Seine Träume hüten

Die Traumprotokolle der surrealistischen Künstlerin Meret Oppenheim

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Meret Oppenheim nach der Daseinsberechtigung moderner Kunst befragte, den erinnerte die Malerin gern an eine Beobachtung von C. G. Jung. Der Tiefenpsychologe war in Afrika einmal einem Stammeshäuptling begegnet, der morgens seine Krieger um sich versammelte und ihnen berichtete, was er in der Nacht geträumt hatte. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass seine Träume wichtig waren – für ihn selbst genauso wie für die Gemeinschaft. Künstler, die dem Publikum ihre Werke präsentierten, verhielten sich nicht anders als dieser Stammesfürst, glaubte Oppenheim.

„II. 65 / Bin im Haus von Freunden. Man schickt mich, um zu sehen, ob noch etwas im Garten ist das man versorgen muss (weil es regnen könnte, oder Nacht wird). Ich gehe bis hinten, wo ich auf einer Bank zwei Wolldecken sehe. Wie ich genauer hinschaue, sehe ich dass ein menschlicher Körper darunter ist. Es ist meine Schwester. Sie scheint tot zu sein. Nahe am Verwesen. Ich drücke sie an mich. Sie erwacht. Ich sage ihr, dass sie so tot ausgehen habe, dass ich dachte, dass jetzt dann gleich Pilze auf ihr wachsen. Sie ist wieder ganz lebendig.“

Zwischen den Werken Oppenheims und ihren Träumen gibt es auffällige Parallelen. Als Malerin und Objektkünstlerin wurde die Deutsch-Schweizerin jahrzehntelang unterschätzt. Seit Man Ray sie 1933 nackt mit ölverschmierter Hand vor einer Druckerpresse fotografiert hatte, galt sie wahlweise als Ikone oder Groupie der Pariser Surrealisten. Auch zeichneten sich ihre Arbeiten durch keinen individuellen „Stil“ aus, anders als die ihrer Freunde Marcel Duchamp oder Alberto Giacometti. Dass es ihr gerade darum ging, das Eigenleben ihrer Fundstücke zu erforschen, ihr Verwandlungspotenzial, entging lange Zeit der Kritik. Das beste Beispiel dafür ist ihr berühmtestes Werk, die „Pelztasse“ von 1936: eines der meistzitierten Werke des Surrealismus und Sinnbild eines träumenden Gegenstandes.

Radikal, uneitel und schutzlos lieferte sich Oppenheim als Künstlerin ihren Werken und Einfällen aus, und lakonisch, staunend und frei von Stilisierungen sind auch ihre Traumprotokolle. Ein Leben lang sammelte Meret Oppenheim ihre Träume; kurz vor ihrem Tod übergab sie ihre Aufzeichnungen Christiane Meyer-Thoss zur Veröffentlichung. Oppenheims neugierig-ungerührter Blick gerade auf makabre oder entsetzliche Gegenstände erinnert manchmal an Ernst Jüngers „Abenteuerliches Herz“: „9. Januar 1936 Ich bin in einem Menschenschlachthaus. Überall liegen und hängen abgehäutete blutige Körper, wie in einer grossen Metzgerei. Den Wänden entlang bis zur Decke Gestelle auf denen die Körper liegen, einer auf dem andern. An einem der Gestelle steht eine Leiter. Ich bin nackt. Ich steige hinauf und lege mich auf den obersten Körper (einen männlichen Körper), und ‚mache die Liebe‘ mit ihm. Plötzlich richtet er sich auf, stösst ein furchtbares ‚Huuuh‘ aus und ich spüre, dass er mir mit einer Säge über den Rücken fährt.“

Nach dem Aufwachen erschien dieser Traum der Künstlerin als Warnung, dass sie ihr wüstes Leben in der Pariser Boheme nun langsam beenden sollte. Die meisten der von ihr festgehaltenen Träume bleiben jedoch frei von Deutungen oder Angaben zu den jeweiligen Lebensumständen. Einzelne wiederum erfahren noch nach Jahrzehnten ausführliche Kommentare. Oppenheim hütete ihre Träume, beschäftigte sich gerade in krisenhaften Phasen immer wieder mit ihnen. Auffallend ist der Zusammenhang zwischen Traumerleben und Kreativität. Als sie nach ihrem frühen Erfolg als „Muse der Surrealisten“ in den 1930er-Jahren in Paris Gefahr lief, von ihrem Image erdrückt zu werden, geriet sie in eine Schaffenskrise, die bis 1954 andauerte – eine Zeit, in der auch ihre Träume versiegten, wie Oppenheim kommentiert. Mitte der 1950er-Jahre erwachte beides, Kunst und Traum, aufs Neue.

Anders als für die Surrealisten war für Oppenheim nicht Sigmund Freud die Autorität in Sachen Traumdeutung, sondern C. G. Jung. Jungs Theorie, wonach das menschliche Seelenleben stets zweipolig sei, jeder Mensch männliche und weibliche Seelenanteile aufweise, wurde für Oppenheim zentral, gerade in Auseinandersetzung mit der schwierigen Situation als Künstlerin in einem von Männern dominierten Kunstbetrieb: Mit Losungen wie „Der Geist ist androgyn!“ und „Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen“ provozierte sie ihre männlichen Kollegen ebenso wie Feministinnen. Von Oppenheims Suche nach einer ganzheitlichen, die Geschlechterdifferenz überwindenden Existenz künden gerade viele ihrer späten Träume: „6. März 84, Carona. Ein Park. Ich liege seitlich im Gras. Mir zugewandt, an meinem Rücken, in mir, ein Homosexueller. Vor mir, auf dem Rücken liegend, ein Transsexueller. Ohne Brüste. Meiner Hand liegt halb in seiner Vagina. Grosses Wollustgefühl. / Ich erwache. Sage mir, noch halb im Traum: Ja, das wäre es, das würde mir gefallen! / Welche Rolle spiele ich? Die des Hermaphroditen?“

Oppenheim nutzte ihre Träume als Instrument zur Selbsterkundung, aber auch als Inspirationsquelle. Noch ihr spätes Werk, der „Oppenheimbrunnen“ am Berner Waisenhausplatz, geht auf einen Traum zurück: Als Fünfzehnjährige hatte sie die Vision einer von spiralförmigem Dunst umgebenen Säule; über 50 Jahre später diente ihr dieses Motiv als Vorlage für die in Bern heftig umstrittene Brunnenskulptur.

Zu den wiederkehrenden Themen in Oppenheims Träumen gehört der Tod. Im Traum sagte jemand von einem, der gestorben war: „Er hat den Mantel des Lebens genommen.“ 1949 träumte die Künstlerin, sie stehe in einem gotischen Dom vor der Statue eines Heiligen, der eine Sanduhr in der Hand hält. Plötzlich dreht der Heilige die Sanduhr um. Meret Oppenheim erschien dieses Bild, kurz vor ihrem 36. Geburtstag, wie eine Ankündigung, nun sei die Hälfte ihres Lebens vorbei. Man spüre ihre verhaltene Freude, so als hätte das Halbzeitgefühl die Künstlerin über Nacht zur glücklichen Überlebenden gemacht, kommentiert die Herausgeberin in ihrem kenntnisreichen Nachwort diesen Traum. Meret Oppenheim starb 1985, im Alter von 72 Jahren.

Titelbild

Meret Oppenheim: Träume. Aufzeichnungen 1928-1985.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
116 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783518224595

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