Geschichte in Geschichten erzählt

In ihrem spannenden Roman „Die Welt im Frühling verlassen“ schildert Herma Kennel Zwänge und Ängste tschechischer Widerstandskämpfer gegen die Nazibesatzung

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman „Die Welt im Frühling verlassen“ widmet sich der sogenannten „Protektoratszeit“ in den böhmischen Ländern aus der Perspektive junger Tschechen, die sich nicht tatenlos einer skrupellosen Herrschaft von Okkupanten beugen wollten. In gewohnt ansprechender Weise gelingt es Herma Kennel, Charaktere zu porträtieren. Geschickt werden Spannungsbögen hergestellt.

Die junge Božena fälscht auf dem Arbeitsamt, um den Widerstand zu unterstützen, auch die Papiere von Jaroslav. Ihre zarte Liebesbeziehung wird zunehmend von den brutalen Ereignissen überschattet. Um der Sicherheit ihrer Freunde willen weigert sich Božena, in den Untergrund abzutauchen und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

Kennel möchte „Geschichte in Geschichten erzählen“ – und das gelingt ihr in ausgezeichneter Weise. Holzschnittartige Charakterdarstellungen sind Kennels Sache ebensowenig, wie Schwarz-Weiß-Zeichnungen im deutsch-tschechischen Beziehungsgeflecht. Bedrückend sind die unzähligen Denunziationen der eigenen Landsleute, denen sich die jungen tschechischen Kämpfer ausgesetzt sehen.

Die Widerstandsgruppe gerät Ende Januar 1945, nachdem sie einen Polizeiposten in Unter Rosinka/Dolní Rožinka überfallen hatte, in das Visier der Gestapo. Das Versteck, in das sich die Mitglieder zurückgezogen hatten, wird aufgespürt. Noch im Geschützdonner der anrückenden Alliierten entfaltet der deutsche Machtapparat seine grausame Effizienz. Ein Teil der Widerständler, darunter ihr Anführer Milan Genserek, wird am 16. April 1945 in Brünn erschossen. Bereits Anfang April wurden die übrigen Mitglieder im KZ Mauthausen ermordet.

Neben der erzählerischen Kunst kommen Kennels Roman die jahrelange Recherche von Dokumenten wie auch ihre Konktakte zu Zeitzeugen zugute. In einer umfangreichen „Nachgeschichte“ informiert die Autorin in biografischen Daten über das Schicksal und den weiteren Werdegang der Akteure dieses Romans nach Kriegsende 1945.

Bereits im Jahr 2003 hatte Herma Kennel mit dem Roman „Bergersdorf“ einen Tatsachenroman vorgelegt, der die Vorgänge in den 1930er- und 1940er-Jahren in einem kleinen Dorf nördlich von Iglau, dem heutigen Jihlava, beschreibt. Sie hätte es sich wohl nicht träumen lassen, welche Auswirkungen ihre Veröffentlichung hervorrufen sollte.

Aufgrund dieses Romans wurden im mährischen Dobrenz/Dobronín sterbliche Überreste ausgegraben. Für den tschechischen Regisseur David Vondracek war dies ein weiterer Anlass, seine filmische Dokumentation über die Vertreibung der Deutschen fortzusetzen. „Töten auf Tschechisch“ wurde in Tschechien im Fernsehen ausgestrahlt und hatte zu heftigen Diskussionen geführt. Der Film „Habermann“ von Juraj Herz ergänzte diese Serie der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Ganz offensichtlich war ein Nerv getroffen.

In „Bergersdorf“ wird erzählt, wie die deutsche Bevölkerung auf das „Münchner Abkommen“ vom September 1938, die daraufhin folgende Besetzung der Sudetengebiete und wenig später auch die des restlichen Böhmens und Mährens reagierte. Die Dankbarkeit über diese „Befreiung“ schlug hohe Wellen: „Endlich sind wir nicht mehr dem Terror der Tschechen ausgeliefert, dem Führer sei’s gedankt!“

Natürlich war das Wort vom „tschechischen Terror“ genauso übertrieben wie die einstmalige Metapher tschechischer Nationalisten über das „Habsburger Völkergefängnis“. Der maßlose Hochmut der arischen Herrenmenschen mündete schließlich 1945 in die grausame Willkür der Sieger.

Es kann nicht darum gehen, begangenes Unrecht aufzurechnen. Boženas Vermächtnis ist dann erfüllt, wenn zwei freie Länder ihre Nachbarschaft offen und ehrlich wiederbeleben. Obskurantisten jeglicher Couleur haben in jenem Moment das Nachsehen, wenn nicht Niedertracht, sondern der Wille zum Verstehen über alles, was geschehen ist, die Menschen bewegt. Nicht mehr Hass, sondern Trauer begleitet dann das Erinnern an die begangenen Untaten. Alle Untaten!

Titelbild

Herma Kennel: Die Welt im Frühling verlassen.
Vitalis Buchverlag, Prag 2008.
264 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783899191158

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