Juwelen des historischen Tanzgedächtnisses
Nicole Haitzingers "Vergessene Traktate - Archive der Erinnerung"
Von Karin Fenböck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie relativ junge wissenschaftliche Disziplin Tanzwissenschaft beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit ihrer Geschichte beziehungsweise einer Historiografie des Tanzes, dessen Wissen nicht nur im Körper-Archiv der Tänzer, sondern auch in speziellen archivalischen Korpora gespeichert werden muss, um im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft verankert werden zu können. Der in den Derra de Moroda Dance Archives in Salzburg gesammelte Korpus an Tanzwissen diente Nicole Haitzinger als Ausgangspunkt für ihre 2004 entstandene Dissertation, die nun unter dem Titel "Vergessene Traktate - Archive der Erinnerung" beim epodium Verlag veröffentlicht wurde.
Vor der Denkfolie der (post-)strukturalistischen Ideenkonzepte Michel Foucaults und Jacques Derridas untersucht Nicole Haitzinger "Wirkungskonzepte im Tanz in historischer Perspektive von der Renaissance bis Ende des 18. Jahrhunderts". Die Autorin, die als Assistentin an der Abteilung für Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg tätig ist, wählte Traktate und Libretti nach ihrer Verbreitung beziehungsweise Rezeption zur Entstehungszeit aus, die tatsächlich zum Teil bisher kaum wissenschaftlich aufgearbeitet wurden. Sie zeigt auf, welche Wirkungen dem Tanz in den jeweiligen exemplarisch dargestellten Werken zugeschrieben werden und welche inszenatorischen Konzepte aus dieser Zuschreibung erwachsen, indem sie die Strukturen analysiert, welche die Tanztraktate bestimmen. Ihre Herangehensweise ähnelt dabei der Struktur der von Haitzinger detailliert beschriebenen Derra de Moroda Dance Archives, die sie als "Kristall des historischen Tanzgedächtnisses" bezeichnet: Dort werden die Bücher in bedeutungsloser Reihenfolge, nach ihrem Hinzukommen, in die Regale gestellt. Haitzinger ordnet ihre Kapitel zwar chronologisch nach Entstehungszeiten der Traktate an, versucht aber dennoch nicht, eine lineare Entwicklung der Zuschreibungen festzulegen. Stattdessen entdeckt sie ebenso wie in der Anordnung der Bücher im Archiv zwischen den Traktaten Freiräume, die durch die integrative Kompositionsmethode ihrer Schreibweise Platz schaffen, Tanzgeschichte mit dem von ihr erarbeiteten Wissen neu zu schreiben.
Es ist deutlich merkbar, dass sich die Autorin in ihrem Denken nicht durch etwaige vorgegebene tanz- oder theaterwissenschaftliche Methoden einengen lässt, sie nimmt sich viel Zeit und Freiheit, um in philosophisch gewundenen Gedankengängen ihre eigene, sehr innovative Herangehensweise an die Traktate zu erarbeiten. Auffällig sind ihre Sprachschöpfungen, die einem ungeübten Leser zwar zunächst Schwierigkeiten bereiten mögen, aber dennoch auf ihre Weise sehr bewegte Bilder der Gedankengänge der Autorin malen. Ein gutes Beispiel dafür ist die oben angeführte Beschreibung der Derra Archives.
Die Autorin zitiert immer wieder lange Textpassagen der analysierten Traktate und Libretti, die eine sehr anschauliche Ergänzung zu ihren eigenen Ausführungen darstellen. Gegliedert wird "Vergessene Traktate - Archive der Erinnerung" durch eine grobe systematische Einteilung in die Kapitel "Symbol" (Mittelalter), "Korrespondenzen" (Renaissance), "Außen-Repräsentation" (17. Jahrhundert) und "Innen-Repräsentation" (18. Jahrhundert) - angelehnt an Foucaults "Ordnung der Dinge".
Nicole Haitzinger ermittelt zwei Modelle von Wirkungskonzepten, die sich immer wieder in den Traktaten finden: Zum einen regulierende Begriffe wie Moral, Sitte, Bildung, die um den Tanz kreisen, und zum anderen das Konzept der Unterhaltung, das vor allem in den Bildquellen zu erkennen ist. Die umfangreiche methodische Erklärung der Einleitung bietet eine gute Basis zum Verständnis ihrer Vorgehensweise.
Das Kapitel "Symbol" unterscheidet sich schon aufgrund der schwierigen Quellenlage notwendigerweise von den anderen: Tanztraktate im engeren Sinn sind aus diesem Zeitraum nicht überliefert. Hier benutzt Haitzinger das Modell von gestus, gesta und gesticulatio des französischen Historikers Jean-Claude Schmitt, um die "energetische Symbolik", die Gesten in Bild- und Textquellen des Mittelalters zugedacht wird, zu analysieren. So dienen ihr unter anderem Labyrinth-Bodenmuster aus Kirchen dazu, das enorme Wirkungspotential einer "Kultur der Geste" zu ergründen, das dem Tanz im Mittelalter zugeschrieben wird.
Die folgenden Kapitel orientieren sich an exemplarisch untersuchten Tanztraktaten wie Domenico da Piacenzas "De arte saltandi et choreas ducendi" (1416), Antonio Coranzanos "Libro dell´arte del danzare" (1455), Samuel Rudolph Behrs "L' Art de bien Danser oder die Kunst wohl zu tanzen" (1713) oder Gasparo Angiolinis "Dissertation sur les Ballets Pantomimes" (1765), dazu Libretti von Balletten wie Baltasar de Beaujoyeulx' "Ballet Comique de la Royne" (1581) oder "Les Fées de forests de Saint Germain" (1625).
So ist auch das Kapitel "Korrespondenzen" als Beispiel für die Vorgehensweise der Autorin hervorzuheben: Besonders interessant ist die Idee der von Haitzinger etablierten Fantasmata, Vorstellungsbilder als strukturelle inhaltliche Elemente der Choreografien, die als so sein wie zusammen mit der Misura als formendes Element den Tanz erst zur Bewegungssprache im Raum machen. Dieses performative so sein wie in den Festspektakeln der Renaissance wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts langsam durch ein theatrales so tun als ob ersetzt. Bis dahin bringt das Zusammenspiel von Klang und Bewegung Tanz hervor, der sowohl als Kunst wie auch als Wissenschaft betrachtet wird.
Haitzinger bietet in "Vergessene Traktate - Archive der Erinnerung" sowohl Studenten der Tanzwissenschaft als auch bereits im Bereich der Kulturwissenschaften tätigen Kollegen neue Zugangsweisen zu bisher vernachlässigten Tanztraktaten. Tanztraktate können das Abwesende - hier der ephemere Tanz - zu etwas Anwesendem machen. Die Autorin zeigt eine Möglichkeit auf, diesem nur in Zeugnissen längst vergangener Epochen anwesendem Tanz-Wissen Ideenmaterial abzugewinnen, das über das bloße lineare Anordnen von sogenannten Fakten hinausgeht. Wirkungskonzepte im Tanz stellen nach wie vor ein vernachlässigtes Arbeitsgebiet dar, Haitzingers Herangehensweise eröffnet ein potentielles Forschungsgebiet neu. In diesem Sinne vermisst man das abschließende Kapitel zum 19. Jahrhundert, das die Autorin bereits in anderer Form veröffentlichte, und das daher in dieser Publikation fehlt.