Wenn Frauen zu sehr lieben

Verena Carls Retrospektiveroman "Irgendwie Irgendwann" über Ansichten, Gefühle und ihre Veränderbarkeit in den 1980er-Jahren

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es sinnvoll erscheinen mag, sein Leben nach bestimmten Prinzipien und Werten auszurichten, lässt sich kaum bestreiten. Dass es aber auch nicht verboten ist, sich von Gefühlen treiben zu lassen, steht gleichfalls außer Zweifel.

Gerhild Sellin nun verfügt weder über klar definierte Prinzipien noch über durchdeklinierte Gefühle. Sie treibt auf ihrem Lebensfluss dahin, verliebt sich in Rob, einen Second Lieutnant der US-Army, und steht Anfang der 1970er-Jahre als alleinerziehende Mutter da.

Als ihre Tochter fünf ist, zieht sie nach Freiburg, lernt Barbara kennen, die statt Glühbirnen lieber Kerzen verwendet, "lila Männerunterhosen" trägt, "unökologisches Verhalten" nicht leiden kann und daher sehr bewusst und gesund lebt. In ihrer "Hochparterre-Altbauwohnung" sind nicht nur "Schlemmertöpfe und Zigeunerschnitzel" tabu, sondern auch "Griesschnitten mit Kompott", Eis oder Schokolade. Dafür gibt es kleine harte Jausenbrötchen, die "eine heimtückische Verletzungsgefahr für den Gaumen" darstellen, "erdverschmierte Möhren und Biobrot" und immer wieder Kartoffeln.

Gerhild gewöhnt sich daran. Ist flexibel. Hört auf, sich die Achseln zu rasieren, tauscht ihre Dauerwelle gegen rote Haare und die alten Freunde gegen neue. Statt Lehrer, Krankenschwestern und Versicherungskollegen sind es jetzt Leute, die mit Pendeln, Kristallen und Kunst handeln, "Workshops in Körpererfahrung machen", als Tischler oder Stukkateur arbeiten. Sie scheint nichts dagegen zu haben, "einen neuen Menschen aus sich machen" zu lassen; Hauptsache der Selbstfindungstrip geht weiter.

Doch je länger sie schwimmt, umso mehr reift die Idee, irgendwo wirklich anzukommen. Und es verwundert kaum, dass es sich um eine eher traditionelle Personenkonstellation handelt, die in Gerhild Sellins Sehnsucht manifest wird, nämlich die spießbürgerliche Kleinfamilie mit einem Ersatzvater für ihre Tochter. Sie klinkt sich also aus dem "Umerziehungsprojekt", das sie für ihre Freundin Barbara gewesen ist, aus, zieht um, wird Chefsekretärin in einem Ingenieursbüro und heiratet den 13 Jahre jüngeren Michael Bertle. Der interpretiert allerdings nicht nur seine Stiefvaterrolle in eine etwas andere, mit Rückenwaschen bei einem 14jährigen Mädchen in der Badewanne vielleicht gar doch zu intime Richtung; er lehnt auch im italienischen Ferienclub lieber "neben einer angeblichen Jurastudentin" an der Bar, während seine frisch gebackene Ehefrau Gerhild "im Schatten am Pool" liegt und so tut, als würde sie lesen, obwohl sie über die ersten drei Sätze von "Wenn Frauen zu sehr lieben" nicht hinauskommt.

Dieses "Wenn Frauen zu sehr lieben" markiert einen zentralen Impetus von Verena Carls neuem Roman, der sich auf 31 Kapitel verteilt und einen zunehmend den Eindruck gewinnen lässt, dass (wenn man sich in der Liebe verbeißt) einem eher seltener die erhofften, großen Glücksmomente als vielmehr unliebsame, schmerzvolle Erfahrungen blühen.

Aus Sicht von Tochter Lola, die vier Wochen nachdem der gleichnamige Song "von den Kinks in die deutschen Charts eingestiegen" ist, auf die Welt kommt und diese Geschichte erzählt und dabei tief in den Fundus der 1980er-Jahre greift, finden die Liebesstationen der Mutter keine wirklichen Sublimierungen. Ihre Beobachtungen fallen nüchtern und kritisch aus. Lola entgeht kaum was. Sie legt auch ausführlich Zeugnis ab über die eigenen Befindlichkeiten in Sachen Aufwachsen und Verliebtheit und fördert gar manch interessante Details ans Licht. Darunter die Offenbarung, dass Frau Eberleins Sohn Stefan ein gewissenhafter Küsser ist, der "seine Zunge erst ein paar Mal links, dann ein paar Mal rechts" um Lolas Zunge herum rotieren lässt, während ihr dabei relativ leicht die Vorstellung gelingt, "er sei ein anderer." Denn auch wenn die Nachmittage mit ihm, der zwar "die falschen Hosen" trägt und Pickel im Gesicht hat, ganz nett sind, so werfen sie trotzdem "nicht genug ab, um daraus neue Träume zu machen".

Im Grunde ist dieser Junge bloß Lückenbüßer für den, der nicht zu erreichen ist, nämlich Schriftsteller Anton Olbricht. Aber der hat dreißig Jahre mehr auf dem Buckel, bevorzugt andere Frauen (darunter kurzfristig sogar die eigene Mutter) und nimmt Lola wegen ihres Teenageralters nicht wirklich ernst. Und dann bekommt "die schönste Frau Freiburgs" ein Kind von ihm! Schlimm! Aber Lola gibt nicht auf, auch wenn sie sich wegen ihres "speckigen Bauches", den "strähnigen Haaren und [...] runden Wangen" alles andere als schön genug fühlt und in einer Welt, die "jeden Tag explodieren" kann, das Warten auf den Mann der Träume nicht unbedingt zur leichtesten Übung gerät. Doch sie mobilisiert all ihre Vorstellungskraft. Und so ist es nie sie selbst, sondern "Anton, der durch die verstopften Straßen Freiburgs irrt, [...] auf seinem letzten Weg, seinem Weg" zu ihr.

Aus dieser Imagination nährt sich (und damit ist Lola konsequenter als ihre Mutter) auch ihre Überzeugung, "in ein paar Jahren die Frau an seiner Seite" zu sein.

Und wo eine Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg. Wohin er Lola zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr führt, ob an den Schlichsee oder ins "Zorba the Buddha", eine Diskothek, in der sie viele Abende verbringt, "ohne mit einem Menschen zu sprechen", schildert Verena Carl facettenreich und flüssig. Sie leuchtet den zeitgeschichtlichen Hintergrund, die Schauplätze und deren meist links-alternatives Personal akribisch aus und beschreibt mit Verve und einem Humor, dessen angenehme Trockenheit der Geschichte sympathische Schwingungen verleiht.

Angelehnt an das Leitmotiv des Romans: "Man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück", besucht Lola zwanzig Jahre später eine Lesung Anton Olbrichts, auch wenn sie seine Romane "gar nicht" mag, weil sie ihr "zu geschwätzig" sind. Aber schließlich ist da ja auch die Hoffnung oder vielmehr Neugier, in einem von Antons Texten aufzutauchen.

Während sie sich von seinem Vortrag berieseln lässt, gleiten ihre Gedanken zurück ins Freiburg der 1980er-Jahre, wo es noch Frauenpartys gegeben hat "mit Flaschenbier und Platten mit wütendem Frauengesang", wo man auf Demos gegangen ist "für Frieden und gegen Aufrüstung, für Ökologie und gegen Neokolonialismus, für Anarchie und gegen den internationalen Monopolkapitalismus, den Staat und seine Werkzeuge" und wo man angesichts einer drohenden Apokalypse, die sich via Giftgaswolke in Bhopal und Reaktorunglück in Tschernobyl anzukündigen scheint, nächtelang über "Selbsttötungsabsichten" philosophiert, aber damit im Grunde nichts erreicht, außer dass man die eigenen (heimlich mitlauschenden) Kinder verschreckt.

Aber "Schiss haben vor ein paar Regentropfen" ergibt genauso wenig Sinn wie in pubertärer Liebesverirrung die große Liebe zu proklamieren. Der 17jährigen Lola bringt es schlussendlich nur dieses Gefühl, "als gähnte mitten in (ihrem) Körper ein Hohlraum, der sich niemals wieder schließen würde".

Aber ja doch! Irgendwann ist auch die Pubertät mal vorbei, - und dann schließt sich wieder alles. Doch ehe man es sich versieht, geht es wieder von vorne los. Wie das mit der Liebe eben so ist.


Titelbild

Verena Carl: Irgendwie irgendwann. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
300 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783821858258

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