Nichts als „verzerrte Wahrnehmung“ und Panikmache?
Esther Sabelus dekonstruiert den Medienmythos der „weißen Sklavin“ um 1900
Von Franz Siepe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJörg Baberowski, Geschichtsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, fragte jüngst in der „FAZ“, ob und wie methodologische Vorentscheidungen den Inhalt historiografischer Arbeiten bestimmen – und kam zu dem Befund: gar nicht. Vielmehr verhalte es sich so, „dass die in den Einleitungen der Historiker vorgestellten Theorien und Methoden vor allem die Einleitungen, nicht aber die Erzählungen strukturieren“.
Offenbar liegen die Dinge im nur wenige hundert Meter entfernten Institut für Europäische Ethnologie derselben Universität ziemlich anders; denn dort scheint die Methodenwahl den Inhalt der wissenschaftlichen Arbeiten sehr wohl zu prädeterminieren, wie die vorliegende – auf einer Magisterarbeit am Lehrstuhl Rolf Lindner basierende – ethnologische Untersuchung Esther Sabelus’ zu erkennen gibt.
Was aber ist nun Gegenstand und Ziel der Arbeit? Die Autorin möchte die Diskurse „freilegen“, welche um die vorletzte Jahrhundertwende die white slavery, also den Mädchenhandel zum Zweck der (Zwangs-)Prostitution, begleiteten. Thema ist daher nicht der Mädchenhandel selbst, sondern das Echo, das er in der Presse, in Kriminalstatistiken, Prozessakten, in hoch- und niederkulturellen Romanen sowie insbesondere in zahllosen Kinofilmen fand.
Zur Erläuterung ihrer Methode rekurriert Sabelus zunächst auf die Technik der Kulturanalyse, wie sie von ihrem akademischen Lehrer Lindner vorgeschlagen wurde. Lindner hatte vom „Begreifen“ des jeweiligen ethnologischen Forschungsgegenstands gesprochen sowie von der Anstrengung, ihm „annähernd gerecht zu werden“, und mithin insofern eine vergleichsweise konventionelle Herangehensweise postuliert, als er der wissenschaftlichen Erkenntnis Wahrheit im Sinne von – zumindest graduell erreichbarer – adaequatio rei et intellectus sowohl zumutet als auch zutraut.
Sabelus ihrerseits wirft nun auf ihren Untersuchungsgegenstand einen „konsequent dekonstruktivistische[n] Blick“, der, so wörtlich, „unterstellt“, dass „die Realität der städtischen Prostitution und der Alltagswelt junger Frauen in der Stadt mit dem Fokus der white slavery seitens der vornehmlich bürgerlichen Beobachter/innen verzerrt wahrgenommen wurde“. Prinzipiell bezweifelt Sabelus zwar nicht, „dass sowohl Zwangs- wie Kinderprostitution existierte und existiert“, erklärt dann aber „die Frage nach der tatsächlichen Existenz des Mädchenhandels“ für „zweitrangig“. Nun gut, wer wie Sabelus sämtliche Zeitzeugnisse über internationalen Mädchenhandel, Kinderschänderei sowie Verführung und/oder Vergewaltigung von Jungfrauen und Frauen mehr oder minder unterschiedslos als Konstituenzien eines „Narrativs“ relativiert, welches „Ausdruck von Ängsten der bürgerlichen Klasse [?] war“, ohne die Realitätshaltigkeit dieser „Ängste“ gewichten zu wollen, setzt sich bewusst dem Risiko aus, das Leiden der – hier „weißen“ weiblichen – Opfer ebenso zu verharmlosen wie die Schuld der – zumeist männlichen – Täter.
Nun scheint der Autorin allerdings daran gelegen zu sein, der „weißen Sklavin“ erst gar nicht ausschließlich die Rolle des Opfers zuzuweisen. Anders als der Chor der damaligen „Reformer/innen, Abolitionist/innen, (Sensations-)Journalist/innen und Filmemacher/innen“, die jenes Narrativ schufen, räumt sie die Möglichkeit von freiwilliger Ausübung der Prostitution ein und mag nicht überall Zwang und Gewalt wähnen. Diese Tätigkeit erlaubte den Frauen immerhin „den Aufbruch […] aus der häuslichen Sphäre der Familie“ und kam dem „weibliche[n] Begehren nach Freizeit und Mobilität, ob in der Wahl des Berufs, des Wohnorts oder einfach der Freizeitvergnügungen“ entgegen.
Im Hinblick auf diejenigen Berufe, die seinerzeit allgemein als besonders gefährdend galten („die Erwerbstätigkeiten der Warenhausangestellten, der ‚Konfektioneuse‘, der Näherin oder der ‚Probiermamsell‘ (die Vorläuferin des Models) sowie generell alle Frauenberufe in der Vergnügungs- und Unterhaltungsindustrie (Kellnerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, ‚Chormädchen‘ )“), deutet Sabelus auf den Gesichtspunkt hin, dass derartige Tätigkeiten „Frauen auf eine mehr oder weniger selbstbestimmte Art ermöglichten, ihre eigene Existenz zu bestreiten“. Und im Ton der Zustimmung zitiert sie sogar eine Studie aus den 1990er-Jahren, derzufolge das Bordell um 1900 häufig als „Ersatzfamilie […] fungierte“ und die auch andere Vorzüge des Prostituiertenlebens unterstreicht: „Das Leben im Bordell ließ freie Zeit und erlaubte Freizeitbeschäftigungen wie Klavierspiel, Unterhaltung, Gesang und die Lektüre leichter Liebesromane.“ Kaum Unterschiede mithin zu einem Nonnenkloster.
Ebensowenig wie die „weiße Sklavin“ bloßes Opfer von männlicher Gewalt, Geldgier und Triebhaftigkeit und ihr Schicksal prinzipiell ein böses Hinabgleiten in die Sittenlosigkeit war, war der Täter, der „Trafficker“, das Scheusal, zu dem ihn die medialen Inszenierungen im Geist der bürgerlichen Sittlichkeits- und Gesundheitsprediger stilisierten. Wenngleich Sabelus keine explizite Ehrenrettung der Zuhälter und Mädchenhändler vornimmt, versucht sie sich doch an einer dekonstruierenden Identifikation derjenigen Diskursstrategien, die damals den „Täter“ als das schlechthinnige Negativbild der inkarnierten weißen Unschuld zum diabolischen Dunkelmann werden ließen, wobei sich nicht zuletzt rassistische und antisemitische Stereotype symbolisch artikulierten.
Neben dem – an Roland Barthes angelehnten – „theoretischen Konzept“ des „Mythos“ bemüht die Autorin vor allem das auf den britischen Soziologen Stanley Cohen zurückgehende Analysemodell der moral panic, einer „Form kollektiven Verhaltens, die durch eine plötzlich ansteigende Besorgnis und Feindseligkeit eines wesentlichen Teils der Gesellschaft gekennzeichnet ist“. „Moralische Panik“ erzeugt gemäß dem labeling approach Devianz; und ein Hauptprodukt dieser Zuschreibungsprozeduren ist der Fremde, der Andere, der Sündenbock in Gestalt des folk devil.
Mit diesem von Cohen bereitgestellten Instrumentarium lässt sich auch der Mechanismus dekonstruieren, der wirksam wurde, als zum Beispiel 1914 ein von der „Mädchenhandelspanik“ affizierter Berliner Zeitungsreporter einen gewissen Josef Cohn denunzierte, ohne genaue Recherchen angestellt zu haben.
Schließlich wählt Sabelus das Konzept der urban legends, um aufzuzeigen, wie antimodernistische Regungen die Großstadt als einen Raum des Traditions- und Sittenverfalls perhorreszierten und so zur medialen Inszenierung des Weiße-Sklavin-Melodramas wesentlich beitrugen. Mit „Topografie der sexuellen Gefahr“ ist der zweite und letzte Teil des Buchs überschrieben, der aufgrund seiner kenntnisreichen Anschaulichkeit überzeugt. Orte wie der Bahnhof, das Warenhaus und schließlich das Vorstadtkino werden diskursanalytisch und medienkritisch durchleuchtet.
Als ein wesentliches Resultat darf gelten, dass das Narrativ der „weißen Sklavin“ qua Abgrenzung der „anderen“ von der legitimen Sexualität einen die unterschiedlichsten Sphären der zunehmend destabilisierten bürgerlichen Gesellschaft umgreifenden, modernitätsresistenten Konsens über „legitime Sexualität“ herstellen sollte. (Sabelus pflichtet einem Autor bei, der von einem „philanthropischen Imperialismus“ der Gegner dieser „Sklaverei“ spricht.)
Nicht zuletzt dieser sexualkonservative Impuls war es, der – in einem symbolischen Feld bipolarer Zuschreibungen wie „hell vs. dunkel“, „hoch vs. niedrig“, „rein vs. unrein“ – „die Kategorien von class, gender und race“ einander durchdringen ließ, womit – ohne dass die Autorin dies ausdrücklich erwähnte – das diskriminierungstheoretische Paradigma der Intersektionalität ins dekonstruktivistische Spiel kommt. Weil Sabelus vielfach mit diesem Modell operiert, allerdings seine Grundlagen und seine wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen nicht diskutiert, sei hier auf ein kürzlich im Transcript-Verlag erschienenes handliches Einführungswerk hingewiesen, in dem die Autorinnen, Gabriele Winker und Nina Degele, „als Sozialwissenschaftlerinnen mit Schwerpunkt in Gender und Queer Studies“ eine Lektüre anbieten.
Zu Beginn bietet das Buch einen guten Überblick über Genese und Ausprägungsformen des Intersektionalitätsparadigmas, das um 1990 in den USA aufkam und sich seit einiger Zeit auch in Europa akademische Reputation erworben hat: „Nicht nur konstruktivistische, dekonstruktivistische oder strukturorientierte Verfahren knüpfen an dieses Konzept an, sondern auch so verschiedene Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaften, Geschichte, Rechtwissenschaften, Philosophie, Literaturwissenschaften, Pädagogik oder Wirtschaftswissenschaften.“ Und, so wäre im Hinblick auf Sabelus’ „Weiße Sklavin“ zu ergänzen: auch die Ethnologie.
Es geht also der intersektionellen Forschung darum, zu analysieren, wie die Kategorien von class, gender und race (Winker und Degele fügen den „Körper“ hinzu) miteinander verwoben sind und auf drei Ebenen: der Ebene der Sozialstruktur, der Ebene der symbolischen Repräsentation und der Ebene der Identitätskonstruktion, Herrschaftsverhältnisse („Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen“) erzeugen. Mit anderen Worten: Die Autorinnen „begreifen Intersektionalität als kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen“.
Und weil nun den „sozialen Praxen“ besonderes Gewicht zukommen soll, beschreiben Winker und Degele die wechselseitige Durchdringung von Struktur, Repräsentation und Identität am konkreten Beispiel des deutschen Fußballs. Auch auf diesem Feld registrieren sie, wie minoritäre Identitäten majoritäre Repräsentationsschemata „subversiv unterlaufen und neuen sozialen Sinn konstruieren“. So erinnern sie etwa an „queere Fußballturniere, Werbekampagnen gegen homophobe Gewalt“ oder an „eine Präsentation der frischgebackenen Fußballweltmeisterinnen auf dem Balkon des Frankfurter Römer 2007 in dunklen Anzügen statt in mädchenhaften Kostümen“.
Fairerweise verbergen Winker und Degele nicht die Absicht hinter derlei überraschenden Einsichten: Es „ist und bleibt das Ziel all dieser Gedanken der queer-feministische Anspruch auf gesellschaftliche Erneuerung, sprich all diejenigen Verhältnisse zu verändern, die Menschen unterdrücken und sie an der Entfaltung ihrer Bedürfnisse und Realisierung ihrer Lebensziele hindern“.
Blicken wir noch einmal auf Sabelus’ Buch über die „weiße Sklavin“, so waren es eben jene intersektionalitätsspezifischen Inklusions- und Exklusionskategorien von „Klasse, Geschlecht und ‚Rasse‘“, welche in der medialen Inszenierung – also auf der Ebene der symbolischen Repräsentation – jenes „Mythos“ wirksam wurden; und zwar in der Regel ohne bewusste Böswilligkeit der Zeitgenossen, denen Sabelus, wie oben gesagt, eine „verzerrte“ Wahrnehmung „unterstellt“.
Nun unterstellt jedoch diese Prämisse ihrerseits logischerweise implizit die Möglichkeit einer unverzerrten Wahrnehmung. Doch wer könnte uns dazu verhelfen? Sabelus vertröstet auf die Zukunft, in der ihr „dekonstruktivistische[r] Blick“ „vielleicht mit Hilfe noch ausstehender empirischer Arbeiten zu kritisieren sein wird“.
Sollte das besagen, dass sich Ergebnisse dekonstruktivistischer Studien nunmehr am Kriterium empirischer Forschung messen lassen wollen? Wird das alteuropäische Erkenntnis-, ergo Wahrheitsethos akademisch wieder hoffähig? – „Wir wünschen“, so Helmut Lethen, der Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, „Berührung mit Phänomenen diesseits aller medialen Kodierungen. Kurz: Wir wünschen mehr Wirklichkeit.“ Und diese „Evidenzsehnsucht“ der Gegenwart habe „verteufelte Ähnlichkeit mit [den sprachskeptischen] Tendenzen um 1900“, wie sie von Hugo von Hofmannsthal, Ernst Mach und Fritz Mauthner artikuliert wurden.
Derzeit zeichnet sich laut Lethen ein „Perspektivenwechsel“ ab. „Denn die Aufmerksamkeit für die Zeichenprozesse und die sprachliche Verfasstheit von Wissensordnungen führte dazu, dass die Widerständigkeit der Gegenstände aus dem Blickfeld geriet.“ Folglich hat das IFK unter seiner Leitung einen Forschungsschwerpunkt „Kulturen der Evidenz. Die Wirklichkeit der Kulturwissenschaften“ eingerichtet, dessen Leitlinie mit Hans Magnus Enzenzbergers Parole „Wir leben diesseits der Medien!“ wohl nicht schlecht getroffen wäre.
Man geht wohl nicht fehl, wenn man einen Stimulus für die Veröffentlichung der jetzt in der „Edition Parabasen“ des IFK beim Verlag Rombach erschienenen Essaysammlung „Unheimliche Nachbarschaften“ unter anderem darin sieht, einige ältere und neuere Arbeiten Lethens zur Frage der Authentizität menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung zu publizieren. Schon 1987 hatte er in dem Aufsatz „Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann“ den anti(post)modernistischen „Ruf nach einer Restitution der Wahrnehmung“ sehr ernst genommen. Aus dem Jahr 2003 stammt ein Text („Bildarchiv und Traumaphilie. Schrecksekunden der Kulturwissenschaften nach dem 11.9.2001“), in dem Lethen im Anschluss an Klaus Theweleit davor warnt, „symbolisches und reales Denken gegeneinander auszuspielen“. Doch sollten, wie er an anderer Stelle hervorhebt, die „Errungenschaften […] des Konstruktivismus nicht unter dem Vorzeichen eines naiven postsemiotischen Zugangs ad acta gelegt werden“.
Einem breiteren Publikum war Helmut Lethen mit den „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994) bekannt geworden. Die meisten Essays der „Unheimliche Nachbarschaften“ zirkulieren um jenes seinerzeit zum „Kultbuch“ avancierte Werk über den „Kälte-Kult“ der Neuen Sachlichkeit in der Zeit der Weimarer Republik, dessen Hauptpersonal sich auch hier wieder versammelt findet. Es geht um „untergründige Verbindungen“ zwischen avancierten Autoren um die 1920er-Jahre, die eben ein spezifisch „sachlicher“ Habitus einte, obschon sie von der Warte des politischen Lagerdenkens als Antagonisten figurieren: „Was“, fragt Lethen einleitend, „verband und trennte die Schriftsteller Bertolt Brecht, Ernst Jünger, Walter Benjamin, Arnolt Bronnen und Robert Musil? Welche Korrespondenzen gibt es zwischen den Philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner und Arnold Gehlen, dem Biologen Jakob von Uexküll und dem Rechtstheoretiker Carl Schmitt? Ist eine heimliche Verliebtheit in die geordnete Welt der Kriegerkasten nicht nur in den Schriften von Karl Mannheim und Norbert Elias, sondern auch bei den Philosophischen Anthropologen aufzudecken?“
Allen gemeinsam war der „kalte Blick“ auf die Welt; ein dezidiert künstlicher Gestus, der sich mit den rapiden Versachlichungsbewegungen der Moderne „synchronisierte“. Gegensatzpaare, die den Wertakzent traditionell auf der „warmen“ Seite trugen, wurden umgewertet, indem man die „kalte“ Seite favorisierte: „Mobilität“ rangierte jetzt vor „Verwurzelung“, „Vergessen“ vor „Erinnerung“, „Zerstreuung“ vor „Sammlung“, „Apparat“ vor „Organismus“, „Reproduktion“ vor „Original“ und die „Helligkeit“ der Lichter der Großstadt vor der „Dunkelheit“ des Hergebrachten, des Bodenständigen.
Doch angesichts dessen, dass die „Lieblingsmetapher“ Hitlers „eiskalt“ und „dass eventuell der Faschismus auch der Vollzug eines Einverständnisses mit der Modernisierung war“, mag Lethen sich mit den Kältefetischisten nicht identifizieren. Aber auch in den anachronistischen „Wärmetheorien“ vermag er mit guten Gründen „keine Alternative“ zu erkennen. Das Problem findet sich mithin so konstruiert, dass sich unsere „Suche nach Evidenz“ auf ein dieser Alternative Jenseitiges richtet.
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