Lektüre mit Nebenwirkungen

Alexander Kupfers Kulturgeschichte des Rausches

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die biografische Interpretationspraxis - der Aufweis eines vermeintlich unauflöslichen Zusammenhangs zwischen dem Erfahrungskomplex 'Leben' und dem literarischen 'Werk' - ist so weit verbreitet wie falsch. Zwar können derartige Verbindungslinien unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten durchaus interessant sein, für die literaturwissenschaftliche Analyse jedoch entbehren die Beweggründe, Motive und Befindlichkeiten des schreibenden Subjekts jeder Bedeutung, da sie streng genommen nicht rekonstruierbar sind. Unberücksicht bleibt in der biografischen Lesart überdies, dass die Sprache mit dem Übergang zur Schrift eine Verwandlung des Ausdrucksmaterials erfährt und sich vom Mitteilungskontext des Autors abkoppelt. "Im Verständnis seiner Leser", sagt Manfred Frank, "gewinnt der Text, auch der biographische, eine Bedeutung, die die Erinnerung an seinen Urspung übertrifft".

Es scheint zunächst, als wisse Alexander Kupfer all dies, denn seine Kulturgeschichte des Rausches bedient sich der Lebensgeschichten der Autoren und ihrer Texte, die das Quellenmaterial der Studie darstellen, ausschließlich zur Demonstration der historischen, psychologischen und philosophischen Dimension des Umgangs mit den Rauschmitteln. Auch wenn ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zunächst den Verdacht erweckt, als werde hier eine Erklärung der englischen, amerikanischen, französischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aus dem Drogenkonsum ihrer Produzenten versucht, beschreitet das Buch geradezu den umgekehrten Weg, denn es will sich lediglich die professionelle Gewohnheit der Schriftsteller zunutze machen, komplexe Sachverhalte (darunter auch die Rauscherfahrung) versiert und präzise zu beschreiben. Trotzdem bleibt die Frage, ob und inwiefern der wissenschaftliche Umgang mit literarischen Texten ohne philologische Schützenhilfe möglich und sinnvoll ist.

Der Rauschgifte, weiß Kupfer zu berichten, bedient man sich bereits im Altertum und im Alten Orient. Schon die Bibel weiß nicht nur um die berauschende Wirkung von Bier und Wein, sondern beschreibt auch Alraunen, Tollkirsche und Myrrhe als psychoaktive Substanzen. Bereits seit neolithischer Zeit sind Mohn und Hanf bekannt. Im Morgenland verändern sich die gesellschaftlichen Gepflogenheiten mit der Verbreitung des Islam und führen zur Ächtung des Alkohols. Aus westlicher Sicht, wie hinzuzufügen ist. Denn in Wirklichkeit, darüber klärt Kupfer auf, sind die Orientalen den Trinkgelagen nicht weniger zugetan als ihre abendländischen Nachbarn. Wenn wir heute das Haschisch als die zentrale Droge des Orients betrachten, so tun wir dies nur infolge der europäischen Rezeption der "Märchen aus 1001 Nacht", der Geschichte der Scheherazade und der Assassinen. Offenbar kommt die eigenartig farbige Phantasiewelt des Haschischs dem westlichen Bedürfnis zur Exotisierung des Orients als Reich des Drogenrausches entgegen.

Nachdem sich in den Texten des europäischen Mittelalters vermutlich aufgrund der drogenfeindlichen Haltung der Kirche wenig Anhaltspunkte für die Verbreitung von Drogen finden, lässt sich mit dem Übergang zur Neuzeit eine bis dahin beispiellose Sauflust konstatieren. Einer der Gründe für den sprunghaft steigenden Alkoholkonsum ist die Zunahme von Destillerien. Als ein erhebliches Problem erweist sich der englische Branntweinkonsum. Im Branntweinrausch verliert der Alkohol seinen sozial integrierenden Charakter. Mit ihm beginnt das einsame, trostlose und selbstzerstörerische Trinken, weshalb auch der Maler und Grafiker William Hogarth in seinen Grafiken "Beer Street" und "Gin Lane" die Tugenden des Biers den Schrecken des Gins gegenüberstellt. An der Fülle der im 16. Jahrhundert gegen die Trunksucht gerichteten Gesetze lässt sich eine neue Bewertung des Rausches ablesen: er wird nicht länger als die positiv besetzte Gewinnung einer dionysischen Welt betrachtet, sondern als misslungener Wirklichkeitsversuch und als Delinquenz abgeurteilt. Obgleich schon die Aufklärung die unwiderstehliche Neigung zum Alkohol als Krankheit erkennt, findet sich noch im 19. Jahrhundert die Auffassung, dass sich der Trinker qua freiem Willen zur Genesung entschließen kann.

Zu dieser Zeit verschiebt sich auch der gesellschaftliche Ort des Rauscherlebnisses: an die Stelle der traditionellen Anwendung der Drogen zu medizinischen, rituellen und sozialen Zwecken tritt die privat motivierte Suche nach künstlichen Paradiesen. Der Rausch wird zum Spiegelbild gesellschaftlicher Isolation. Als Ursachen dieser privaten Fluchten macht Kupfer die sensualistischen Strömungen der Aufklärung und den romantischen Irrationalismus mit seiner Entdeckung der Bedeutung des subjektiven Gefühls und des Unbewussten verantwortlich. Das romantische Interesse an den Ausnahmezuständen des Bewusstseins, wie sie in den Visionserlebnissen Swedenborgs, dem Magnetismus Franz Anton Mesmers oder an der Beschäftigung mit dem Traumzustand greifbar werden, besitzt eine naheliegende Affinität zum Rausch, den man im Verdacht hatte, das Unbewusste am ehesten der Erfahrung zugänglich zu machen. Wie die Beispiele Thomas De Quincey, Verfasser der Schrift "Confessions of an English Opium-Eater" und seines Landsmannes Samuel Taylor Coleridge belegen, ist die im 19. Jahrhundert am weiten verbreitetste Droge das Opium.

In Amerika, wo De Quinceys Bekenntnisse einige unglückliche Nachahmer finden, vermögen sich weder Ralph Waldo Emerson, Bayard Taylor, William James noch Edgar Allan Poe der Faszination von Droge und Rausch zu entziehen. Während James' unter der Einwirkung von Lachgas getroffenen Äußerungen über die Hegelsche Philosophie in eine Grauzone hineinführen, die die Frage nach der kategorialen Erfassbarkeit von Rauscherfahrungen aufwirft (denn die Rauschekstase gehorcht nach James per definitionem anderen Regeln als das Wachbewusstsein, ist also durch dieses gar nicht beruteilbar), verrät der Blick auf einen von schwerster Dipsomanie Heimgesuchten, den haltlosen Trunkenbold Poe, dass die psychischen Entstehungsgründe und Kennzeichen der Sucht zu jener Zeit noch weitgehend unbekannt waren. "Wie ein Drogensüchtiger zu behandeln sei", schreibt Kupfer, "war den meisten Ärzten damals noch unklar, und es muß als überaus unwahrscheinlich gelten, daß ein Arzt um 1840 [...] auch nur die einfachsten Symptome einer Drogenabhängigkeit erkannt hätte."

Um Einzelschicksale zentrieren sich die Sondierungsversuche des Drogenkonsums in Frankreich und Deutschland - hier hätte man sich eine konzentriertere Darstellung oder zumindest abschließende Thesen gewünscht. Zur Sprache kommen immerhin so unterschiedliche Autoren wie Gautier, Flaubert, Balzac, Baudelaire, Rimbaud, Huysmans, Goethe, Schiller, Haller, Schlegel, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Heine und Nietzsche. Nicht weniger materialreich fällt das Kapitel über das 20. Jahrhundert aus. Im "Rausch der Moderne", sagt Kupfer, komme den Drogen (neben ihrem weiter existierenden Zusammenhang mit psychischem Leiden) die Funktion zu, dem intellektuellen Aufbruch als Vorbild zu dienen: "Der Drogenrausch zeigt lediglich an, was eine durch andere Mittel bewirkte Revolution des Geistes erzeugen könnte und [...] bot sich daher zum Vergleich an." Als Fluchthelfer aus der Massengesellschaft spielen sie eine Rolle vergleichbar den literarischen Verfahren des Frühexpressionismus, der Verfremdung, der Verzerrung von Perspektiven und Proportionen bei Trakl oder Benn.

Obgleich Kupfer kein großes Wagnis eingeht, wenn er behauptet, die Betonung farblicher Reize in der Dichtung Trakls und die für ihre ungewöhnlich intensiven Farbvisionen bekannte Droge Meskalin führe zu einer Engführung von expressionistischer Weltdeutung und Drogenrausch, wird an solchen Formulierungen doch deutlich, dass der Weg über die Literatur durch einen 'lebensgeschichtlichen' Literaturbegriff erkauft wird, nach dem Literatur als unmittelbares 'Abbild' bestimmter Zustände (oder gar individueller Befindlichkeiten). Die Frage nach literarischer 'Fiktionalität' oder nach den ästhetischen Mitteln, die die Erfahrung des Rausches vermitteln, stellt sich hier erst gar nicht. Wäre Literatur aber nicht qualitativ von anderen Quellen zu unterscheiden?

Als verlässlicher erweist sich bei Kupfer die Darstellung der - dann doch wieder - auf ihre Allgemeingültigkeit hin befragten Lebensgeschichten. Ob sich die vorgestellten Autoren über die zerstörerischen Wirkungen von Opium hinwegtäuschen, obwohl sie während des Entzugs wahre Höllenqualen durchlitten wie Antonin Artaud, ob sie ihre Rauscherfahrungen von Beobachtern genau protokollieren lassen wie Walter Benjamin oder "den erbärmlichen Alltag eines Junkies" erleben wie Hans Fallada und Klaus Mann - in der Moderne ist die Romantik des Rausches der Erfahrung der Ausweglosigkeit und Ohnmacht gewichen. Aus der Distanz des kühlen Beobachters und ohne selbst suchtgefährdet zu sein beurteilen Henri Michaux und Ernst Jünger das Phänomen des Drogenrausches. In der "psychedelischen Ära" sind es Aldous Huxley (dessen skandalöse "Doors of Perception" die Verlockungen des Meskalins preisen), die Beat-Generation, die Hippys und die House-Bewegung, die den Umgang mit Drogen als Ausdruck der Nonkonformität und Unbürgerlichkeit, als Gegenkultur etablieren.

Ein eigenständiges Kapitel ist der Rolle des Alkohols in der modernen Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts gewidmet. Mal mehr, mal weniger gelingt es Kupfer anhand zahlreicher Fallbeispiele, angefangen von der Darstellung von Absynthtrinkern in der französischen Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts, über van Gogh, Joseph Roth bis zu Georges Simenon und Dylan Thomas, typische Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen des Alkoholikers aus der Literatur herauszudestillieren und zu bündigen Konklusionen zu gelangen.

Bedenken stellen sich auch angesichts des Kapitels über die spezifische Rolle des Alkohols in der modernen Kunst und Literatur ein. Mit Blick auf Europa erfährt der Leser hier vor allem etwas über die zerstörerischen Folgen der geistigen Getränke, sei es die ungeschönte Darstellung des Trinkerelends anhand der Absynth-Gemälde Manets, Degas' oder Toulouse-Lautrecs, am Beispiel des sozialen Abstiegs Erwin Sommers in Falladas "Trinker", dem seelisch invaliden Autor Joseph Roth oder jenem Flaschengeist, dem wir die wohl bedeutendste Darstellung des Alkoholikerbewußtseins zu verdanken haben - dem Autor des Romans "Under the Volcano", Malcolm Lowry. Wenig aussagekräftig aber ist Kupfers These, dass der oft als kulturstiftendes Medium gerühmte Alkohol eine Spur der Verwüstung hinterlassen und "den Künstler, statt ihn zu beflügeln, unwiderruflich zum Schweigen gebracht" habe, zumal sie im Rahmen der Studie auch gar nicht untersucht werden kann. So ist auch die Darstellung der für den Alkoholiker charakteristischen Lügenrhetorik in "Under the Vulcano" weitgehend von einem Literaturbegriff geprägt, der die Grenze zwischen biographischem Material und literarischer Botschaft verschwimmen lässt.

Anders als bei der Schilderung der europäischen Trinker werden bei der Charakterisierung des Alkoholismus als "amerikanischer Krankheit" jene gesellschaftlichen Mechanismen beleuchtet, die die Alkoholsucht im Kontext von Prohibition und Alkoholtemperenz an Kontur gewinnen lassen: in Amerika steht dem Konzept eines kommunikationsstiftenden und als Mannbarkeitsritus dienenden "social drinking" ein enges Netz moralisch-rechtlicher Vorschriften gegenüber. Aus dieser Perspektive zeigt sich beispielsweise Jack Londons Roman "John Barleycorn or Alcoholic Memoirs" in seiner ganzen Janusköpfigkeit: er ist beides, Lebensbeichte und verzweifelte Beschwörung der Nüchternheit.

Trotz der geschilderten Einwände führt an Kupfers instruktivem, mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und detaillierten Anmerkungen versehenen Buch kein Weg vorbei. Berücksichtigt man, dass hier - entgegen den Intentionen ihres Verfassers - eher eine Literaturgeschichte als eine Kulturgeschichte des Rausches entstanden ist, so mag das Hauptmotiv, das Kupfer immer wieder zu Spekulationen über die ästhetische Produktivkraft der Drogen oder ihre verheerende Wirkung für den Schreibenden veranlasst, wohl am ehesten entschuldbar sein: das Vergnügen an der Literatur. Der Anhang der "Göttlichen Gifte" enthält einen Überblick über Drogen und ihre Wirkung.

Titelbild

Alexander Kupfer: Göttliche Gifte.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
386 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3476014096

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