Die Liebste unter dem Zachunbaum

Über die von Raoul Schrott herausgegebene Sammlung altägyptischer Liebeslyrik „Die Blüte des nackten Körpers“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast zur gleichen Zeit erschienen im Frühjahr 2010 zwei Bücher mit Liebesgedichten: Raoul Schrotts Anthologie mit Texten altägyptischer Liebeslyrik und Michael Lentz’ Gedichtband „Offene Unruh“. Der Unterschied könnte nicht größer sein. Während die fast 3.500 Jahre alten Gedichte in hochpoetischer Sprache ein wahres Liebesfest aus Sehnsucht und Liebesglück feiern, werden die Lentz-Gedichte von einem sachlich-kühlen, „unruhigen“ Sprachton geprägt. Die ungetrübte Liebe dort wird in den modernen Texten von einem gebrocheneren Bild der Gefühle verdrängt. Die Liebe ist „ein wort das auf der stelle tritt“, „ein zuviel gesungenes lied“, so heißt es bei Lentz. Seine Verse handeln auch von der Unvollkommenheit der Liebe und dem Misstrauen gegenüber einer verbrauchten Sprache der Gefühle.

Diese skeptische Haltung fehlt in den altägyptischen Texten, die Schrott in seinem Band vorstellt, völlig. Die Texte, entstanden um 1300 v. Chr., aufgeschrieben auf Tontafeln, Vasen, Tonscherben und Papyrusrollen, durch Zufall erhalten, sind beeindruckende literarische Zeugnisse, heute fremd in ihrer ungebrochen romantisierenden Verklärung von Liebe, aber zugleich faszinierend darin, dass sie Liebe so ausschließlich und selbstverständlich zum Mittelpunkt des Lebens machen.

Die Sammlung der Liebeslieder wird mit einer Hymne an Amun-Re, den Sonnengott, eröffnet. Der sechszeilige Text preist die Allmacht und Allgegenwart des Schöpfergottes. Er wird mit einem Stein und einem Meißel verglichen, einem „stein der den bleiglanz der schminke mahlt“, und einem „von keines menschen hand gegossenen meißel / der dennoch die namen verewigt in stein.“ In diesen Zeilen kommt ein magischer Glaube an die überirdischen Kräfte des geschriebenen Wortes zum Ausdruck. Durch die Niederschrift wurden, so offenbar die feste Zuversicht der ägyptischen Schreiber und Sänger, Menschen, Tiere, Dinge im wahren Sinn des Wortes verewigt, zeitlos und „dingfest“ gemacht, so dass sie die Jahrtausende überdauern konnten.

Dafür, dass sich diese Wirkung der Schrift auch mehr als dreitausend Jahre nach der Entstehung der altägyptischen Liebeslieder entfalten kann, braucht es einen Übersetzer, der nicht nur den Sinn der Hieroglyphen wiedergibt, sondern versucht, jene poetische Wirkung der Verse zu erzeugen, die sie zu ihrer Entstehungszeit gehabt haben mögen. Schrott hat besondere Sorgfalt auf Rhythmus und Bilderreichtum der Verse gelegt und es gelingt ihm, die alten Texte in eine zeitgemäße poetische Sprache zu kleiden. Er bezeichnet seine Übertragungen im Nachwort, das wichtige Informationen zu den Texten enthält, als „Nachdichtungen“. „Sie halten sich zwar nicht streng an die Metrik des Originals und an seinen Wortlaut, versuchen jedoch sich mit einer vorsichtig modernen Idiomatik dem ursprünglichen Sinngehalt poetisch anzunähern.“ Der Leser hat jederzeit das Empfinden, er lese Gedichte aus fernen Zeiten, aber Gedichte, die – und darin liegt Schrotts Verdienst – lebendig sind, nichts Verstaubtes an sich haben, sondern im Gegenteil den zeitlosen Zauber von Liebe wortschwelgerisch rühmen.

Im Gedicht „Das Fest“ wird die Liebe als großes Lebensfest mit Tanz, Liedern und Getränken gefeiert, aber auch als Erfüllung von Sehnsucht und Lust. Bemerkenswert ist, dass der Text, obgleich wie alle anderen Gedichte des Bandes von einem Mann geschrieben, Liebesverlangen und Liebeserfüllung aus der Sicht einer Frau darstellt. Ihr Ton und ihre Sprache sind selbstbewusst,beinahe keck: „warum dringst du denn nicht bei mir einfach ein / mit krügen voll bier und sängern“.

Mehrere der Texte sind in der Form eines Wechselgesangs angeordnet, woraus ein komplexes Bild aus Liebeswünschen und Liebeserfahrungen entsteht. Die Liebenden, die sich mit den Kosenamen „Schwester“ und „Bruder“ ansprechen, geben ihrer Sehnsucht Ausdruck. Der Mann „spricht“ in Bildern, die die Vereinigung mit der Geliebten als Erfüllung seiner Wünsche ausmalen. So wird ihr Schoß mit dem Tor in das Innere eines Palastes verglichen. Er ist „berauscht“ von ihrer Schönheit und sieht sich als Wildente, eingefangen in „dieser liebesfalle aus libanesischem holz.“ Ihren Mund vergleicht er mit der „knospe des lotos“, ihren Busen mit einer „alraune“ und ihren Arm mit dem „ast eines lorbeerbaums“.

Eindrucksvoller noch als die Verse des Mannes sind die der Geliebten. In ihnen drücken sich Selbstbewusstheit und Lustverlangen aus, die den Geliebten herausfordern: „komm und streichle mich – da: innen am schenkel / dann wird meine lust auch zur deinen.“ In ihrer Sehnsucht liegt ihre Bereitschaft, sich dem Freund hinzugeben; sie feiert ihre bedingungslose Liebe in einer Fülle lyrischer Bilder und Vergleiche: „deine liebe sie hat sich mit meinem leib vermischt / wie heilpulver das sich im wasser auflöst / süßer harz den man mit pflanzenextrakten zerstößt / ein theriak aus essenzen und mohn.“

Am Ende des Wechselgesangs wird die Liebe gleichgesetzt mit einem dem Sonnengott Re geweihten Tempeldienst. Das jährliche Fest zur Nilschwemme, das das neue Jahr und die Fruchtbarkeit der Erde preist, wird auch zum Liebesfest: Göttliches und Privat-Intimes, Religiöses und Irdisches, Opferdienst und Erotik, der Herrscher über das Nilland und der Geliebte verlieren ihre sich einander ausgrenzenden Konturen und werden eins. Die Liebe wird als Geschenk der Liebesgöttin Hathor gewürdigt: „denn die goldene göttin weiht dir deine geliebte als gabe / damit dein ganzes Leben in ihr erfüllung so finde!“ Liebe in der überbordenden Lust und Freude hat, so die Texte, immer auch eine religiöse Dimension. Der Gegensatz zwischen Menschlichem und Göttlichem wird darin aufgehoben.

Im Gedichte-Zyklus „Ein Unterhaltungslied“ ergibt sich durch die Textabfolge eine innere dramatische Struktur des Wechselgesangs. Im Bild des Vogelfangs mit Schlingen und Netzen werden aus Sicht der Frau Liebessehnsucht, Liebesfreuden und Liebesleid dargestellt. So wie Vögel von Ködern angelockt werden und sich schließlich in Fallen verstricken, möchte die Frau den Geliebten an sich ziehen und nicht mehr loslassen: „bruder, liebster, mein herz stellt deiner liebe nach / und allem was sie erschuf“. Sie fühlt sich wie eine ins Netz gegangene Wildente: „deine liebe, sie hält mich gefangen / ich kann mich von ihr nicht befreien.“ Anders als für die Vögel, die sich in den Schlingen zu ihrem Verderben verheddern, bedeutet es für sie die Erfüllung: „auch ich werd mich auf deine liebe stürzen / und fangen lassen, flügel gestutzt, allein: / mein herz an das deine gebunden / entkomm ich deiner schönheit nicht mehr.“

Die Innigkeit der Sprache und die ungebrochene Darstellung von Liebe sind das eigentlich Verbindende dieser altägyptischen Liebeslyrik. So wird immer wieder das Liebesglück bejubelt: „wieviel glück bereitet mir doch dieser moment – / aller lust leiht er ewigkeit!“. Die Geliebte preist ihr Herz als einen Raum, den der „herr [dieses] herzens“ durch ein „portal“ betreten darf; ihr Körper wird ihr im Bild zu einer Wiese, „übersät mit nur für dich entsprossenen blumen“; seine Stimme zu hören ist für sie „süß wie dattellikör“ und seine Blicke bedeuten „reinstes ambrosia“.

Ein Beispiel für das hochartifizielle und unterhaltsame Spiel mit Sprache und Form ist das „Lied der großen Unterhaltungskünstlerin“. Jedes der sieben Gedichte des Zyklus beginnt und endet mit einem Wort, das in Lautung oder Sinn die Zahl der Reihenfolge wiedergibt, nach der die Texte angeordnet sind. So lauten die Anfangsworte des ersten Textes „die einzige Schwester“, seine Schlussworte „für die einzig eine“. Das Spiel mit Sprache, Lautung und poetischer Form unterstreicht die Kunstfertigkeit und sprachliche Perfektion der altägyptischen Liebeslyrik, zeigt, wie poetisch „gebildet“ die Zuhörer der Lieder gewesen sein müssen, und verweist darauf, dass diese Lyrik auf eine dichterische Tradition zurückgreifen konnte, die die spielerischen lyrischen Formen und Muster über Jahrhunderte herausgebildet hat.

Vergleiche der Geliebten, der „einzigen schwester“, mit dem „funkelnden sirius der am horizont aufsteigt / zum beginn eines guten jahres“ mit Lapislazuli oder mit Lotosknospen stehen am Beginn der Entwicklung einer poetischen Bildersprache. Sie wird um 1300 v. Chr. aufregend neu gewesen sein. Im „Hohen Lied“ beispielsweise, das vierhundert bis sechshundert Jahre später entstand, oder in den Gedichten der Sappho um 600 v. Chr. waren die sprachlichen Möglichkeiten, die in den altägyptischen Gedichten noch „erfunden“ und erprobt wurden, bereits Allgemeingut lyrischen Sprechens und wurden in immer neuen Formen belebt und erweitert.

Die Gedichtzyklen, die Liebe in all ihren Facetten abwechselnd aus der Sicht der Frau und des Mannes beschreiben, werden bestimmt von der Spannung zwischen dem „Sie“ und dem „Er“. Die „Mann“-Perspektive stellt vor allem die Bewunderung der Geliebten in den Mittelpunkt, indem sie ihre Schönheit preist. „Sie“ dagegen bringt neben einer solchen Bewunderung auch die eigene Betroffenheit durch die Liebe zum Ausdruck, den Liebesschmerz, die Angst, den Geliebten an eine andere zu verlieren, das Gefühl der Verlassenheit und die innere Unruhe, wenn der Geliebte fern ist, die Sehnsucht nach ihm. Die Texte aus der Sicht der Geliebten sind komplexer und differenzierter in der Darstellung der Gefühle.

Interessant ist, dass gerade das „Sie“-Gedicht den Blick auch darauf lenkt, dass Liebe, so sehnsüchtig sie sich gibt, Grenzen kennt, sozialen Verpflichtungen und traditionellen Schranken unterworfen ist. So akzeptiert es die Geliebte, wenn auch klagend, dass die Mutter ihr verbietet, den Freund im Nachbarhaus aufzusuchen, bevor nicht offizielle Verbindungen zwischen den Eltern der Verliebten geknüpft sind. Die heimliche Liebe, die sich hinter dem Rücken der Eltern nur in verstohlenen Liebesblicken äußern darf, ist ein beliebtes Motiv, das im Hinweis auf die Einengung der Liebe gerade deren Absolutheitsanspruch betont.

Fast alle Texte versprühen eine heitere, ungetrübte Stimmung in Erwartung einer Liebesfeier. Einige haben darüber hinaus eine komische und selbstironische Seite: So hadert der Geliebte in einem Text mit der verschlossenen Tür des Hauses seiner Geliebten und verspricht, dem Schloss ein Rind, dem Riegel eine Ziege und dem Pfosten eine „dicke gans“ zu opfern, damit diese ihm den Weg zu seiner Geliebten nicht mehr versperren. Er bittet darum, dass Ptah, der Stadtgott von Memphis, „ein türschloss aus schilf schaffe / und einen riegel aus stroh / damit [dem] Liebsten gleich wann er auch kommt / das haus der schwester offensteht / er dort ein bett findet mit feinstem leinen bespannt / und ein schönes mädchen darauf / das zu ihm sagt: selbst der sohn des statthalters / fühlte sich hier ganz wie zu hause!“

Die Gedichte, die Schrott ausgewählt und übertragen hat, sind ein Fest des Sehens und Schauens. Sie lassen mittels Sprache Bilder einer verzauberten Gefühlslandschaft entstehen: Gärten mit Granatapfel- und Feigenbäumen, mit „alraunbeeren“, Liebesorte mit schattigen Plätzen unter Bäumen, von Wächtern bewachte Frauengemächer, den Nil mit seinen „goldenen fischen“, eine Landschaft der Liebesfreuden, der Sehnsucht und der Liebeserfüllung und nur manchmal des Liebesleids.

Wie gut Schrotts Auswahl und Zusammenstellung funktionieren, zeigen die „Fragmente der Liebe“ auf den letzten Seiten der Anthologie. Sie bestehen aus Versresten und sind dennoch in ihrer bildhaften Sprache „vollständig“. „ich fand die liebste unter dem zachunbaum / … sie schüttelte die wüstendatteln herunter“ heißt es dort. Die Wörter „zachunbaum“ und „wüstendatteln“ genügen, um ein Bild der Idylle hervorzurufen.

Der Gedichtband besticht auch durch die vielen Abbildungen altägyptischer Frauenfiguren und Szenen mit Musikerinnen, Tänzerinnen und Herrscherinnen mit ihren Dienerinnen. Die Illustrationen sollte man, wenn man den Band in die Hand nimmt, zuerst ansehen. Das ästhetisch Faszinierende und gleichzeitig Distanzierende der Bilder machen neugierig auf die Gedichte und weichen, je weiter man liest, dem Gefühl des Vertrauten und Nahen.

Titelbild

Raoul Schrott: Die Blüte des nackten Körpers. Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
96 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234857

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