„Guten Morgen, Dennis.“

Stephan Marks sorgt sich um die „Würde des Menschen“

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stephan Marks war 2007 mit einer Publikation über „Scham – die tabuisierte Emotion“ hervorgetreten. Laut Klappentext des hier zu besprechenden Buches ist er „Sozialwissenschaftler, Supervisor und Fortbildner“, hat immerhin fünf Jahre in Amerika gelebt und ist Leiter des der Freiburger Pädagogischen Hochschule angeschlossenen Instituts für Menschenrechtspädagogik.

Menschenrechtspädagogik (auch „Menschenrechtserziehung“, „Menschenrechtsbildung“ oder „Human Rights Education“) geht auf eine Initiative der UNESCO zurück und hat den Auftrag, die Respektierung der Menschenrechte zu fördern. Mitunter wird indes beklagt, dass diesem Projekt nicht genügend Anerkennung entgegengebracht wird, womit wir schon bei einem Schlüsselbegriff dieses wohlmeinenden, menschenfreundlichen und zumindest der Intention nach gesellschaftskritischen Unterfangens wären: Spätestens seit Axel Honneths sozialtheoretischer Nobilitierung von „Anerkennung“ wissen nämlich selbst wir Deutschen, dass der Mensch als solcher nichts so sehr braucht und vermisst wie eben Anerkennung. Die Folge davon ist, dass wir, wo wir früher vielleicht anständig, höflich, wohlerzogen, rücksichtsvoll und manierlich oder liebevoll mit anderen Leuten umgegangen sind, jetzt niemandem mehr begegnen können, ohne uns vor das Problem stellen zu müssen, ob wir ihm auch genügend „Anerkennung und Respekt“ zollen, selbst wenn uns das Gegenüber richtig zuwider ist. Man hört, dass auf Schulhöfen ein Lümmel den andern abwatscht, weil dieser zuwenig „Respekt für“ jenen gezeigt hat.

Die Menschenrechtspädagogik möchte ganzheitlich darauf hinwirken, dass wir, „die wir täglich mit Menschen zu tun haben“ (Pressetext des vorliegenden Buches), die jedes Individuum schützende Schamgrenze niemals verletzen, indem wir anerkennen, dass nicht nur jedes Ich, sondern auch jedes Du ein Anrecht auf Wahrung seiner Integrität hat.

Als jemand, der zu seiner Freude mehr mit zu rezensierenden Publikationen als mit zu respektierenden Zeitgenossen zu tun hat, wird man jedoch feststellen, dass solche philanthropischen Appelle bereits – mit zweifelhaftem Erfolg – die ganze Menschheitsgeschichte durchzogen haben, und zu der tendenziell misanthropisch tingierten Frage gelangen, wann endlich solche Dinge für den Homo sapiens zur Selbstverständlichkeit und Menschenrechtspädagogikfortbildner überflüssig geworden sein werden. Bis dahin werden wir deren Anstrengungen allerdings wohl aufmerksam zu würdigen haben.

Das vierte Kapitel des Buches trägt die Überschrift „Menschenwürde und die Beziehung zum ‚Du‘“. Unter der Unterüberschrift „Zugehörigkeit vermitteln“ zitiert Marks ein Fallbeispiel aus Berlin, das illustriert, wie die „Würde des Menschen“ im schulischen Alltag gepflegt werden kann, denn auch Dennis verdient Anerkennung und Respekt: „Als z. B. eines Tages der 18-jährige Dennis verspätet und mürrisch den Klassenraum betritt und die Tür zuknallt, bleibt die Lehrerin ruhig. ‚Guten Morgen, Dennis‘, begrüßt sie ihn freundlich. ‚Willst du erzählen, was dich so stresst?‘ Sie bittet die Mitschüler, Dennis und seinen Sorgen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Er schildert seinen Start in den Tag: Obwohl er nach Kräften seiner Mutter im Haushalt und mit den [? sic] Geschwistern hilft, wurde er heute früh von seinem Vater angebrüllt und mit Schlägen bedroht, nur weil er am Vorabend zu spät nach Hause gekommen war. Die Mitschüler melden Dennis zurück, was sie wahrnehmen: unerfüllte Bedürfnisse und Wut. Ein Junge sagt: ‚Bestimmt willst du, dass dein Vater sieht, was du alles machst, dass er dich respektiert und gerecht ist.‘ Ein Mädchen vermutet: ‚Er soll sehen, dass du auch dein eigenes Leben haben willst.‘ Dennis wirkt erleichtert, sein Ärger ebbt ab, er wird ruhig. Interessiert möchte er von einem Mitschüler wissen, wie dieser die Konflikte mit seinem Vater gelöst hat.“

Wer würde nicht vor dieser tapferen Lehrerin, die sich von einem ungezogenen, türeknallenden Rüpel nicht den Schneid abkaufen lässt, den Hut ziehen? Doch wieso fragt sie nicht, warum und wozu sich der Kerl nächtens hat so lange herumtreiben müssen? Befürchtete sie womöglich, dass ihr dann ein supervidierender Menschenrechtspädagoge mangelnden Respekt vor den Bedürfnissen des Zöglings vorwerfen könnte?

Nein, diese Frage ist keine bloße Rezensentensottise, sondern trifft den Problemkern der Marks’schen Ideenwelt: Wenn er es unternimmt, „den Würde-Begriff aus Sicht der Psychologie, vor allem aus Sicht der Scham-Psychologie, mit Leben zu erfüllen“, bedeutet dies, dass der traditionell mit hoher Normativität aufgeladene Terminus hier einem – vom Selbstverständnis her – deskriptiv operierenden Fach überantwortet wird, mit der Konsequenz, den normativen Gehalt von „Würde“ hinnehmen zu müssen, ohne ihn aber solide begründen zu können.

Mithin unterbleibt die philosophische Reflexion des Ethischen: der Werte, der Pflichten und der Tugenden. Auf das obige Dennis-Exempel angewandt, folgt aus dieser Zurückhaltung: Weil kein metapädagogisches Kriterium zur Verfügung steht, den Dissens zwischen Vater und Sohn moralisch zu gewichten, ist die Lehrerin ganz auf sich und die Strapazierfähigkeit ihres Konfliktschlichtungstalents gestellt. Kein Wunder also, wenn sie regelmäßig in von Menschenrechtspädagogen geleiteten Fortbildungsseminaren Stärkung zu suchen hat.

Natürlich fehlen „gut“ und „böse“. Statt dessen setzt Stephan Marks auf sozialtechnologische („kontraproduktiv“), kolloquiale („positiv“) oder medizinische („pathologisch“ versus „gesund“) Surrogate, die zwar den Spontanbeifall der Gutgesinnten herbeizurufen, kaum aber jemanden substanziell zu überzeugen vermögen.

Manchmal hat es gar den Anschein, als gehöre Reflexionsaskese zum schamtheoretisch fundierten „Würde“-Programm des Autors und Seminarleiters: „Überflüssige Beschämungen von Zuhörern oder Seminar-Teilnehmenden können vermieden werden, wenn der oder die Referierende sich verständlich ausdrückt: ohne verkomplizierende Schachtelsätze und lateinische Fremdwörter. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Schwerverständlichkeit gleichbedeutend mit akademischem Niveau sei.“

Nun gut, dem sei so. Nur gilt umgekehrt mitnichten, dass stilistische und terminologische Schlichtheit per se Garanten gedanklicher Klarheit und sachlicher Deutlichkeit wären. Jedenfalls sagt Marks sehr verständlich, dass die Sache mit der Menschenwürde sensibel und differenziert anzugehen sei: „Was tun? Auf die Frage kann es naturgemäß keine einfache, allgemeingültige Antwort geben. Vielmehr sind die Antworten ganz individuell, je nach Lebensgeschichten und -umständen jedes Einzelnen. Es gibt nicht den Weg zur Menschenwürde, sondern verschiedene Wege.“ Aus seinen Seminaren hat er eine Reihe von Äußerungen der Teilnehmer mitgebracht, welche die Vielschichtigkeit des Problems veranschaulichen: „Ich singe in einem Chor, dort fühle ich mich geborgen und gemocht.“ Oder: „Wichtig sind für mich meine Hobbys. Ich male gerne und habe neulich einen Bildhauer-Workshop mitgemacht.“ Oder: „Wenn Patienten mir gegenüber übergriffig werden, hilft es mir, mit Kollegen oder der Pflegeleitung darüber zu sprechen.“ Und: „Ich fühle mich in meinem Glauben und in meiner Religionsgemeinschaft aufgehoben.“

Vermutlich wurde die letzte Äußerung vom Seminarleiter aber mit einem Stirnrunzeln quittiert, weil er die „Rolle von Militär und Religion“ prinzipiell überaus kritisch ansieht: „Entwürdigung wird verklärt und überhöht, bezugnehmend auf eine fragwürdige Interpretation des Satzes aus dem Neuen Testament: ‚Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.‘ Diese Verklärung wird auch durch die unzähligen Kruzifixe vermittelt, die in vielen Gegenden Deutschlands alle wenige Kilometer an Straßenrändern zu sehen sind. Dieser Anblick mag uns Deutschen, aufgrund unserer Vergangenheit vertraut sein; für einen außenstehenden Beobachter muss dieser Anblick furchtbar sein. Desgleichen die Innenräume zahlloser Kirchen mit den Darstellungen gekreuzigter, durchbohrter, gedemütigter, verbrannter oder anderweitig gefolterter Menschen. Noch unverständlicher muss es einem Außenstehenden erscheinen, dass dieser Anblick auch vielen Kindern zugemutet wird, Sonntag für Sonntag.“

Sicher, Stephan Marks konzentriert seinen Blick auf Deutschland und dessen „traumatische Vergangenheit“ („vom Dreißigjährigen Krieg und Feudalismus bis hin zum Nationalsozialismus“). Muss man aber deshalb so wirr schreiben? Gibt es Wegeskreuze und Märtyrerbilder nicht auch anderswo? Inwiefern sollte „uns Deutschen“ der Anblick des römischen Mordgeräts vertrauter sein als dem „Außenstehenden“, wer immer das sein mag? Und Dennis, der wahrscheinlich stundenlang vorm PC hockt und da Blut und Hirnsoße verspritzt, erleidet Schaden davon, dass er „Sonntag für Sonntag“ in die Kirche geht, wo er unter dem gekreuzigten Heiland sein Vaterunser spricht? Will Marks alle Kunstmuseen leerräumen? Will er den Isenheimer Altar zerfetzen? Ahnt dieser scham-psychologisch motivierte Autor wirklich nicht, dass der Betrachter eines Kuzifixes von Ernst Barlach oder die vor der Bauernpietà einer Dorfkapelle Betende der Idee der Dignitas hominis vielleicht ebenso nahe sein könnte wie die oder der an einem „Achtsamkeits-Seminar“ Teilnehmende?

Wahrlich: Theorielastiger Tiefgang lässt sich diesem Buch nicht unbedingt nachsagen. Daran ändert auch das Namedropping auf den letzten drei Seiten nichts Entscheidendes. Thomas Müntzer beispielsweise sei Vorbild für „eine Kultur der Menschenwürde“; oder Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Immanuel Kant, Adolph Kolping und Ferdinand Lassalle. Und Ernst Bloch ist auch mit „Heimat“, dem letzten Wort des „Prinzip Hoffnung“, wieder dabei.

Wenn selbst das nicht hilft, bleiben uns noch das Vertrauen in die dem Menschen wunderbarerweise mitgegebene „Resilienz“ (vulgo Stehaufmännchenqualität) sowie die „Sehnsucht und die Grundbedürfnisse nach Schutz, Zugehörigkeit, Integrität und Anerkennung“. Das klingt, zugegeben, schließlich dann doch so gut und schön, dass man Respekt und Anerkennung nicht verweigern kann und möchte. Ergo: Nichts für ungut, geschätzter und lieber Herr Autor!

Titelbild

Stephan Marks: Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010.
240 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783579067551

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