Breite Tiefe

Burkhard Meyer-Sickendiek verteidigt das Grübeln gegen seine Verächter

Von Albert CoersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albert Coers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sei heiter! / Es ist gescheiter / als alles Gegrübel; Gott hilft weiter / zur Himmelsleiter / werden alle Übel“ – dieser aufmunternde Spruch Theodor Fontanes ist dem Rezensenten als Kanon im Ohr. Obwohl vor 150 Jahren gereimt, wird er auch heute noch gern verwendet, etwa in Poesiealben oder in populärphilosophischen Blogs. Er lässt das Grübeln in keinem gutem Licht erscheinen: während sich „heiter / gescheiter / weiter / Himmelsleiter“ reimen, allesamt positiv, zukunftsorientiert und aufwärtsstrebend, bleibt für „Gegrübel“ nur „Übel“ übrig.

Eine Rehabilitierung des Grübelns setzt sich das Buch von Burkhard Meyer-Sickendiek zum Ziel. Wir kennen ihn aus weiteren Publikationen: seiner Habilitationsschrift zum literarischen Sarkasmus und vor allem seiner 2005 erschienenen „Affektpoetik – Kulturgeschichte literarischer Emotionen“. Mit diesen gemeinsam hat sein jüngstes Buch die Vorgehensweise des diachronen Längsschnitts durch die Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur Untersuchung einer bestimmten Emotion oder eines emotional aufgeladenen Motivs, und zwar anhand einer Fülle von Texten und Autoren. Als Nebeneffekt entsteht so ein themenorientierter literaturgeschichtlicher Überblick – also Breite bei der Behandlung der „Tiefe“.

Dabei ist Meyer-Sickendiek ein sehr produktiver Autor. Das vorliegende Buch, in Großoktav und fast 350 Seiten stark, entstand laut Vorwort in nur etwas mehr als einjähriger Arbeit. Auch wenn der Prozess des Sammelns sich sicher darüber hinaus erstreckt hat, zeugt dieses Tempo von erfreulichem Abstand zu seinem Gegenstand, wird doch das Grübeln oft als gedanklicher Leerlaufprozess beschrieben, der selten oder erst nach einem langem Zeitraum Ergebnisse zeitigt.

Den oft pathologischen Befunden hält Meyer-Sickendiek einen anderen, aus der Literatur extrahierten entgegen: „Grübeln produziert nicht nur Unglück und Depression, sondern zugleich einen für die moderne Subjektivität seit der Romantik beobachtbaren Persönlichkeitszug, der eben nicht nur frustrieren, sondern auch faszinieren kann“, heißt es in der Einleitung.

„Fascinari“ bedeutet ursprünglich zu einem Rutenbündel („fasces“) zusammengeschnürt, mithin gefesselt werden. Als Einschränkung der Bewegungsfreiheit, als Fixiertsein durch einen Gegenstand muss Faszination, also keineswegs eine durchgängig positive Erfahrung sein, ihr zwanghafter Charakter passt nicht schlecht zur (psychopathologischen ) Beschreibung des faszinierenden Gegenstandes „Grübeln“ als unfreiwilliger Denkprozess, als Denkzwang oder -sucht. Ebenso wie die Faszination stellt sich das Grübeln als ambivalentes Phänomen dar.

Es aus seiner ausschließlich negativen Bewertung zu lösen, ist das Anliegen des Buches, außerdem Literaturwissenschaft und praxisorientierte, empirisch-experimentelle Wissenschaft wie die klinische Psychologie stärker aufeinander zu beziehen und somit wissenschaftliches durch literarisches Wissen zu ergänzen und zu revidieren.

Von den griechischen Sophisten oder aus Erasmus‘ „Lob der Torheit“ kennt man Versuche, ein von der philosophisch-theologischen Tradition als negativ bewertetes Verhalten aufzuwerten – wobei das Vergnügen am Paradoxon vorherrschend war und an der Möglichkeit, selbst vorderhand argumentativ völlig unterlegene Gegenstände mit den Mitteln der Rhetorik zu heben, also die Verhältnisse gedanklich umzukehren. Eine ernsthafte Aufwertung von als pathologisch eingeordneten Dispositionen erfolgt erst mit dem Topos von der unauflöslichen Verbindung von Anormalität und künstlerischer Leistung in der Renaissance und dann in der Romantik mit der Verbindung von Krankheit und Genie. Zentral wurde hier der Krankheitsbegriff der Melancholie – welcher von der modernen Medizin endgültig auf seine pathologischen Aspekte beschränkt, gleichzeitig neutralisiert als „Depression“ weiterverhandelt wurde – während sich die geisteswissenschaftliche Forschung seither seiner umso eifriger angenommen hat. Abzüglich der bisher geringeren Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft liegt der Fall beim „Grübeln“ ähnlich, wurde es doch ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts pathologisiert und in den letzten Jahrzehnten in internationale Wissenschaftssprache überführt: in der von englischsprachiger Forschung dominierten Psychologie gibt es unter dem Begriff „Rumination“ ein entsprechendes Forschungsfeld, das Meyer-Sickendiek umreißt und dessen Aktualität er aufzeigt.

Wobei hier die nicht vollständige semantische Kongruenz aufschlussreich ist: dem Begriff „Rumination“ („Wiederkäuen“, ständige Wiederholung desselben Denkprozesses) fehlt die anschauliche Tiefendimension, die im deutschen „Grübeln“ als Intensivum von „graben“ steckt: Und genau diesen Bezug zur Tiefendimension untersucht Meyer-Sickendiek.

Er ist nicht der erste, der die sprachliche und motivische Häufigkeit von „Tiefe“ bei Autoren wie Novalis, Joseph von Eichendorff, Friedrich Hebbel erkennt und als signifikant für die deutsche Romantik insgesamt interpretiert – siehe die Untersuchungen etwa von Inka Müller-Bach in „Räume der Romantik“ oder die konzise Darstellung von Heinz Schlaffer in „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“. Doch erstmals werden die Ergebnisse zur Analyse der Rede vom „Grübeln“ verwendet und psychologisches und literarisches Wissen in Bezug gesetzt.

Aus der sprachlichen und semantischen Differenz zwischen „Rumination“ und „Grübeln“ wird die Beschränkung des untersuchten Textkorpus auf deutschsprachige Autoren bereits plausibel – ohne dass diese Auswahl allerdings explizit thematisiert wird. Die Eingrenzung und die zeitliche Begrenzung auf Autoren der Frühromantik (Novalis) bis der Moderne (Walter Benjamin) ist untermauert durch die Einbettung der Rede von der Tiefe in verschiedene Diskursfelder: einmal die Verankerung der Tiefenmetaphorik in der religiös-christlichen Sprache, in der meditativen „Versenkung“ bei Mystikern wie Jakob Böhme, sowie die romantische Vorliebe für die Gestalt des meditierenden Mönchs.

C. D. Friedrichs „Mönch am Meer“ als ikonisches Bild der Romantik ist nicht umsonst auf dem Buchumschlag abgebildet. Von hier aus schlägt Meyer-Sickendiek Brücken zwischen (natur)religiösem und kunstästhetischem Diskurs. Die Doppeldeutigkeit von „Tiefe“ als räumliche und metaphorische Qualität kommt hier zum Tragen: der Gegensatz von „klassischer“ Flächigkeit / Ruhe und „unklassisch/romantischer“ Tiefe / Bewegung wird – und das ist einer der interessantesten Teile der Arbeit – in seiner Anwendung in der Kunstgeschichtsschreibung verfolgt und auf die Landschaftsmalerei der Romantik rückbezogen, mit Heinrich Wölfflins berühmtem Gegensatzpaar von „Fläche“ und „Tiefe“. Meyer-Sickendiek verfolgt diese Ab- und Aufwertung der Tiefe bis in die Gestaltpsychologie und Phänomenologie der Moderne etwa bei Merleau-Ponty.

Dabei ist erstaunlich, welche inhaltlichen Implikationen allein auf der Wortebene eine Sondierung zutage fördert: so wertet etwa Friedrich Schlegel implizit die (romantisch verstandene) Tiefe auf, wenn er, gerichtet an die Adresse der Klassizisten in Weimar, deren „sehr seichte Begriffe von Schönheit, Ideal und Antike“ kritisiert.

Zentral wird der Begriff der „Stimmung“, den Meyer-Sickendiek aus der romantischen Landschaftsmalerei in die Literatur überführt. Die Versenkung in die spezifische Stimmung einer Landschaft und die grüblerische Versenkung in die Gestimmtheit der eigenen Seele sind ähnliche Vorgänge: gerade das Undefinierte, Vage dieses Phänomens leistet dem Grübeln als erfolglosem Ergründungsversuch Vorschub.

Die geologischen Entdeckungen des 18. und 19. Jahrhunderts bilden eine naturwissenschaftliche Grundlage für die Betonung der Tiefendimension durch die Romantiker. Der Wissenszuwachs führt auch zu einer erweiterten „Tiefenzeit“ im Hinblick auf das Erdalter und der historischen Vergangenheit. Freilich ist dieses szientifische Fundament durchtränkt mit religiös gefärbter, spekulativer Naturphilosophie.

Mit der Einbettung der Tiefendimension in einen poetologischen Hintergrund rückt die Kernthese des Buches stärker in den Vordergrund, nämlich das Grübeln als Möglichkeit des Erzählens zu begreifen. Die narrative Technik von gestaffelten Erzählrahmen, von Sprüngen auf unterschiedliche Zeitebenen, von fortgesetzter Spiegelung und vor allem die des Mise en abyme – „in den Abgrund werfen“ – als Wiederholungsverfahren entspricht dem gedanklichen Wiederholungszwang des Grübelns. Anhand zahlreicher Novellen – von Ludwig Tiecks „Runenberg“ über E.T.A. Hoffmanns „Magnetiseur“ bis hin zu Adalbert Stifters „Abdias“ verfolgt Meyer-Sickendiek aus inhaltlicher, aber auch erzähltechnischer Perspektive den Topos der Tiefe und des Grübelns, wobei er sie an Erkenntnisse aus der Psychologie anschließt: Unerledigtes, Unabgeschlossenes bleibt länger im Gedächtnis als Erledigtes und gibt zu wiederholenden, kreisenden Denkprozessen Anlass. Dieses aus der Alltagswirklichkeit nur zu gut bekannte und in der Psychologie als „Zeigarnik-Effekt“ beschriebene Phänomen lässt sich auf die häufig offene oder fragmentarische Form der romantischen Novelle anwenden wie auch auf die Ergründungsversuche von so undefinierten Verfassungen wie „Stimmung“ oder „Sehnsucht“.

Interessant ist hier der Therapieversuch durch „expressiven Schreiben“, der in den 1980er-Jahren in den USA zur Behandlung von depressiver Rumination entwickelt wurde. Externalisierung durch Schreiben, das lässt sich auch auf literarische Verfahren beziehen, die dazu dienen „zum Grübeln verleitende Stimmungen wie insbesondere die Sehnsucht oder die Angst zu gestalten und zu entschlüsseln“. Grübeln als Versuch der Emotionsbewältigung – damit befindet sich Meyer-Sickendiek auf dem ihm vertrauten Terrain des literarischen Umgangs mit Affekten und Emotionen.

Der Bezug zur Tiefe verliert sich, so Meyer-Sickendieks These, mit der nachromantischen Pathologisierung des Grübelns. Die Literatur der Moderne, die das Vertrauen in den inhärenten Zusammenhang der Dinge verloren hat, interessiert sich weniger für den Grübler als Figur oder für die „Tiefe“ der Natur als vielmehr für die Darstellung des zwanghaften Grübelns selbst – etwa mit den Mitteln des inneren Monologs bei Arthur Schnitzler. Die Konzentration auf den kognitiven Mechanismus des Grübelns geschieht aber „auf Kosten der narrativen Darstellung eines Schicksals“. Es wird nicht über den Grübler erzählt, sondern das Grübeln selbst. Aus der Pathologisierung des Grübelns leitet Meyer-Sickendiek die „allgemeine Krise des Erzählens“ um 1900 ab, in der sich gleichzeitig eine Krise des Ich-Begriffs widerspiegelt, wie sie etwa in Rainer Maria Rilkes „Malte Laurids Brigge“ zum Vorschein kommt.

In einem letzten Kapitel stellt er Rilke überraschend Walter Benjamin gegenüber, der im Rückgriff auf vormoderne Konzepte von Melancholie und Allegorie das Grübeln als „erinnerndes Denken“ begreift und damit nobilitiert – ein schöner Fund aus den „Passagen“ verdeutlicht dies: „Was den Grübler vom Denker grundsätzlich unterscheidet ist, dass er nicht einer Sache allein, sondern seinem Sinnen über sie nachsinnt. Der Fall des Grüblers ist der des Mannes, der die Lösung des großen Problems schon gehabt, sie sodann aber vergessen hat. Und nun grübelt er, nicht sowohl über die Sache als über sein vergangenes Nachsinnen über sie. Das Denken des Grüblers steht also im Zeichen der Erinnerung“. Benjamin kannte Dürers Stich „Melencolia I“, der passenderweise auch abgebildet ist, gut. In ihrem Vergangenheitsbezug und ihrer Affinität zur Reflexion überschneidet sich die Melancholie mit dem Grübeln – dessen Faszinationskraft Meyer-Sickendiek überzeugend darstellt.

Titelbild

Burkhard Meyer-Sickendiek: Tiefe. Über die Faszination des Grübelns.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn und München 2010.
349 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770549528

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