"Kraft tausend unsichtbarer kleiner Schwingen"

Der von Heinz Härtl herausgegebene Band "Der Schuster Flink" versammelt vermeintlich neue Texte von Johann Peter Hebel

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamin, gewiss nicht verdächtig, ein unkritischer Leser gewesen zu sein, rühmte an Johann Peter Hebel - und ihn dabei gegen Adalbert Stifter absetzend - unter anderem, "daß dieses Werk, sage ich, kraft tausend unsichtbarer kleiner Schwingen sich über einem großen Abstand schwebend hält. Dem Abgrund zwischen Hebels Zeit und seiner Landschaft. Zeitgenosse der großen französischen Revolution, von allen Geisteskräften der Epoche auf das Entschiedenste und Radikalste ergriffen, ist er doch immer der süddeutsche Kleinstädter geblieben, der als eingezogener Junggeselle und als Hofprediger des Großherzogs von Baden in den eingeschränktesten Verhältnissen nicht nur zu leben, sondern sie zu vertreten hatte. [...] Das hat ihn aber daran nicht gehindert, für Großes und Kleines den rechten Sinn zu behalten, und wenn er auch niemals anders als im Tiefsten verschränkt und verschachtelt beides zugleich hat aussprechen können, so war sein Realismus darin immer stark genug, von jenem Mystizismus des Kleinen und Kleinlichen ihn zu behüten, der manchmal Stifters Gefahr wurde." Und - wiederum mit Blick auf Stifter - rühmt Büchnerpreisträger Arnold Stadler in unseren Tagen Hebel als "frommen Heiden", dessen "Heimat die Welt" und dessen "Unternehmen es war, sich über die Sprache Klarheit zu verschaffen".

Solcherart Hebel-Lob im Ohr, respektive im Gedächtnis, sind die Erwartungen nicht gerade klein, wenn der Göttinger Wallstein Verlag "Unbekannte Geschichten" von Johann Peter Hebel vorlegt, die zudem im Klappentext "als kleine Sensation" angekündigt werden und mit Daniel Kehlmann einen prominenten Vorwortverfasser und Heinz Härtl einen angesehenen Kenner der Literatur des 19. Jahrhunderts als Herausgeber aufweisen. In seinem Nachwort bemerkt Härtl zu Recht: "Die kurzen Geschichten sind lakonisch erzählt."

Von jenem eingangs zitierten Spannungsbogen, den Benjamin, wie Härtl am Ende seines Nachworts bemerkt, im Bild des sich kreuzenden "Bischofsstabs und der Jakobinermütze" charakterisiert, zeigt sich in den Geschichten nicht allzu viel. Ebenso wenig ist von der angeblichen "stilistischen Eigenart" Hebels, die Kehlmann in seinem Vorwort geradezu beschwört, zu spüren. Das schmale Bändchen bringt in zwei Abteilungen zum einen zwanzig Texte aus dem "Provinzialblatt der Badischen Markgrafschaft" aus dem Jahr 1805, aus einer Zeit also, als Hebel erst wenige Texte für den "Badischen Landkalender" verfasst hatte, und in einer zweiten Abteilung fünf Erzählungen aus dem Berliner "Preussische[n] Volksfreund" von 1842. Letztere sind als Hebel-Texte gekennzeichnet, während der Herausgeber für die Texte der ersten Abteilung eingestehen muss, dass es keine definitiven Indizien für die Authentizität als frühe Hebel-Texte gibt. Bekannt sind "Franziska", im "Rheinländischen Hausfreund" publiziert, und "Herr Charles", 1819 im Almanach "Rheinblüten" veröffentlicht. "Die drei anderen Stücke, darunter ,Der Schuster Flink', nach dem das Bändchen benannt ist, gehören nicht zum Textkanon Hebels. Sprache und Gestaltung sind deutlich unter dem Niveau, das von Hebel zu erwarten wäre", weist Adrian Braunbehrens mit starken Argumenten die Autorschaft Hebels in den meisten Fällen zurück.

Alles in allem bleibt also ein äußerst zwiespältiger Eindruck dieses schmalen "Hebel"-Bändchens zurück. Die im Klappentext versprochene "kleine Sensation" bleibt aus. Von einem Hebel, der, wie Arnold Stadler in seinem Essay über dessen Gedicht "Die Vergänglichkeit" feststellt, selbst ein "Fall der Vergänglichkeit" ist, von dem gerühmten "frommen Heiden" ist in diesen Texten jedenfalls nichts zu finden. Insofern scheint das Fazit des Textes "Baumzucht. Bequeme Art, große Bäume zu verpflanzen", auch auf diese "Hebel"-Sammlung zu zutreffen: "Auf diese Weise sind durch wenige Menschen oft Bäume [...] versetzt worden, die, wenn man sie mit dem gefrornen Erdballen hätte verpflanzen wollen, einen großen Aufwand von Kräften würde erfordert haben."


Titelbild

Johann P. Hebel: Der Schuster Flink. Unbekannte Geschichten.
Herausgegeben von Heinz Härtl.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
90 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302785

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch