlebt, leider nichts ist, womit der moderne Großstadt-Feminismus noch zu tun haben will, weil es ihm mehr um Kreditkarten-Einkäufe, Sex ohne Liebe und geplante Mutterschaft geht?

"Es gilt einen dritten, einen neuen Weg zu finden", heißt es bei Hensel und Raether zum Thema Frauenrolle, und die Leserin ringt verzweifelt die Hände: Was, wenn es im modernen Feminismus nicht um Prostitution und Islamismus oder um Sex ohne Liebe und geplante Mutterschaft ginge, sondern um all das zusammen, was das Leben einer Frau als Frau ausmachen kann?

Wer sich zu Beginn noch darüber wundert, warum zwei erwachsene Frauen sich selbst auf dem Titel als "Mädchen" bezeichnen (angeblich, weil das Wort einfach schöner und es in anderen Sprachen doch auch üblich sei, wie Raether in einem Interview erklärte), der versteht nach der Lektüre sehr gut, dass dies die beste und passende Bezeichnung ist. Wer so auf eine individuelle Sicht fixiert, so darauf versessen ist, ohne Kenntnis ältere Frauen abzuurteilen, wer alte Ideen als neu verkauft und nicht einmal durchdenkt, sondern nur andeutet - der ist noch längst nicht erwachsen. Wer Wodka, Senf und Harissa im Kühlschrank hat und dies als Abgrenzung von der Rolle der Mütter sieht, hat nicht verstanden, worum es im Feminismus geht.

Da ärgern die einseitigen Darstellungen beispielsweise von modernen Vätern (die offensichtlich alle nur das Beste der Kinder wollen und von den Müttern gemobbt werden) gar nicht mehr - woher sollen es Hensel und Raether auch besser wissen? Es handelt sich um zwei prinzipiell sympathische, offene, intelligente und begabte Frauen, also bleibt zu hoffen, dass sie nach einigen weiteren Jahren der Lektüre, der Gespräche, der Erfahrung und des Nachdenkens vielleicht tatsächlich einmal ein gutes, scharfsinniges und anregendes Buch zum Feminismus schreiben werden - denn das vorliegende Buch ist nichts als eine harmlose, naive, brave Erzählung von zwei Mädchen kurz vor dem Erwachsenwerden, die ins Gespräch kommen, aber unbedingt noch von allen geliebt werden wollen.


Titelbild

Jana Hensel / Elisabeth Raether: Neue deutsche Mädchen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
206 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783498029944

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