Der Bruder im Rollstuhl

Jürg Acklins Roman "Vertrauen ist gut"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hoffentlich werde ich nicht falsch verstanden. Ich schreibe nicht, um jemanden anzuklagen, vor allem nicht meinen Bruder, ich lebe gut bei ihm und seiner Frau", bekennt Felix, der Protagonist im neuen Roman des Schweizer Erzählers Jürg Acklin. Der 50-jährige Felix sitzt seit seiner Geburt im Rollstuhl, ist spastisch gelähmt und wird von seinem älteren Bruder, einem leidlich erfolgreichen Schriftsteller, umsorgt. So weit stimmt sogar der autobiografische Hintergrund, denn Autor Jürg Acklin, der seit den 1980er-Jahren auch als Psychoanalytiker praktiziert, kümmert sich seit geraumer Zeit um seinen an den Rollstuhl gefesselten jüngeren Bruder.

Doch der 64-jährige Schriftsteller, der zuletzt den exzellenten Roman "Defekt" (2002) vorgelegt hatte, welcher um zwei in einem Aufzug eingeschlossene Personen kreiste, hat alles andere als einen autobiografischen Text im Sinn gehabt. Acklin spielt mit der Doppelfiktion, mit einer Roman-im-Roman-Konstruktion. Felix schreibt die Manuskripte seines Bruders ab und ertappt sich selbst dabei, wie er Romanfiguren an der Realität misst, wie er die Familie seines Bruders mit dem Handlungspersonal vergleicht. Er wird immer argwöhnischer, sein jahrelang gehegtes Bild von der glücklichen Familie zerbricht, nachdem er immer häufiger Zeuge von heftigen verbalen Auseinandersetzungen wird.

Wo sind die Grenzen zwischen Felix' erlebter Familienrealität und der adaptierten Romanhandlung? Wer hat Frau und Kind an eine fanatische Sekte verloren? Sein älterer Bruder oder doch nur die Romanfigur? Welche Rolle spielt die verschwundene Pistole des Bruders? Ist das angekündigte Massaker literarische Fiktion oder läuft das Leben von Felix' Bruder völlig aus dem Ruder?

Jürg Acklin schildert seine körperlich behinderte Hauptfigur als einen hochintelligenten, hypersensiblen Menschen, als eine Figur mit besonders empfindlichen "Antennen" und stark ausgeprägten Verlustängsten. "Manchmal denke ich, dass er meine Behinderung viel schlechter aushält als ich selbst, weil ich ja nie etwas anderes gekannt habe", bemerkt Felix, dessen Alltag sich als ständiges Changieren zwischen rücksichtsvoller Obhut und latentem Wunsch nach Eigenverantwortung abspielt ("Eines Tages werde ich die volle Verantwortung für mein Leben übernehmen, lieber Bruder!").

Der Autor hält in seiner bekannt knappen, beinahe lakonischen Sprache den Spannungsbogen bis zur letzten Seite aufrecht. Entstanden ist ein doppelbödiger Roman, der gekonnt die Nahtstellen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Versagensängsten ausleuchtet. Ein kleines Meisterwerk zwischen Wahn und Sinn.


Titelbild

Jürg Acklin: Vertrauen ist gut. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2009.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312003648

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