Mitten ins Zentrum der Hölle

Zu Sima Vaismans Erinnerungsprotokoll über Auschwitz

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Acht Tage, so schreibt Éliane Neiman-Scali in einer biografischen Notiz über Sima Vaisman, acht Tage nach ihrer Befreiung durch US-amerikanische und dann durch sowjetische Truppen hätte ihre Großtante ihre Erinnerungen an Auschwitz niedergeschrieben, um anschließend nie mehr über diese grauenvollste Phase ihres Lebens zu sprechen. Und tatsächlich liest sich das gut 60 Seiten lange Protokoll als ein unmittelbares Zeugnis des schlimmsten Verbrechens, das je geschah. Aber bei der Lektüre fällt auch auf, dass die Erzählerin selbst seltsam abwesend ist. Es scheint, als ob sie das "fremdartige, in seiner Ungeheuerlichkeit unwirkliche Leben" nur dadurch zu beschreiben und zu ertragen vermag, indem sie trotz gelegentlicher gefühlsbetonter Äußerungen stets Distanz zu den mehr als schmerzhaften Erlebnissen wahrt.

Vielleicht hängt diese Vorgehensweise auch mit ihrem Beruf zusammen, der einen gewissen sachlich-kühlen Umgang mit dem täglich Erlebten einfordert. Schließlich war Sima Waserman-Vaisman Ärztin. 1902 wurde sie in Bessarabien geboren, ging dann nach der Schule in die rumänische Hauptstadt, um Medizin (Gynäkologie) zu studieren und verließ ihre Heimat, um in Paris zu leben. Da sie nicht die finanziellen Mittel besaß, um in Frankreich auf die Universität zu gehen, arbeitete sie als Dentistin. Mit 28 Jahren heiratete sie Pinkas Vaisman, der 1937 im Alter von nur 33 Jahren starb. Ihre Ehe blieb kinderlos. Bei Kriegsausbruch 1939 flüchtete die Witwe nach Lyon, wo sie jedoch aufgrund der antijüdischen Gesetzgebung der neuen Vichy-Regierung nicht in ihrem Beruf arbeiten durfte. Immerhin konnte sie sich bis Ende Dezember 1943 mit Hilfe falscher Papiere dem Zugriff französischer und deutscher Stellen entziehen, wurde aber dann verhaftet, der Gestapo in Lyon übergeben und anschließend nach Drancy überführt, von wo sie Ende Januar 1944 nach Auschwitz deportiert wurde.

Und an dieser Stelle setzt Sima Vaismans Erinnerungsprotokoll ein. Sie schildert die dreitätige Bahnfahrt in Richtung Oberschlesien: "Auschwitz, Land des Todes... Das ,große Los' ist gezogen, wir müssen uns fügen und durchhalten, durchhalten um jeden Preis." Es ist dieser Wille zum (Über-)Leben, der der jungen Frau die Kraft gibt, das Ungeheuerliche und Unmenschliche im "Zentrum dieser Hölle" zu ertragen. Dabei wird ihr bereits kurz nach der Ankunft bewusst, dass es sich in diesem Fall nicht, wie versprochen, um ein Arbeitslager handelt, sondern um einen Ort des Todes - um eine Vernichtungsmaschinerie.

Freilich hatte Sima Vaisman großes Glück. Der sofortigen Ermordung entkam sie durch die Suche der SS nach neuen, gesunden Ärzten für die Massen von Kranken. Doch wurde ihr gleichzeitig auch bewusst, dass damit ein anderes, langsames Sterben einsetzt. Wie alle anderen der persönlichen Habe beraubt, wurden ihr die Haare geschoren und sie mit ärmlichen Lumpen bekleidet: "Das Sträflingsdasein beginnt." Hausen musste man in einer Art Kaninchenkäfig, den sich gleich mehrere teilten. Bewacht wurden die jüdischen Frauen von Mithäftlingen, den so genannten "Stubowas", denen wiederum eine "Blockowa" vorstand. Der Tag begann um vier in der Frühe. Nach endlosen Appellen wurden Straßen gebaut, Erdarbeiten durchgeführt und Steine geschleppt. Und immer dabei: SS-Leute mit Hunden, die nur darauf warteten, dass jemand vor Müdigkeit umfiel.

Dabei drohte der Tod auch von anderer Seite. Nicht nur Erschöpfung durch schwere Arbeit, sondern auch Krankheiten wie Typhus oder Tuberkulose, Krätze oder Lausbefall und Hunger aufgrund mangelhafter Versorgung mit Lebensmitteln sorgten für ein noch größeres Massensterben. Einige, die dieses Elend und die Erniedrigungen nicht mehr länger aushalten konnten oder wollten, warfen sich in den elektrischen Stacheldraht, der das Lager umgab. Und im Hintergrund rauchten Tag und Nacht die Schornsteine der Krematorien.

Wie, fragt man sich immer wieder während der Lektüre, kann ein Mensch diese Hölle auf Erden - denn nichts anderes war Auschwitz mit seinen vielen kleinen Außenlagern wie Birkenau, Babitz, Raisko, Plawy, Harmense, Budy und Monowitz - einigermaßen unbeschadet so überstehen, wie es Sima Vaisman gelungen ist? Es fällt nämlich auf, dass sie kein einziges Mal in ihrem Erinnerungsprotokoll über sich selbst schreibt. Nur an einer Stelle äußert sie sich über ihre "Motivation", am Leben zu bleiben: "Nichts als der Haß gibt uns die Kraft, die Hoffnung, vor unseren eigenen Augen das Naziregime stürzen zu sehen, die Hoffnung, daß wir eines Tages der Welt der Lebenden helfen werden, die Rückkehr dieser Verbrechen zu verhindern!"

Vielleicht auch, um nicht die eigenen Gefühle offenbaren zu müssen, konzentriert sie sich auch in der Folge auf die genaue Beschreibung der katastrophalen hygienischen Verhältnisse im "Revier" von Birkenau, wo sie drei Wochen nach ihrer Ankunft die Tätigkeit als Ärztin aufnehmen musste. Infektionskrankheiten und Wahnsinnsanfälle, Mangel an Medikamenten und an Nahrungsmitteln waren hier an der Tagesordnung. Dabei zeigt sie mit ihrem Protokoll auf, dass nicht nur im KZ Auschwitz selbst, wo täglich viele Züge aus allen Teilen des besetzten Europa - im Jahre 1944 insbesondere aus Ungarn - ankamen und deren Insassen sofort selektiert und ermordet wurden, Gnadenlosigkeit und Unmenschlichkeit herrschte. Diese finden sich in allen anderen Lagern, so auch im "Krankenbau" - euphemistisch für "Todesbau" -, in dem Sima Vaisman arbeitete. Immer wieder erschienen SS-Ärzte und bereiteten mit ihren Untersuchungen Angst und Schrecken, da diese fast immer das Todesurteil bedeuteten. Und auch unter den Häftlingen selbst herrschte ein Kampf ums Überleben - um Lebensmittel, Medikamente, Kleidung und Arbeit. Da blieb kein Mitgefühl, kein Mitleid mit den anderen.

Und so vergingen diese grauenvollen Tage, bis eines Tages die Meldung in Umlauf kam, dass die Russen im Anmarsch auf Auschwitz seien. Große Hoffnungen wurden auf die sowjetischen Truppen gesetzt. Doch längst hatten die SS-Mannschaften entsprechende Maßnahmen ergriffen, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen: Fieberhaft wurde ab Mai 1944 an der Kanalisation gearbeitet, Waschbecken und WCs installiert, die Blöcke geweißt und Böden aus Zement hergestellt. Erst kurz vor der Befreiung wurden dann noch Ordner voller Akten mit Beweismaterial vernichtet.

Die überlebenden Häftlinge schließlich mussten im tiefsten Winter tagelange Fußmärsche in Richtung Westen auf sich nehmen, wobei wiederum viele vor lauter Erschöpfung umkamen. Sima Vaisman überstand auch dies und erreichte das KZ Ravensbrück, wo sie später von alliierten Truppen befreit wurde. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich schrieb sie ihre Erinnerungen nieder und schickte den Text an die Bibliothek der Universität von Tel Aviv. Danach schwieg sie. Erst dem französischen Rechtsanwalt und Historiker Serge Klarsfeld gelang es, sie von der Publikation zu überzeugen, die schließlich 1990 erfolgte. Und erst zu diesem Zeitpunkt erfüllte sich eigentlich der Wunsch der 1997 verstorbenen Ärztin: Sie, die KZ-Überlegende, hatte vor anderen Zeugnis abgelegt über die grauenvollen Erlebnisse. Und das besser als jeder andere, denn so schreibt sie an einer Stelle: "Kein Schriftsteller, kein Dichter könnte jemals dieses Leben beschreiben".


Titelbild

Sima Vaisman: In Auschwitz. Das Protokoll einer jüdischen Ärztin nach der Befreiung.
Übersetzt aus dem Französischen von Daniele Raffaele Gambone.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2008.
96 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783940357083

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