Die Zukunft der Aufklärung

Lucian Hölschers Geschichte der Zukunft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das finstere Mittelalter hatte keine Zukunft. Die gehörte der heraufdämmernden Aufklärung. Zu diesem Aperçu ließe sich die grundlegende These Lucian Hölschers verdichten. In seinem Buch "Die Entdeckung der Zukunft" behauptet er, Zukunft als "einheitlicher geschichtlicher Zeitraum" sei eine dezidiert moderne Vorstellung und ein Kind der Aufklärung. Im Mittelalter hingegen habe es sich nicht um "'zukünftige' Ereignisse im modernen Sinne des Wortes" gehandelt, wenn von "Zukünftigem" die Rede war. Das ist insofern zunächst keine sonderlich sensationelle Feststellung, als Wörter überhaupt im Laufe der Zeit einem Bedeutungswandel unterliegen. Hölscher meint jedoch etwas anderes: dass es vor der Aufklärung den modernen Begriff von Zukunft noch nicht geben konnte, weil er der Erfahrungswelt der Menschen im europäischen Mittelalter nicht entsprochen habe und ihnen daher die Fähigkeit gefehlt habe, sich selbst in eine "Zukunft hineinzuentwerfen", die nicht bloß die Wiederholung immergleicher Zyklen ist. Unsere vertraute Vorstellung dessen, was Zukunft ist, sei also keine anthropologische Konstante, sondern vielmehr eine "historisch spezifische Denkweise".

So überzeugend diese Hypothese auch ist, so sehr verfängt sich Hölscher doch immer wieder im Detail. So hat ihm zufolge das Mittelalter plötzlich nicht mehr einen anderen, sondern gar keinen Begriff von Zukunft, was sich leicht widerlegen lässt, wenn man die "Sächsische Weltchronik" aufschlägt:

"Ich han mich des wol bedacht:

diz buch ne wirt nimmer vollenbracht,

de wile diu werlt stat:

so vile wirt kunstiger dat des mus diu rede nun bliven

ich ne kan nicht scriven

daz noch gescen sol"

Diese Chronik entstand um 1230 und markiert den Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Interessant ist, dass Hölscher gemeinhin die Entstehung des modernen Zukunftsbegriffs zwar in die Aufklärung datiert, an einer Stelle jedoch bereits ins 13. Jahrhundert und somit in den Beginn des Spätmittelalters verlegt, den Entstehungszeitraum eben der "Sächsischen Weltchronik".

Irreführend ist, wenn er mit großem Gestus verkündet, "manche Sprachen, wie etwa das Deutsche" hätten "im Mittelalter noch nicht einmal über die Zeitform des Futur" verfügt. Tatsächlich behalf sich die deutsche Sprache des Mittelalters, wie wiederum die "Sächsische Weltchronik" zeigt, mit Hilfsverbe. Sie unterscheidet sich insofern nicht von den heute gebräuchlichen Neuhochdeutschen. Zudem wird gegenwärtig ebenso wie wohl auch damals in der Alltagssprache meist einfach das Präsens gesetzt, wenn Zukünftiges gemeint ist: "Morgen lese ich ein Buch" etwa. Solche Sensatiönchen entpuppen sich also als Effekthascherei.

Ungenau ist die pauschalisierende Behauptung, der "Zeithorizont des naturwissenschaftlichen Weltbildes" habe sich bis zu Beginn des gerade vergangenen Jahrhunderts kontinuierlich erweitert. Ganz beiläufig lässt der Autor hier Immanuel Kant unter den Tisch fallen, der nach Hölschers eigener, dem Buch angehängter Zeittafel, sowohl das Alter des Weltalls als auch dessen Dauer als unendlich bezeichnet hat. Dagegen nehmen sich doch sogar die paar Milliarden Jahre, von denen heutzutage ausgegangen wird, verhältnismäßig kurz aus. Aber auch Hölschers Zeittafel ist nicht ganz korrekt, schreibt Kant doch in seiner "Allgemeine[n] Naturgeschichte und Theorie des Himmels", auf die der Autor an anderer Stelle Bezug nimmt, die Schöpfung habe "zwar einmal angefangen", doch werde sie "niemals aufhören". Folglich kann - nach Kant - das Weltall nicht unendlich alt sein. Überhaupt steht Hölscher mit dem Transzendentalphilosophen nicht auf sonderlich gutem Fuß: Kant habe, so der Zukunftsforscher, gemeinsam mit Newton die Vorstellung begründet, die Zeit sei ein "leerer, absoluter Zeitraum". Nun ist es aber gerade der die alte Metaphysik zermalmende Clou der transzendentalen Ästhetik, dass die Zeit nicht ein Zeitraum, sondern eine Anschauungsform a priori ist.

Solche Ungenauigkeiten und Unschärfen ließen sich noch einige mehr aufzählen, und man könnte dabei leicht übersehen, dass die zentralen Überlegungen des Autors zum modernen Zukunftsverständnis nicht nur tragfähig sondern durchaus erhellend sind. Auch wenn es ihm nicht gelingt, sie ohne weiteres transparent zu machen, so kann man doch mit einiger Mühe folgende sinnvolle Differenzierungen dessen herauspräparieren, was Zukunft Hölscher zufolge heute ist: Zunächst einmal ist sie zu unterteilen in ihren Begriff und in das, was mit ihm gemeint ist. Letzteres wiederum unterteilt sich in eine 'objektive', tatsächliche und in eine subjektive, erwartete Zukunft. Erstere, so darf man annehmen, hat es immer gegeben, auch im Mittelalter schon, selbst wenn die Menschen damals keinen Begriff von ihr hatten. Die subjektive Zukunftsvorstellung unterteilt sich wiederum: Einerseits als philosophische in das, was Zukunft 'an sich' sei, etwa ein Konglomerat zusammenhangloser, eigentlich singulärer Ereignisse, ein sich stets um die eigene Achse drehendes Rad der Zeit, welches die ewige Wiederkehr des Immergleichen garantiert, oder vielleicht eine an eine Kausalkette gereihte Abfolge von Ereignissen, die möglicherweise sogar sinnvoll auf ein Telos hinauslaufen; andererseits als historische in das, was die Zukunft an konkreten Vorkommnissen bieten mag, den endlichen Zusammenbruch des Kapitalismus und das Aufkommen der kommunistischen Weltrevolution, das Ende der Geschichte oder vielleicht doch völlig unvorhersehbare Ereignisse. Quer zu dieser Einteilung liegt eine andere, die zwischen erstens individueller, biographischer Zukunft, zweitens historischer und drittens naturgeschichtlicher unterscheidet.

Auch wenn es Hölscher nicht gelingt dieses "Schema" deutlich herauszuarbeiten, sondern er es im Gegenteil immer wieder vernachlässigt und die einzelnen Ebenen nicht scharf trennt, handelt es sich doch gerade bei ihm um das wichtigste und innovativste Moment seines Buches.

Titelbild

Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1999.
262 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3596601371

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