Über das Ausgeliefertsein

Magdalen Nabbs Roman über das Schicksal einer Entführten

Von Jutta KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie reagiert die Familie, wenn eine florentinische Modedesignerin vor der eigenen Haustür entführt wird? Mit der Beantwortung dieser Frage wird der Carabiniere Guarnaccia betraut. Während sein Chef sich den spektakulären Aufgaben des medienwirksamen Falls widmet, soll der Maresciallo Tochter und Sohn der Vermissten beruhigen.

Nicht zum ersten Mal wählt Magdalen Nabb das Thema Entführung für einen Roman. Wie sie bereits mit "Tod im Frühling" bewies, hat sie die Fähigkeit, neben den Motiven eines Verbrechens und dessen Aufklärung, die besondere Aufmerksamkeit des Lesers auf das Opfer zu lenken. In ihrem Roman "Alta Moda" schildert die Autorin die Entführung der Designerin Olivia Birkett aus zwei Perspektiven. Die Handlung wird in einigen Passagen vom Opfer selbst erzählt. So wird der Leser in die Lage versetzt, alle Stadien ihrer Qualen aus nächster Nähe mitzuerleben. Magdalen Nabb gelingt es, das körperliche Leid und den psychischen Druck der Entführten so lebendig wirken zu lassen, als wäre der Leser selbst im italienischen Gebirge brutalen Unbekannten hilflos ausgeliefert. Es ist, als würden dem Leser die Augen mit Klebeband verbunden und die Ohren mit heißem Wachs versiegelt. Der Leser fühlt die Kälte, die Schmerzen und vor allem die Angst der Frau, die durch einen Zufall an Stelle ihrer Tochter entführt wurde.

Die Schilderung der Gefangenschaft wird mehrmals unterbrochen, um von den Geschehnissen im Palazzo Brunamonti, dem Domizil der Designerin und ihrer beiden Kinder zu berichten. Durch Guarnaccia, den Carabinieri, der mit der Betreuung der erwachsenen Kinder beauftragt ist, erfährt der Leser, dass die Lage des Opfers noch sehr viel dramatischer ist als geglaubt. Gemeinsam mit dem Kommissar setzt der Leser kleine Puzzleteile zusammen. Nachdem sich Guarnaccia in der Einschätzung der Geschwister täuschte, bringen kleine Details, Gesten und Gespräche nach und nach die Wahrheit ans Licht. Die Tochter verweigert die Lösegeldzahlung, um die ihre Mutter in einem Brief bittet. Sie vernichtet die Kleidung und persönlichen Gegenstände der Entführten und versucht, den Platz der Mutter in der Firma als auch bei ihrem Lebensgefährten einzunehmen. Dabei entpuppt sie sich als Tyrannin, die bereit zu sein scheint, skrupellos alle Hindernisse zu beseitigen, die sich ihr in den Weg stellen. Zu beobachten, wie aus der Modedesignerin, die aus eigener Kraft die Schulden ihres Ex-Mannes abgezahlt hat und der der verdiente Aufstieg in die italienische Modewelt gelang, eine gebrochene Frau wird, ist schockierend. Um so unfassbarer erscheint die Reaktion ihrer Tochter. Der Roman jagt dem Leser so in zweifacher Hinsicht immer wieder kalte Schauer über den Rücken.

Die Suche nach den Entführern gehen im Verlauf der Handlung in unterschiedlichste Richtungen. Beim Leser sorgt die Frage nach den Verdachtspersonen eher für Verwirrung als Spannung. Ein Kriminalroman lebt vom Mitfiebern, nicht von einer kompliziert konstruierten Handlung. Der Ausgang der Entführung soll nicht vorweggenommen werden. Nur so viel sei verraten: Die Auflösung des Falls scheint sich nicht in die spannenden Entwicklungen der Familienmitglieder einzufügen. Die Autorin legt in den Schilderungen aus Sicht des Opfers großen Wert auf Authentizität, was im Roman eine bedrückende Atmosphäre erzeugt. Der Leser wird durch die psychologischen Vorgänge gefesselt, daher erwartet er, dass der Spannungsbogen sich bis zum Ende erstreckt. Diesem Anspruch kann der Roman in den Passagen der Ermittlungsarbeit des Kommissars nicht gerecht werden.. Magdalen Nabb gibt keine liebenswerten Eigenheiten von ihm preis, deshalb erscheint seine Person bis zum Ende farblos und fremd. Für den Leser, der sich gemeinsam mit dem Kommissar auf die Suche nach dem Täter begibt, bleibt der Charakter seiner Bezugsperson verschwommen.

Dennoch bietet Magdalen Nabbs außergewöhnlicher, weithin spannender und ergreifender Roman ein Leseerlebnis der besonderen Art.

Titelbild

Magdalen Nabb: Alta moda.
Diogenes Verlag, Zürich 1999.
358 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3257062230

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