Von der Unfähigkeit, andere zu betrauern

Philip Gourevitch und Errol Morris dokumentieren die „Geschichte von Abu Ghraib“ – und Judith Butlers Analyse von „Krieg und Affekt“ versucht, diesem Phänomen theoretisch auf den Grund zu gehen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sind solche Grausamkeiten, die uns zuletzt Medienbilder wie die aus Abu Ghraib gezeigt haben, möglich geworden? Was genau fühlten die auf diesen Schnappschüssen zu sehenden Folterer, die offensichtlich nicht nur ihre Opfer, sondern auch sich selbst mit ihren Fotografien auf eine bestimmte Weise zu inszenieren versuchten? Präziser gefragt: Woher kommt die vollständige Mitleidlosigkeit, die uns auf diesen um die Welt gegangenen Fotos so schockiert?

Der US-amerikanische Journalist Philip Gourevitch und der Dokumentarfilmer Errol Morris haben aus vielen Interviews mit Soldaten, die in dem berüchtigten Foltergefängnis Dienst taten, ein Buch gemacht – aus Transkripten von zweieinhalb Millionen Wörtern Umfang, die zunächst Morris’ Film „Standard Operating Procedure“ als Materialbasis dienten, der bei der Berlinale 2008 mit dem Silbernen Bären prämiert wurde.

Was man in diesem Band liest, verstört gerade deshalb besonders, weil einen die interviewten Täter mit allerlei Schutzbehauptungen und Schuldabwehrstrategien konfrontieren, die im Gestus ‚ehrlicher‘ und ‚schonungsloser‘ Berichterstattung um unsere Empathie werben. Das klingt an manchen Stellen fast schon so wie das, was einem auch ausgebrannte Psychiater von ihrer Arbeit ähnlich erzählen könnten: Aus der Perspektive der Täter von Abu Ghraib arbeiteten sie schlicht in einem Gefängnis, in dem ständig terroristische Delinquenten eingeliefert wurden. Darunter waren auch Leute wie derjenige Häftling, den man nur „Shitboy“ nannte: Der Mann beschmierte sich selbst mit Kot und aß seine Exkremente, während er seinen eigenen Kopf immer wieder gegen die Wand rammte. Doch seine Bewacher erfuhren angeblich nicht, warum und worauf dieser Mann überhaupt so reagierte. Und sie waren auch keine Psychiater, die gelernt hätten, wie man mit solchen Situationen umgeht – sondern „White Trash“, tumbe und überforderte Konsumenten von Kriegs- und Pornofilmen, wie unter Drogen agierende Soldaten, die sich mit simplen Rachefantasien für ihren mörderischen und lebensbedrohlichen Alltag zu wappnen versuchten.

Diese US-­Soldaten litten oft selbst unter sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und überlebten draußen im Alltag auch schon einmal knapp ein Autobombenattentat. Der 2005 in den USA wegen seiner Folterverbrechen im Irak zu zehn Jahren Haft verurteilte Korporal Charles Graner etwa erzählt in diesem Buch, dass er nach einem solchen Attentat, das er überlebte, plötzlich „blind“ gehasst und nicht einmal mehr gewusst habe, wen er am liebsten umbringen wollte – Iraker oder diejenigen US-­Amerikaner, die ihn hierher gebracht hatten.

In dieser beklemmenden Atmosphäre eskalierten die Verhöraktionen und der Alltag in Abu Ghraib wie von selbst. Javal Davies, ein weiterer Diensthabender in dem Foltergefängnis, erinnert sich: „Das Ganze braut sich in deinem Kopf zu einem Klumpen zusammen, und du willst es dem da heimzahlen, direkt an Ort und Stelle. Der will dich umbringen und jubelt, wenn sie dich verletzen, obwohl du doch da bist, um ihn zu schützen. […] Ich wollte ihm wirklich sehr weh tun, weil ich spürte, dass er das verdient hatte. Ich spürte, dass sie alle es verdient hätten. Also trat ich dem Typ auf die Finger. Ich trat ihm auf den großen Zeh. Damals dachte ich allerdings: ‚Au weia! Ich glaube wir gehen zu weit‘. Doch die Reaktion darauf ging in die Gegenrichtung: Wir sind im Krieg. Die haben New York in die Luft gejagt, und daher ist alles erlaubt. Also gingen wir zwar zu weit, aber das war auch richtig so. Das war die Einstellung, das war die Stimmung. Es fühlte sich an wie: Die sprengen unsere Hochhäuser in die Luft. Die bringen uns hier draußen um. Also los, nehmen wir sie in die Mangel!“

Problematisch ist es, solchen Täter-Aussagen soweit zu folgen, dass man Ihre offensichtliche Mitschuld an den Folterexzessen selbst zu relativieren beginnt. Möglicherweise gibt es in Deutschland, auch durch das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan, mittlerweile sogar schon eine größere Empfänglichkeit für einen solchen relativierenden Diskurs. In der Rezension, die der Deutschlandfunk zu dem Buch von Gourevitch und Morris sendete, hieß es etwa, darin erscheine die berüchtigte „Lynndie England vor allem als tragische Figur: als eine Täterin, die gleichzeitig auch Opfer ist – Opfer einer chaotischen Situation, in die ihre Vorgesetzten keine Ordnung zu bringen vermochten, daran ganz offensichtlich auch kein Interesse hatten“.

Um so mehr ist man vor dem Hintergund solcher neuer Debatten um die US-Verbrechen im Irak gespannt, zu lesen, wie die als bahnbrechende Gender-Theoretikerin berühmt gewordene US-Autorin Judith Butler in ihrem soeben im Verlag diaphanes erschienenen Band über „Krieg und Affekt“ mit diesen Phänomenen umgeht. Die grundlegende These ihrer Argumentation leuchtet auch auf Anhieb ein. Sie wird im Buch immer wieder neu umkreist, wobei Butler sich trotz ihres unübersehbar akademisch geprägten Stils erfreulicherweise um relative Klarheit bemüht. Nur manchmal hält sie sich dabei etwas zu lange an einzelnen Banalitäten auf, und es bleibt zu ‚betrauern‘, dass die Autorin dazu neigt, zu schreiben, dies und jenes sei „auf der Folie von“ irgendetwas „schon immer“ so gewesen, etwas werde da und dort „eingeschrieben“ und nicht zuletzt – ein Ausdruck, der heute offenbar in keiner geisteswissenschaftlichen Schrift mehr fehlen darf – auf eine gewisse Weise „verhandelt“.

So ist selbst die zentrale Formulierung ihres Buchs, so sehr sie auch zunächst überzeugen mag, nicht frei von einer gewissen stilistischen Redundanz: „Krieg lässt sich als ein Geschehen verstehen, das Bevölkerungen aufteilt in einerseits diejenigen, um die getrauert werden kann, und andererseits diejenigen, um die nicht getrauert werden kann. ‚Unbetrauerbar‘ in diesem, von der Logik des Kriegs etablierten Sinn sind Leben, die nicht betrauert werden, weil ihnen zuvor ihre Existenz abgesprochen worden ist, weil sie nie als Leben zählten“.

Diejenigen deutschen Leser, die bei dieser Feststellung sofort mit dem Kopf nicken und weniger an sich selbst, denn an ihre sogenannte „berechtigte Israelkritik“ denken, dürften sich besonders erfreut auf eine Bemerkung beziehen, die sich in dem Gespräch der Rhetorikprofessorin Butler mit der New Yorker Philosophieprofessorin Jil Stauffer findet, das ganz am Ende des Buchs abgedruckt ist. Dort betont Butler als unermüdliche Kritikerin der US-­Irakkriegspolitik und des Folterlagers von Guantánamo, die Weigerung des San Francisco Chronicle, eine von Palästinensern eingesandte Todesanzeige abzudrucken, die an einige von israelischen Soldaten erschossene beziehungsweise bei israelischen Luftangriffen umgekommene Frauen und Kinder erinnern sollte, bedeute gerade für sie „als progressive Jüdin“ nichts weniger als den „Tod des Judentums“.

Handle es sich doch bei diesem redaktionellen Akt der Ignoranz um eine typisch westliche Manifestierung eines expliziten öffentlichen Trauerverbots, das zutiefst ‚unjüdisch‘ sei: „Denn in meinen Augen bestand immer einer der wertvollsten Aspekte des Judentums in seinem Nachdruck auf öffentlicher Trauer [sic!] sowie in der damit verbundenen Forderung, dass sich eine ganze Gemeinschaft zur Trauer versammeln muss. Es reicht aber nicht, nur die eigenen Toten zu beklagen. Wir müssen unsere Vorstellung davon erweitern, wer der Trauer würdig ist, so dass wir nicht nur auf der Grundlage bereits etablierter Identifikationen trauern.“

Schön und gut – doch ob eine US-Zeitung, die die Publikation einer Anzeige ablehnt, gleich für den „Tod des Judentums“ mitverantwortlich gemacht werden muss? Den planen, und zwar ganz konkret, heute wohl eher andere Mächte in dieser Welt. Gerade aus dieser Sicht berührt Butlers Argumentation schließlich auch ein Versäumnis, das zum Beispiel in dem Land, dessen Bürger einmal sechs Millionen Juden in der Überzeugung umbrachten, es handele sich dabei um gar keine Menschen, sondern um bloßes ‚Ungeziefer‘, nach wie vor zu beklagen ist: In der Berliner Republik und ihren Medien inszeniert man heute – sogar fast noch effektiver als bereits in den 1950er-Jahren – primär deutsche Kriegsopfer in schwülstigen Melodramen und Spielfilmen wie „Die Flucht“, „Die Gustloff“ oder auch „Dresden“ für ‚betrauernswert‘. Gleichzeitig aber hat man für die vor 1945 ermordeten Juden nach langem Gezeter lediglich einige abstrakte Steinklötze in Berlin-­Mitte aufgestellt und ist in weiten Teilen der Bevölkerung offensichtlich der Meinung, damit für die Erinnerung an die Shoah endgültig mehr als genug getan zu haben.

Die immer dreister artikulierte Abwehr dieses Themas in der deutschen Öffentlichkeit scheint seit Martin Walsers Paulskirchen-Rede von 1998 nicht mehr zu stoppen zu sein. Wirkliche „Trauer“ um die Ermordeten würde jedenfalls anders aussehen. Und so wäre gerade diese Gesellschaft gewiss ein guter Adressat für Butlers simple Botschaft: „Bevor wir nicht lernen, dass andere Leben ebenso betrauernswert sind und an uns die gleichen Forderungen stellen, betrauert zu werden – und zwar besonders diejenigen, an deren Auslöschung wir beteiligt waren –, bin ich mir nicht sicher, dass wir wirklich auf dem Weg sind, das Problem der Entmenschlichung zu überwinden.“

Antiimperialistisch bewegten Friedensaktivisten könnte diese Kritik Butlers jedoch aus ganz anderen Gründen einleuchten. Und zwar deswegen, weil die Autorin in ihrem Buch vor allem die Kriegspolitik der USA und des Staates Israel anprangert. Ihre Argumentation trägt sie – wofür man sich hierzulande in so einem Fall gerne und ganz besonders begeistert – auch noch explizit ‚als Jüdin‘ vor: Butler kritisiert in ihren Texten die einseitige Perspektive einer Weltmacht, deren Medien auf den Anschlag vom 11. September 2001 mit bewegenden Porträts in den Türmen des World Trade Centers umgekommener US-­Amerikaner reagierten, während man über die Iraker, die im bald darauf folgenden US-Angriffskrieg von 2003 umkamen, überhaupt nichts wusste – ja kaum ihre Leichen zu sehen bekam, da dem „embedded journalism“ die Veröffentlichung solcher Bilder aufgrund propagandistischer Überlegungen nicht gestattet wurde. Mit der bereits 1935 aufgeschriebenen These der Psychoanalytikerin Melanie Klein, moralische Reaktionen seien im Grunde nichts anderes als Antworten auf Fragen der Selbsterhaltung, wirbt nun Butler für eine Kultur, die diese ‚Anderen‘ als zum eigenen Überleben unbedingt zu schützenden Teil des ‚Eigenen‘ begreifen lernen soll: „Wenn ich mich bemühe, dein Leben zu erhalten, dann nicht nur, um mein eigenes zu erhalten, sondern weil, wer ‚Ich‘ bin, nichts ist ohne dein Leben.“

Solche Worte mögen Kirchentagsbesuchern unmittelbar einleuchten. Doch hätten Soldaten der Roten Armee, die SS-Männer erschossen, um das Konzentrationslager Auschwitz zu befreien, ihre Gegner besser ‚betrauern‘ sollen? Hätten sie ihre Waffen wegwerfen, auf die Knie fallen und ausrufen sollen: „Ich bin nichts ohne Dein Leben“? Aus dieser Perspektive wirken Butlers Ausführungen geradezu grotesk: Auschwitz wäre mit einem solchen Pazifismus, wie sie ihn hier als moralische Priorität einfordert, jedenfalls nicht zu verhindern gewesen.

Trotz alledem rückt Butler in ihrem Buch die anklagende Perspektive der entrechteten Häftlinge von Guantánamo ins Blickfeld. Dies versucht sie dadurch auf besonders emotionalisierende Weise zu gestalten, dass sie Gedichte zitiert, die diese Opfer verfasst haben und die man, nachdem man die Lyriktexte aus dem weltweit geächteten Lager auf Kuba herausgeschmuggelt hatte, in den USA publizierte. Genauso wie bei der palästinensischen Totenklage, die die erwähnte US-Zeitung zu Butlers Empörung nicht veröffentlichen wollte, interessiert sich die Philosophin auch in diesem Fall für einen möglicherweise annehmbaren ideologischen Hintergrund, eine gewisse politische Intention auch solcher Opfer-Äußerungen – oder gar eine Bewertung ihres sprachlichen Vermögens – allerdings überhaupt nicht.

So lesen wir in ihrer Abhandlung Verse wie den von Ustad Badruzzaman Badr, von Butler als Ausdruck einer überwältigenden „Macht von Trauer, Verlust und Isolation“, als poetisches „Instrument der Auflehnung“ zitiert: „Der Strudel unserer Tränen / Rast auf ihn zu / Niemand kann die Macht dieser Flut überdauern.“ Dazu schreibt Butler nur: „Niemand kann sie überdauern, und doch kommen diese Worte an, als Zeichen einer unermesslichen Dauer.“

Gewiss: Es mag problematisch sein, ausgerechnet dem Gedicht eines Gefolterten mit ideologie- oder gar literaturkritischen Bemerkungen zu begegnen. Aber darf man hier nicht zumindest vorsichtig einwerfen, dass auch in diesen Versen der klare Verzicht auf so etwas wie „Rache“ – und zwar im Sinne des mutigen Beendens einer sonst sich immer weiter drehenden Gewaltspirale, wie es Butler von den westlichen Kriegsmächten angesichts ihres ‚revanchistischen‘ Verhaltens gegenüber islamistischen Staaten so vehement fordert – gar nicht erkennbar ist?

Wer ist in dem Gedicht überhaupt derjenige Ungenannte, auf den der „Strudel“ der „Tränen“, falls man sich so etwas bildlich überhaupt vorstellen kann, ‚zurast‘? George W. Bush? Transportieren die von Butler zitierten Verse nicht sogar auch so etwas wie den zumindest angedeuteten Wunsch, alle, die sich der ‚Flut der Tränen‘ islamischer Opfer entgegenstellen, würden am Ende unweigerlich von ihr vernichtet?

Genau in dieser tendenziellen Einseitigkeit seines sich zunächst einmal überaus analytisch gebenden Ansatzes wird Butlers Buch zusehends problematisch. Wieso aber sollte man, mag man hier andererseits einwenden, gegen Butlers humanes, fast schon Lessing’sches Werben um Mitleid für die Leidenden in der Welt irgendetwas haben? Die Antwort beginnt damit, das Butlers Nächstenliebe erstaunlicherweise so weit geht, dass sie sogar kulturelle Formen geschlechtlicher Unterdrückung zu relativieren beginnt, die über das, was sie selbst einmal als „Zwangsheterosexualität“ kritisiert hat, weit hinaus gehen: „Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen, die Spuren hinterlassen wird. Wir sollten keinesfalls davon ausgehen, dass Verwestlichung immer eine gute Sache ist. Sehr oft setzt sie wichtige kulturelle Praktiken außer Kraft, die kennen zu lernen es uns an Geduld fehlt.“

Die Autorin zitiert an einer anderen Stelle den Anthropologen Tsahal Asad, um dessen Frage aufzugreifen, warum eigentlich Selbstmordattentate so viel Entsetzen auslösen, während man „angesichts von staatlich sanktionierter Gewalt nicht immer ein solches Entsetzen und eine solche moralische Abscheu“ verspüre. Dass es sehr wohl auch einen rationalen Grund für eine solche Unterscheidung geben könnte, fällt bei Butler unter den Tisch. Genauso wie sie einmal kurz einräumt, sie sei „sicher“, dass es Fälle gebe, „in denen Interventionen wichtig sind – etwa um einen Genozid abzuwenden“, ohne diesen wichtigen Punkt dann weiter zu diskutieren, so schreibt Butler auch im Fall ihrer konkreten Bezugnahme auf Asads Frage: „Obwohl Asad vor allem dazu anregen möchte, über Selbstmordattentate nachzudenken – was ich jetzt nicht tun werde –, ist doch deutlich, dass er etwas Wichtiges über die Politik moralischer Ansprechbarkeit mitzuteilen hat.“

Es geht Butler hier also abermals allein darum, die ‚blinden Flecken‘ in der Kriegsperspektive des Westens sichtbar zu machen, der moralische Empörung nur über die Taten ‚der Anderen‘ zulasse. Gleichzeitig aber klammert sie die mörderische Ideologie jener Terroristen, die die Opferung des eigenen Lebens und selbstverständlich auch eigener Frauen und Kinder als „Schutzschilder“ in Gaza und anderswo explizit in Kauf nehmen, um die moralischen Skrupel der westlichen Gegner auszunutzen, auf beiläufige Weise aus ihrer Erörterung aus.

Gerade dieser Aspekt der „neuen Kriege“ (Herfried Münkler) oder auch „asymmetrischen Kriege“ unserer Zeit wäre aber in einer Abhandlung über das Thema des Affekts, auch in der medialen Provozierung von Wut und Hass, wie sie islamistische Gruppierungen mittels von radikalen „Märtyrer-Ikonografien“ intendieren, zentral. Auch im zweiten Beitrag des Bands, der sich explizit dem Thema „Fotografie, Krieg, Wut“ widmet, kommt dieser Aspekt jedoch nicht in angemessener Weise zur Sprache.

Überhaupt zeugen Butlers Auslassungen von einer merkwürdigen analytischen Indifferenz gegenüber der symbolischen Kraft, die die Attentate des 11. Septembers 2001 nach dem Plan der islamistischen Täter entwickeln sollten und dann auch tatsächlich hatten – und zwar als geschickt der medialen Vervielfältigung in der ganzen Welt überantwortetes Zeichen einer vollkommenen Bereitschaft zum totalen Krieg gegen ‚ungläubige‘ westliche Zivilisten. Der Einsturz der Twin Towers sollte als Fanal eines absoluten Vernichtungswillens ins Weltgedächtnis eingehen – als eine unbedingte Botschaft, die übrigens Butlers Postulat einer anzustrebenden Rücksicht auf ein betrauernswertes „Du“ sogar dergestalt verhöhnte, dass sie ihren Adressaten zu verstehen gab: „Schaut her, unser Wille, euch zu vernichten, ist sogar so groß, dass wir mit Freuden unser eigenes Leben dafür opfern.“

Sigrid Weigel warnt in ihrem Beitrag „Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen“ aus ihrem Sammelband „Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und Heiligen Kriegern“ (2007) zu Recht, die täglich rund um den Globus verbreiteten, ‚archaischen‘ Bilder von kriegerischen Märtyrern und ihren irregulären Kampfterritorien im Gefolge des 11. Septembers 2001 entfalteten hinter dem Rücken ihrer journalistischen (Mit-)Produzenten „eine geradezu biblische Gewalt, indem sie Affekte entfesseln, die sich als prekäre Gemengelage aus religiösen und politischen Motiven darstellen“.

Mit anderen Worten: Butlers Parteinahme für die unterdrückte Stimme des von „uns“ angeblich so sträflich missachteten „Du“ wird spätestens in dem Moment fragwürdig, in dem man die verhängnisvolle Märtyrer-Ideologie des Selbstmordattentates nicht mehr einfach so beiseite schiebt, wie es die Autorin in ihrer Studie für vertretbar hält. Butler übersieht offenbar, dass ihr Plädoyer für die aus Melanie Kleins zitiertem Diktum entwickelte Erkenntnis, die Schonung des Gegners sei vor allem ein Akt der Selbsterhaltung, für einen Selbstmordattentäter überhaupt keine Bedeutung mehr haben kann. Leuchtet sie doch nur demjenigen unmittelbar ein, der sich auch wirklich ‚selbst erhalten‘ will.

Butlers Thesen behaupten ihre unbestreitbare Relevanz, wenn man sie direkt auf Abu Ghraib und Guantánamo anwendet. Aber was ist etwa, um einmal ein anderes Beispiel anzuführen, mit jenen unschuldigen Bürgern der kleinen israelischen Universitätsstadt Sderot, die viele Jahre lang täglichen palästinensischen Raketenangriffen ausgesetzt waren, ohne dass die Armee ihres Staates mit „Rache“, also militärischen Gegenangriffen, wie sie Butler definiert, reagiert hätte? Die Sicherheit ihres Lebens konnte ihnen diese verblüffende Taten- und Reaktionslosigkeit, die Butler in ihrem Buch für die Regierung Bushs nach dem 11. September 2001 als bessere Option bezeichnet, welche diese dann aber leider nicht genutzt habe, auch nicht garantieren. Im Gegenteil: Dieses ominöse „Du“, das jene vollkommen wehrlosen Israelis ungeachtet aller militärischen Rückzüge, Waffenstillstände und Friedensangebote ihres Staates ins Visier nahm, wollte einfach nicht mit den permanenten Versuchen aufhören, seine Mitmenschen jenseits der nahen Grenze zu vernichten.

Ein solches Beispiel aber genau fehlt Butlers Buch und seiner damit einseitigen Argumentation: Die Diskussion seines Themas „Krieg und Affekt“ auch im Blick auf das existierende Extrem­-Beispiel eines Staats, der einmal entstanden war, um den letzten Überlebenden der Shoah eine Heimstatt zu bieten – und den seine Nachbarn nach wie vor ganz einfach auslöschen möchten, ohne über diese Prämisse bisher auch nur im Mindesten mit sich reden zu lassen. Es gibt eben Ideologien, deren Anhänger niemanden betrauern möchten – und zwar nicht einmal sich selbst. Wie, fragt man sich nach der Lektüre dieses Bändchens dann doch etwas ratlos, geht man damit um? Judith Butler geht dem Versuch, dieses dringende Problem zu diskutieren, zu leichtfertig aus dem Weg.

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien bereits in einer gekürzten Version in konkret 8/2009.

Titelbild

Philip Gourevitch / Errol Morris: Die Geschichte von Abu Ghraib.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans Günther Holl.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232952

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Judith Butler: Krieg und Affekt.
Herausgegeben von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker.
Diaphanes Verlag, Zürich 2009.
100 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783037340790

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