Europa als ersehnte Utopie, selbstverständliche Gegenwart und Bedrohung

Der von Barbara Breysach und Caspar Battegay herausgegebene „Jüdische Literatur als europäische Literatur“ ist die erste Buchpublikation der Gesellschaft für europäisch-jüdische Literatur

Von Eva LezziRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Lezzi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Band „Jüdische Literatur als europäische Literatur. Europäizität und jüdische Identität 1860-1930“ stellt sich die 2006 konstituierte Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien nun auch in Form einer Buchpublikation und einer beginnenden Schriftenreihe der akademischen Öffentlichkeit vor. Wie die Herausgeber Barbara Breysach und Caspar Battegay in ihrer Einleitung darlegen, fragt der Band unter anderem nach „europäischen Perspektiven jüdischen Schreibens“ sowie nach „literarischen Topoi und Figuren, in denen sich Europäizität und jüdische Identität überblenden“. Als Antwort führen die einzelnen Artikel eine Vielzahl von Aspekten auf, so dass Europa letztendlich als instabile Chiffre wahrnehmbar wird. Dennoch zeichnet sich aus den verschiedene geografische und kulturelle Räume umfassenden Beiträgen eine Tendenz ab: Der jüdische Europa-Diskurs der Jahrhundertwende rekurriert weniger auf einen (antiken) Ursprungsmythos „Europa“, vielmehr figuriert „Europa“ als gegenwärtig aktuelles, emphatisch erstrebtes oder abgelehntes Modell jüdischer Identität und jüdischen Schreibens.

Der Band umfasst neben der erwähnten Einleitung und einem Auftakt von Liliane Weissberg, der unter der Überschrift „Metropole der Freiheit. Berliner Juden in Paris, 1779-1812“ eine historische Tiefendimension europäisch-jüdischen kulturellen Transfers entwirft, 15 Beiträge zur Zeit zwischen 1860 und 1930. Die von renommierten Literatur- und Kulturwissenschaftlern verfassten Beiträge sind in fünf Abschnitte gegliedert, die jeweils einen sprachlichen, geografischen, politischen, ästhetischen oder kulturellen Raum des Dazwischen ausloten: „Zwischen Sprachen“, „Zwischen Ost und West“, „Zwischen Ideologien“, „Zwischen Tradition und Avantgarde“, „Zwischen den Nationen“.

Bereits aus dieser Einteilung lässt sich die große Fülle unterschiedlicher Europa-Konfigurationen ebenso wie unterschiedlicher Definitionen jüdischer Literatur und jüdischer Identität erahnen, die für die analysierten literarischen Werke und das Selbstverständnis ihrer jüdischen Autoren relevant sind. Die thematische Konzentration auf die Zeit um 1900 erlaubt es jedoch, sich nicht in einer beliebig werdenden diskursiven Vielfalt zu verlieren, sondern eine historische Signatur zu erfassen. Die Idee Europa hat sich in diesem Zeitraum immer gegenüber Teilen der nationalen Bewegungen und gegenüber nationalistischen kriegerischen Auseinandersetzungen zu behaupten – Europa als jüdische Idee ist zudem nicht ohne den Gegenpol des Zionismus zu denken. Die Aufsätze machen deutlich, dass „Europa“ und „Europäizität“ als imaginäres ebenso wie als reale Gebilde mit politischer Wirkungsmacht stets auf solche diskursiven Gegenpole angewiesen sind. Zugleich jedoch hinterfragen und dekonstruieren bereits einige der zeitgenössischen Autoren die dem Konstrukt „Europa“ inhärenten Dichotomien. So zeigt beispielsweise Philipp Theisohn mit seinem Artikel „Galuth erzählen. Jüdische Segregation und ästhetische Sphäre: Kurzes Gespräch mit Shemaryahu Gorelik“, dass der Gegensatz zwischen Zion und Golus und die Vorstellung, das jüdische Exil ließe sich durch eine zionistisch propagierte Rückkehr nach Palästina leicht überwinden, zu vereinfachend ist. Jüdische Identität hat längst in ästhetischen Formen Ausdruck gefunden, die ohne die jahrhundertelange Exilerfahrung und somit ohne Europa nicht denkbar wären und daher auch nicht als überwindbarer kultureller Anpassungsprozess interpretiert werden können. Es sind, etwa mit der jiddischen Literatur und Musik, eigene europäisch-jüdische Ausdrucksformen, die die Rückkehr nach Palästina überhaupt erst erzählbar machen, und die dort wiederum die Sehnsucht nach der Galuth aufrechterhalten werden.

Eine andere Form der Dichotomie analysiert Hans-Joachim Hahn mit seinem Beitrag „Europäizität und innerjüdisches Othering. ‚Ostjuden‘ im literarischen Diskurs von Heine bis Zweig“. Hier erscheint „Europa“ als Gegenbegriff zu „Ghetto“ und ist entweder als „Zielutopie für den Emanzipationsprozess des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums“ positiv konnotiert – so zum Beispiel bei Arthur Eloesser –, oder aber im Sinne einer individualistischen Aufsplitterung, die die voremanzipatorische kollektive Gemeinschaft bedroht, negativ behaftet. Über die Assoziation mit dem Ghetto erscheinen die „Ostjuden“ im westjüdischen Diskurs um Europäizität als abgewehrte oder – wie bei Martin Buber und Arnold Zweig – idealiserte „Andere“, die das Eigenbild als Europäer konturieren. In programmatischer Weise macht Hahn so die ideologischen Implikationen einer Europametaphorik deutlich, die Zugehörigkeit und Ausschluss reguliert, und sich letztendlich auch für westeuropäische Juden als Sackgasse erweisen wird, da auch sie im Diskurs der „christlich-säkularisierten Mehrheitsgesellschaften weiterhin zum ‚Anderen‘ Europas gemacht wurden“. Wie Anja Tippner mit ihrem Beitrag „Verwandlung und Verfremdung. Chassidismus in Jiri Langers ‚Devet bran. Chasidu tajemstvi‘“ eindrücklich zeigt, präsentiert auch der Prager Schriftsteller und Privatgelehrte Langer „die Welt des osteuropäischen Juden als Alternative zu westlichen, assimilatorischen Identifikationsmodellen“. Indem er den Chassidismus jedoch nicht nur ethnologisch beobachtet, wissenschaftlich analysiert oder poetisch evoziert, sondern ihn sich als eigene spirituelle Orientierung aneignet und anverwandelt, provoziert Langer seine assimilierte jüdische Umgebung. Orientalisierende Faszination und Ausgrenzung osteuropäischer Juden im westeuropäischen Diskurs werden so gleichsam in statu nascendi deutlich.

Es ist ein Verdienst des Bandes, den interkulturellen und interlingualen Austausch zwischen Ost und West ins Zentrum zu rücken. Dabei berücksichtigen die Beiträge nicht nur den – in deutschsprachigen Diskussionen eher bekannten und akademisch reflektierten – westlichen Blick auf das osteuropäische Judentum, das in der jüdischen Renaissance als authentischer Ursprung der europäischen Zivilisation entgegengehalten wird. Darüberhinaus finden sich erhellende Artikel, die die umgekehrte Wahrnehmung analysieren beziehungsweise wiederum einen vielschichtigen und multilingualen Raum des Dazwischen ausloten. So gehen Hugh Denman („Die jiddische Rezeption der europäischen Moderne“) und Anna Maja Misiak („Das Wort als Linie und Farbe. Rezeption der europäischen Avantgarde-Kunst in der jiddischen Dichtung Debora Vogels“) der Rezeption europäischer Literatur in der jiddischen nach. Dabei wird die faszinierende ästhetische Spannung innerhalb der jiddischen Literatur und Kunst deutlich, die sich einerseits auf jüdische Kultur und Themen beruft und andererseits stilistisch der europäischen Tradition und Avantgarde verpflichtet ist. Wie aus Debora Vogels Lyrik und ihren poetologischen sowie kunsttheoretischen Schriften deutlich wird, vermittelt das Jiddische dabei zwischen Ost- und Westeuropa beziehungsweise zeigt eine russisch-orientierte Europäizität. Neben den in der rhythmisierten Großstadtlyrik und den synästhetischen Nachdichtungen abstrakter Bilder bisweilen gänzlich verschwindenden expliziten Bezügen zur jüdischen Kultur und Tradition, ist es das Jiddische selbst, welches eine Brücke zum Judentum stets aufrechterhält. Von literaturhistorisch zentraler Bedeutung ist Misiaks Auseinandersetzung mit Vogels Lyrik auch insofern, als sie den nach wie vor fast gänzlich von männlichen Autoren bestimmten Kanon jiddischer Literatur aufbricht. Auch Eugenia Prokop-Janiecs Beitrag „Polnisch-jüdische Literatur. Zwischen west- und osteuropäischer Tradition“ zeigt die jüdische Literatur als Vermittlerin zwischen Ost- und Westeuropa, wobei sie als polnische Literatur das jüdische Erbe nicht selbstverständlich transportiert, sondern – inmitten von ästhetischen wie kulturellen Modernisierungsprozessen, die mit Europa assoziiert werden, – ideologisch vehement verteidigen muss.

Mit der von Denman und Prokop-Janiec nachgewiesenen intensiven Übersetzung, Rezeption und Adaption anderer europäischer Literaturen im Jiddischen und Polnischen, rückt ein weiterer thematischer Schwerpunkt des Bandes in den Blick: Die Übersetzertätigkeit, die der Vielfalt und Vielstimmigkeit der europäischen Bevölkerung sowie dem Wechsel zwischen sogenannten jüdischen Sprachen wie Hebräisch und Jiddisch und den Sprachen der jeweiligen Umgebungsbevölkerungen geschuldet ist. Der Band macht einmal mehr in beeindruckender Weise deutlich, dass Übersetzungen nicht nur ein interlingualer, sondern ebenso ein transkultureller Prozess sowie ein Prozess der Vergegenwärtigung historischer Überlieferungen sind. Diese für das jüdische Selbstverständnis maßgebliche transhistorische Dimension kommt insbesondere in den Artikeln „Philologie und Europäizität bei Erich Auerbach“ von Stefanie Leuenberger und „Karl Wolfskehls Übersetzungen hebräischer Poesie“ von Daniel Hoffmann zum Tragen. Jüdische Übersetzer schreiben sich mit eigener Stimme und Intention in die lange europäische Übersetzertradition ein und finden zu einem Europa, in welchem – so Leuenberger – eine literarische „Verschmelzung von antiker und jüdisch-christlicher kultureller Überlieferung“ möglich wird.

Bei aller für solche Sammelbände unvermeidlichen Lückenhaftigkeit beziehungsweise Schwerpunktsetzung – thematisch fehlt beispielsweise der skandinavische und der südeuropäische Raum – und trotz der in einigen Beiträgen zu wenig reflektierten Vagheit des Europa-Begriffs bietet der Band doch ein beeindruckend weites Spektrum an literarischen Anregungen und methodologischen Erkenntnissen zu europäisch-jüdischem Schreiben. Hier wird nicht einfach nur das Modethema „Europa“ für jüdische Literaturstudien aktualisiert, vielmehr zeigt sich programmatisch, wie genuin ein großer Teil der jüdischen Literatur als europäische gelesen werden kann, ja muss, und mit welch enormem heuristischen Gewinn sie aus nationalsprachlichen Paradigmen herausgelöst und in transnationalen und transkulturellen Räumen kontextualisiert wird. Wir dürfen daher gespannt sein auch auf die nächsten Bände der Reihe und können hoffen, dass die Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien ihren Platz in den aktuellen akademischen und kulturpolitischen Diskussionen um europäische Literatur behauptet.

Titelbild

Caspar Battegay (Hg.) / Barbara Breysach: Jüdische Literatur als europäische Literatur. Europäizität und jüdische Identität 1860-1930.
edition text & kritik, München 2009.
304 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779416

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