Der deutsche Sokrates
Shmuel Feiner über den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und die Probleme seiner Zeit
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Moses Mendelssohn beginnt die deutsch-jüdische Geschichte der Moderne. Seine Gestalt begleitet das emanzipationswillige deutsche Judentum durch das 19. Jahrhundert hindurch bis ins nachfolgende katastrophale Säkulum. Seine jüdischen und christlichen Verehrer schrieben ihm die Rolle zu, die Juden aus der alten Welt des "Ghettos" herausgeführt zu haben in die soziale Integration und kulturelle Ordnung ihrer deutschen Umwelt bei gleichzeitiger Schwächung der traditionellen Verpflichtung gegenüber Religion und Gemeinde. Für den jüdischen Historiker Heinrich Graetz spiegelt Mendelssohns Biografie die gesamte jüdische Geschichte der Neuzeit wider. Obwohl Mendelssohn nicht studiert und nie ein öffentliches Amt bekleidet hatte, erwarb er sich schnell den Ruf, ein "deutscher Sokrates" zu sein. Der protestantische Prediger Daniel Jenisch sah in ihm sogar einen "jüdischen Martin Luther".
Shmuel Feiner, Professor für jüdische Geschichte an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan/Israel und einer der bedeutendsten Erforscher der Haskala, der jüdischen Aufklärung, beschreibt in seinem Buch "Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung" Aufstieg und Erfolg des deutsch-jüdischen Philosophen, der am 6. September 1729 in Dessau das Licht der Welt erblickt hatte, und seinem Lehrer, dem Rabbiner David Fränkel, schon in jungen Jahren nach Berlin folgte. Hier entwickelte er sich zum herausragenden Repräsentanten einer nichtrabbinischen jüdischen Elite, die die Grenzen der religiösen, auf Tora, Synagoge und Lehrhaus beruhenden Bildung sprengte und ihre Tätigkeit in einem neuen, säkularen Umfeld von Philosophie und Literatur entfaltete, getreu dem Ideal des Maimonides, dass es die Pflicht des Menschen sei, mit Hilfe seines Verstandes nach Vollkommenheit, nach Erkenntnis der Wahrheit und nach der Erkenntnis Gottes zu streben.
Beeinflusst haben Mendelssohn, so führt Feiner aus, vor allem John Lockes "Versuch über den menschlichen Verstand" und Gottfried Wilhelm Leibniz' optimistische Lehre von der "besten aller möglichen Welten". Eng befreundet war er zudem mit dem Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai und mit Gotthold Ephraim Lessing, in dessen "Nathan der Weise" die Freundschaft der beiden ihren literarischen Niederschlag fand. Genau verfolgt der Autor die einzelnen Stationen im beruflichen und privaten Leben des jüdischen Philosophen, seine Kontroversen mit dem Orientalisten Johann David Michaelis und dem Schweizer Theologen Johann Caspar Lavater, bei denen er nicht umhin konnte, das Judentum gegen das Christentum zu vertreten und zu verteidigen. Auch stellt Feiner heraus, in welchen Punkten Mendelssohn mit Christian Wilhelm von Dohm, der 1781 "die bürgerliche Verbesserung der Juden" gefordert hatte, nicht konform ging. Er porträtiert Mendelssohn als gesetzestreuen Juden, der in seinem vielseitigen Werk eine vergleichsweise optimistische Philosophie vertrat, die die guten Eigenschaften, das Potential des Lebens und die göttliche Barmherzigkeit rühmt und dem Leben eines rechtschaffenen, gläubigen Menschen Bedeutung verleiht.
Die Wirklichkeit des jüdischen Lebens sah allerdings damals noch anders aus. Sie blieb eingeschränkt und war oft unerträglich, selbst im Preußen des angeblich toleranten Friedrichs II. Deutlich werden auch die Dilemmata, die sich aus der Konfrontation der Juden mit der Moderne ergaben. War doch die sich abzeichnende Veränderung der traditionellen jüdischen Kultur, die bis dahin fast ausschließlich von der rabbinischen Elite beherrscht war, manchen überzeugten Juden, insbesondere den Rabbinern und den Orthodoxen, ein Dorn im Auge. Eine Philosophie, die nicht auf der Tora beruhte, erschien diesen Juden als Tor zur Ketzerei. Daher war für die einen Moses eine historische Ikone, für andere dagegen ein Dämon und Rebellenführer.
Als liberaler Kämpfer der Aufklärung hatte Mendelssohn, so Feiner weiter, religiösem Fanatismus, politischer Unterdrückung und Aberglauben im Namen der Vernunft den Kampf angesagt. Doch fühlte er sich, da er auch empfindsam und verletzlich war, gegenüber den "Gespenstern", wie er Vorurteile, erstarrte Traditionen, Zwang und Unterdrückung bezeichnete, schwach und hilflos und hatte nicht selten, gerade gegen Ende seines Lebens, das bittere Gefühl, dass die Aufklärung zum Scheitern verurteilt sei.
Aber nicht nur diese Unstimmigkeiten bereiteten Mendelssohn Kopfzerbrechen und Verdruss, auch antijüdische Zwischenfälle, von denen er selbst, obwohl er der berühmteste jüdische Bürger Berlins seiner Epoche war, nicht verschont blieb, wenn er beispielsweise mit seiner Frau und seinen Kindern durch die Straßen Berlins spazieren ging und von Straßenjungen mit hämischen Rufen "Juden! Juden!" und Steinwürfen behelligt wurde.
Sein Tod am 4. Januar 1786 wurde weithin von Juden und Nichtjuden betrauert als Verlust des ersten herausragenden jüdischen Humanisten und Verteidigers des politischen Liberalismus. Immerhin hatte Moses Mendelssohn, zusammen mit seinen Gefährten, unermüdlich für Toleranz und für die rechtliche Gleichstellung der Juden gestritten, die dann in der französischen Emanzipation von 1791 erstmals durchgesetzt wurden. Die damaligen Aufklärer sahen weder in der Religionsausübung noch in den Ritualgesetzen der Juden ein Hindernis für ihre Emanzipation.
Feiners auch für ein breites Publikum verständliche Mendelssohn-Biografie - die hebräische Ausgabe erschien vor drei Jahren - macht auch mit den fundamentalen jüdischen Fragen der damaligen Zeit vertraut und bringt dem Leser die Tragik jüdischer Emanzipationsgeschichte eindringlich und anschaulich nahe.
In seinem Schlusskapitel weist Feiner darauf hin, dass der Mythos von Mendelssohn als einem Helden der deutschen wie der jüdischen Aufklärung nach seinem Tod noch erstarkt sei, dass sich aber das Umfeld, in dem er gewirkt hatte, in schnellem Tempo verändert habe. In der jüdischen Gemeinde Berlins, insbesondere in der Familie Mendelssohn, beschleunigte sich die kulturelle und gesellschaftliche Anpassung an das deutsche Bürgertum. Viele Juden traten zum Christentum über. Die Konversion von insgesamt vier der Mendelssohn'schen Kinder wertet der Verfasser als "eine Ironie der Geschichte".
Festzuhalten bleibt jedoch, dass mit Moses Mendelssohn zum ersten Mal ein Jude in Deutschland das Ansehen einer bekannten und geachteten öffentlichen Person genossen hatte.
Seine Bedeutung liege darin, meint Feiner abschließend, dass er kein naiver Vertreter einer Aufklärung gewesen sei, der an einen notwendigen historischen Prozess geglaubt habe, an dessen Ende unweigerlich der Sieg der Vernunft, des Fortschritts und des Glücks für das Menschengeschlecht stehen müsse. Dazu habe er zu nüchtern gedacht. Auch auf dem Gipfel des Ruhms habe er eine ständige Bedrohung durch Vorurteile, Zwang und Unterdrückung gewittert. Aber die Katastrophe, die dem Judentum dann durch die Nazis bereitet wurde, habe auch ein Moses Mendelssohn nicht voraussehen können.
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