Das weibliche Ich in der Krise bei Robert Musil

Das weibliche Ich in der Krise

Von Elisabeth HoluschaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Holuscha

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marja Rauch stellt die Werke von Robert Musil in ein neues Licht. Ihr Fokus liegt auf der Identitätsbildung des Ich(s) in der Moderne, wie sie selbst sagt, möchte sie die potentiellen Möglichkeiten bei Musil untersuchen, "[...] die das erschütterte Ich der Moderne aus seiner krisenhaften Erfahrung in eine Einheit mit sich führen sollen". Für diese Analyse bilden drei Prosatexte die Grundlage: "Vereinigungen", "Drei Frauen" und "Der Mann ohne Eigenschaften". Diese Textzusammenstellung ist in der Forschung eher ungewöhnlich. Aber mit einer stichhaltigen Analyse kann Rauch zeigen, dass die "[...] doppelte Bewegung von Selbstverlust und dem Versuch einer neuen Selbstgewinnung bei Musil [...]" ein verbindendes Moment dieser Auswahl darstellt.

Was die "Vereinigungen" anbelangt, so zeigt Rauch, dass Claudinde in "Die Vollendung der Liebe" zwar den Versuch unternimmt, in der Untreue die Vollendung der Liebe zu ihrem Mann zu verwirklichen, dass sie aber mit diesem Unternehmen scheitert. Ähnliches wird für die zweite Novelle "Die Versuchung der stillen Veronika" festgestellt. Rauch attestiert beiden Novellen: "Den Protagonistinnen ist die Welt und ein Ausweg aus der Ichkrise verschlossen". Damit wendet sie sich von Anfang an ihrer zentralen These zu. Aber es wird noch eine weitere wichtige Feststellung gemacht: "Eine Besonderheit des Musilschen Textes liegt darin, daß er diese Ichkrise aus der Binnenperspektive der weiblichen Figuren darstellt". Auf einschlägige Literatur der gender studies wird im Rahmen dieser Arbeit nicht Bezug genommen. Einzig das Buch von Judith Butler "Das Unbehagen der Geschlechter" findet Erwähnung. Allerdings nur in der Einleitung, um eine Absage an Butler zu erteilen. Rauch schreibt: Der Ansatz von Butler tendiere zu einer "[...] Mystifizierung der Geschlechterverhältnisse, die trotz ihres kritischen Anspruches zu wenig Differenzierungen fähig ist". Ganz anders als in den Texten der "Vereinigungen" sieht es dagegen bei den "Drei Frauen" aus. Es findet ein Perspektivenwechsel von Frau zu Mann statt. Hier "[...] kommt den Frauen die Aufgabe zu, einen Katalysator für die Krisenerfahrung ihrer männlichen Gegenüber darzustellen".

Rauch versteht die drei Novellen als eine Einheit von Texten, die alle die mystische Komponente der Frau betonen. In anderen Worten: die Frau als Buch mit sieben Siegeln, wie sie öfter von Männern empfunden wird. Dabei greift Musil auf die Darstellung von klischeehaften Frauenrollen zurück, wie es bei den "Vereinigungen" und dem "Mann ohne Eigenschaften" nicht der Fall ist: Grigia ist Personifizierung der Natur, die Portugiesin steht für das Mystische und Tonka für das Naive. Alle drei verbindet das Moment der Ichkrise, diesmal aus der männlichen Sicht geschildert. Allerdings scheitern auch die Männer. Der Text "Die Portugiesin" allerdingst bildet eine Ausnahme, gesteht die Autorin zu: "Sie ist die einzige der drei Novellen in der die Protagonisten [...] zusammenfinden".

Bei ihrer Interpretation von Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" konzentriert sich Rauch auf die Figur von Clarisse und Agathe und deren jeweilige Beziehungen zu Ulrich. Hinzu kommt bei der Figurenkonzeption von Clarisse der starke Einfluß von Nietzsche und der Vergleich zu der Figur Veronika aus den "Vereinigungen". Die Beziehung der Geschwister, die sich immer am Rande des Inzests bewegt, stellt für Rauch eine Möglichkeit dar, in den von Musil so begehrten, "anderen Zustand" zu gelangen. Rauch verfolgt die Entwicklung der beiden und stellt fest: "Das Verhältnis der Geschwister steht im Mann ohne Eigenschaften paradigmatisch für eine Vereinigung ein, die das Ungenügen einer Trennung der Geschlechter in einer erotisch und mystischen Einheitserfahrung aufzuheben sucht". Eine weitere Raffinesse an dieser Beziehung ist die Suche nach einer neuen Moral. Die Frage ist allerdings, ob dies den Geschwistern gelingt. Rauch verneint sie, sie vertritt die Ansicht, dass das Ich auch in dieser Konstellation nicht aus seiner Krise herausfindett. Die Autorin macht zwar Zugeständnisse, indem sie sagt: "Das inzestuöse Verhältnis, [...], führt sie in die mystische Erfahrung des anderen Zustandes, in dem die Grenzen zwischen Ich und Welt sich aufzulösen beginnen". Allerdings kritisiert sie, dass die neue Moral nach der die Geschwister zu leben versuchen, eine rein private Angelegenheit sei und damit keine Allgemeingültigkeit haben kann. Daher geht sie davon aus, dass Musil nicht Lösungen der Problematik, der Dichotomie von Ich und Welt, darstellen wollte, sondern das Problem der Ichkrise in der Moderne.

Diese These wird im ganzen Buches verfolgt und besticht durch ihre Klarheit in Ausdruck und Gliederung. Die Arbeit gibt zusätzlich einen sehr guten Eindruck über den Stand der Forschung. Dazu vertritt Rauch eine kritische Position gegenüber den Werken von Musil und ist sehr um einen differenzierten Standpunkt bemüht. Dies alles führt zu dem Prädikat: Besonders empfehlenswert.

Titelbild

Marja Rauch: Vereinigungen.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
200 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 382601801X

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