Zwangsräumung der Erde

Der Heyne-Verlag legt sein Science Fiction-Jahrbuch vor

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was leistet Science Fiction? Bei aller berechtigten Kritik und allen Vorbehalten der Science Fiction-Literatur gegenüber, heißt es in einem frühen Essay Ulrich Horstmanns, habe sich innerhalb dieses Genres eine kritisch-emanzipatorische Wendung von der kompensatorischen Glorifizierung des Menschen und Bereitstellung spekulativer Surrogate ('Eskapismus') zu einer "bedingungslosen distanzierten Geisteshaltung vollzogen, wie sie bisher als alleiniger Besitz des Satirikers oder Zynikers galt" ('anthropofugale Literatur'). Der Befähigung des Menschen zu anthropofugaler Weltwahrnehmung, "das Imaginieren eines Szenariums seines eigenen Verschwindens, die fiktionale Ratifizierung der eigenen Nicht-Existenz" Ausdruck zu verleihen - diese Qualität komme der Science Fiction-Literatur aufgrund eines Merkmales zu, das selbst ihr banalstes Produkt vor dem Western oder dem Krimi auszeichne.

Gemeint ist die Bejahung des Wandels, ohne zu fragen, wozu dieser denn diene, das 'frivole' Spiel mit der Geschichte. Zu erinnern ist beispielsweise an Douglas Adams' Klassiker "The Hitch Hiker's Guide to the Galaxy" (1979). Der Roman beschreibt die Zwangsräumung der Erde. Sie soll einer intergalaktischen Umgehungsstraße weichen. Das Bedürfnis nach derartigen, in nuce apokalyptischen Gedankenspielen bedient die rennomierte Reihe SF des Heyne Verlags mit momentan 5 Titeln monatlich. Trotz rückläufiger Absatzzahlen und eines erlahmenden Interesses an populärer Science Fiction-Literatur hat der Herausgeber Wolfgang Jeschke nun wieder ein dickleibiges, bis zur Zersplitterung gefülltes Jahrbuch herausgebracht. Neben Übersichten über die deutsche, amerikanische und britische SF-Szene, Bibliographien zu Primär- und Sekundärliteratur und zahlreichen Buchrezensionen enthält das Kompendium Beiträge zu den Medien Computer, Hörspiel und Film/TV. Dabei bewahren sich die Autoren jedoch stets die Neugier für die Gegenwart, wie die Essays über SF in der DDR, über die "Ars Electronica", Nanotechnik oder die Hohlwelttheorie beweisen.

Eine wahre Fundgrube für jeden SF-Interessierten sind die Autoren-Interviews. Hier spricht sich der amerikanische Literaturkritiker und Enzyklopädist John Clute, einer der besten Kenner des Genres, ganz im Sinne des oben skizzierten Zugangs zur SF für eine Geschichte als "Reihe der Optionen" aus. Anlaß zum Schmunzeln geben die Einsichten in das literarische Schaffen Andreas Eschbachs ("Jesus Video", 1999). Als Eschbach Gisbert Haefs auf der Frankfurter Buchmesse mit der Bitte belästigte, das Manuskript von "Der Haarteppichknüpfer" durchzusehen, soll dieser es mit dem Kommentar zurückbekommen haben: "Klasse Buch, aber scheiße geschrieben."

Titelbild

Wolfgang Jeschke: Das Science Fiction Jahr 2000: Das Jahrbuch für den Science Fiction Leser.
Heyne Verlag, München 2000.
19,40 EUR.
ISBN-10: 3453161831

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