Verklungene Pastorale, wo?

Über den Abschlussband der Wilhelm Lehmann-Werkausgabe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz vor Kriegsende, im Mai 1945, herrschten in Schleswig-Holstein unbeschreibliche Zustände; das kleine Land war überfüllt mit Soldaten und Flüchtlingen. Bei Wilhelm Lehmann in Eckernförde war eine schwangere Frau aus Ostpreußen untergebracht. Als es so weit war, sei er ins Nachbardorf geeilt, um die Hebamme zu holen. Unterwegs überkam es ihn dann – die sommerliche Natur triumphierte über das vom Menschen angerichtete Chaos: „Als ich die vertrauten Wege lief, bemächtigte sich meiner die getroste Glorie des hellen Junitages. Der Wind, uns meist befeindet, hatte sich gelegt. Eine grüne Pastorale tat sich auf. Die Wesen riefen: ‚Wir sind auch noch da!‘ Im Schutz eines Steinbruchs breitete sich ein weißes Beet samenden Wollgrases; Spindeln, Rocken gleich, ragten die Stängel. Der Roggen blühte, der Sand wärmte. Der fade Todesernst setzte aus, eine Ordnung gegen alle Unordnung drang durch…. Ich eilte, aber ich hastete nicht.“

Lehmann erzählte dieses Erlebnis 1961 im Rahmen seiner Münchner Poetik-Vorlesung über die Entstehung von Gedichten. Leider ist nicht überliefert, wie der Vortrag bei den Zuhörern ankam. Zwar befand sich Lehmann, als Dichter ein Vertreter der „Inneren Emigration“, zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Doch stand die Naturlyrik bereits unter Ideologieverdacht, zumal unter der jüngeren Generation. Bertolt Brechts Klage, dass ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen geworden sei, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt, war längst ein geflügeltes Wort. Der junge Peter Rühmkorf etwa höhnte über die lyrische „Utopie aus dem Blumentopf“, die bei dem nach Sinn und Vergessen suchenden Publikum der 1950er-Jahre so beliebt war.

Nach 1968, seinem Todesjahr, geriet Wilhelm Lehmann, der in Eckernförde als Lehrer tätig war, rasch in Vergessenheit. Im Zeichen von politischem „Engagement“ und „Vergangenheitsbewältigung“ erschienen Lehmanns bukolische Idyllen als purer Eskapismus. Dabei war sein eigentümlich widerständiges Werk im Nazi-Deutschland durchaus eine, wenn auch harmlose, Form des Protestes gewesen: Sein Band „Antwort des Schweigens“, 1935 im Berliner Widerstandsverlag von Ernst Niekisch erschienen, wurde von vielen gerade jungen Lesern als erlösendes Signal der Verweigerung begrüßt. Heute, in Zeiten des Klimawandels, gibt es erste Stimmen, die in Lehmann einen „ökologischen Zeitgenossen“ erkennen wollen. Freilich erlebte der Dichter die Natur stets als heil und hielt unbeirrt an der mythischen Verbindung von „Laub und Dryade“, also der Baumnymphe, fest.

Eine Gelegenheit zur kritischen Prüfung bietet eine neue Sammlung mit kleineren Schriften Lehmanns aus der Nachkriegszeit. Mit ihr wird eine achtbändige Werkausgabe vervollständigt, die 1982 im Klett-Cotta Verlag begonnen wurde: Die „Gesammelten Werke“ umfassen das autobiografisch geprägte Erzählwerk der frühen Jahre mit Romanen wie „Weingott“ oder „Der Überläufer“ ebenso wie das zwischen 1927 und 1932 entstandene „Bukolische Tagebuch“, mit dem sich Lehmanns Schritt von der Prosa zur Lyrik ankündigte, oder das umfangreiche essayistische Werk des Dichters, der 1882 in Puerto Cabello in Venezuela geboren wurde. Zu letzterem ist auch der nun erschienene, reich kommentierte Abschlussband zu zählen, in dem sich bedeutende und weniger interessante Arbeiten finden, berückende Landschaftsschilderungen in der Tradition des „Bukolischen Tagebuchs“ etwa oder ein „Werkstattgespräch“ mit Horst Bienek, aber auch fast ein Dutzend Huldigungen an Lehmanns ebenfalls vergessenen Mentor Oskar Loerke.

Dass Lehmann bei allem zur Schau gestellten Dichtertum auch ein cleverer Journalist war, zeigen die zahlreichen Überschneidungen und Doppelungen in den über 80 essayistischen und kritischen Texten. Leicht macht es dieser beständig mit dem Zeitgeist ringende Eigenbrötler dem Leser dennoch nicht. Auch da nicht, wo er in seinem spröden, ungemein bildungsgesättigten Duktus um Verständnis für seine Lyrik wirbt: „Ein dichterisch williger Hörer stutzte vor dem Anfang eines Gedichts: ‚Der hundertfältige Leib blüht auf zur großen Stunde.‘ Er war erleichtert, als man ihn auf den Titel des Gedichts ‚Rosen im Mittagsbrande‘ und darauf hinwies, dass Rosen auch Zentifolien heißen. Es gilt zu lesen mit den Augen, den Ohren, der Einbildungskraft, dem Verstande, mit den Ohren, mit den Augen. Gedichte sind Gedichte, nicht Material zur Verschrottung im Dienst der Literaturgeschichte oder der Soziologie oder der Kulturkunde oder der Utopie. Freilich enthalten viele Gedichtbände gar keine Gedichte.“

Wilhelm Lehmann wurde in der jungen Bundesrepublik als „Nestor der deutschen Lyrik“ gehandelt, als Kopf einer „naturmagischen Schule“. Doch war er, wie seine Rezensionen, Glossen oder „Gedenkblätter“ zeigen, im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ein Außenseiter. Für Lehmann blieb der Dichter ein „Seher“, waren „Ergriffenheit und Staunen“ „erzeugender Grund“ einer Dichtung, die dem modernitätsgeschädigten Menschen Heilung versprach. Der Kahlschlaglyrik eines Günter Eich (der Lehmann im Übrigen verehrte) stand er genauso ablehnend gegenüber wie der Gedankenlyrik seines Antipoden Gottfried Benn, wie er einem konsternierten Horst Bienek erklärte. Rilke warf er vor, die Dinge für sein Programm der Verinnerlichung missbraucht zu haben, und dem DDR-Lyriker Peter Huchel, der in Westdeutschland mit Preisen überhäuft und auf eine Stufe mit Hölderlin gestellt wurde, widmete Lehmann eine seiner wenigen Polemiken, in der er Huchel Unanschaulichkeit und mangelnde Präzision bescheinigte.

„Utopie und Abstraktion“ waren für Lehmann die Feinde der Dichtung. Gern zitierte er in seinen Essays Hebbels Klage über die zunehmende Verinnerlichung des Menschen, die ihn von der Natur und damit zugleich von sich selbst entfremde. Während die Philosophie das Denken schult, lehre wahre Lyrik das Sehen. Als der Dichter 1960 einem gedankenschweren Vortrag des Philosophen Hans-Georg Gadamer lauschte, war es der Anblick eines fallenden Lindenblatts vor dem Fenster, der ihn wieder zu sich selbst brachte.

„Willst du das Unsichtbare erkennen, sieh sehr genau auf das Sichtbare, rät der Talmud. Das Allgemeine bewahrt sich selbst, das konkret Einzelne wird jeden Augenblick Beute der Vergänglichkeit. Deshalb hält Dichtung es fest. Deshalb sehe ich mich gern im Diesseits um und glaube, dass es als gestaltetes Stück Wirklichkeit sein Jenseits in sich trägt. Ein Gedicht irgend einem Gedanken zuliebe aufzulösen, es gar als Material für eine Ideologie zu benutzen – wer das tut, vergisst, dass das Geheimnis der Dichtung darauf beruht, dass etwas nicht Gedanke blieb, sondern Gedicht wurde: das Wort wird Fleisch.“

Von modernen Sprachzweifeln blieb Lehmann zeitlebens unberührt. Für ihn waren die Wörter das Mittel, die stummen Äußerungen der Natur hör- und lesbar zu machen, den sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen Kontur und Dauer zu geben. Wie 1945 in Schleswig-Holstein, auf dem Weg zur Hebamme:

Ruhm des Daseins

Da sie dem Ohr entfloh,
Verklungene Pastorale, wo?
Der Wind hat sie ins Nichts gestöhnt.
Das Nichts gibt sie zurück. Sie tönt:

Der Wind, gezähmt, glättet die Wollgrasflocken.
Die Steine bettet weißer Klee.
Herkules setzt und spinnt am Weiberrocken,
Ihn kirrte lydische Omphale.

Den Atem freut erlaubte Frist.
Still rühmt das Dasein sich. Die Frucht weiß ihren Kern.
Mit seinem Rebhuhn spielt Johannes, der Evangelist.
Selbst Ahasver zieht seine Straße gern.

Titelbild

Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 7, Essays II.
Herausgegeben von Wolfgang Menzel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.
594 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783608950465

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