Missglückte Aufklärung
Wolfgang Kraushaar versucht, das Verhältnis von Terrorismus und Geheimdiensten in den 1970er-Jahren zu rekonstruieren
Von Jörg Auberg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnmittelbar nach den Ereignissen des „Deutschen Herbstes“ im Jahre 1977 wartete ein junger aufstrebender Sozialwissenschaftler namens Wolfgang Kraushaar mit der Erkenntnis auf, dass die Rote Armee Fraktion (RAF) mit ihren Anschlägen einen unfreiwilligen Hilfsdienst für den „spätestens seit dem Machtantritt Helmut Schmidts grassierenden Legitimationsschwund der SPD“ geleistet habe. Für Kraushaar kündigte sich eine Neuauflage des autoritären Staates an. „Eine Sozialdemokratie, die den ersten Ausnahmezustand in der Bundesrepublik letztlich verantworten muß“, heißt es in dem Beitrag, „hat den ihr vorgesteckten Rahmen des Krisenmanagements überschritten und ist in eine ihr neue Rolle nationaler Identitätsformierung geschlüpft, die sie mit ,Sinngebung‘ ernsthaft auszufüllen gewillt scheint.“
Jahre später stellt sich für Kraushaar die Verquickung von Staat und RAF in einem anderen Licht dar: Die vehemente Kritik, die der junge Sozialwissenschaftler am zunehmend autoritären Charakter der Bundesrepublik, am Aushebeln bürgerlicher Grundrechte und dem Versagen der Medien als „vierter Gewalt“ übte, schwächte sich weitgehend ab (weder würde er die GSG 9 heute noch als „staatlich geschütztes Killer-Kommando“ bezeichnen noch von einer „Tragik der Guerilla“ in Bezug auf die RAF reden), während die Vorwürfe gegen „die Linke“ ob ihrer totalitären und antisemitischen Tendenzen in den Vordergrund traten. Auch die billige Analogisierung von Helmut Schmidt und Carl Schmitt verböte sich der mittlerweile allenthalben als „RAF-Experte“ angesehene Angestellte des Hamburger Instituts für Sozialforschung, denn überbordender Radikalismus gereichte dem Autor im Online-Shop des „Spiegel“, den er in seiner Frankfurter Zeit noch als „Regierungspostille der Republik“ tituliert hatte, nur zum Nachteil.
Dort wird auch Kraushaars aktueller Forschungsbericht „Verena Becker und der Verfassungsschutz“ angeboten, der die ungewollten Verstrickungen der RAF in den Staatsschutz noch einmal aufgreift und die Rolle der bundesrepublikanischen Geheimdienste in der Entwicklung des Terrorismus in den 1970er-Jahren zu beleuchten versucht. Hintergrund dieses Buches ist der von Michael Buback, dem Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, geäußerte Verdacht, das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker sei die Todesschützin gewesen und von den staatlichen Behörden vor der strafrechtlichen Verfolgung dieses Mordes bewahrt worden, da sie seit Langem auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes gestanden habe. Die Entstehung verschwörungstheoretischer Fantasiekonstrukte, heißt es in einer sich staatstragend gebenden Verlagswerbung, könne nur verhindert werden, „wenn der Aufklärung eine ernst zu nehmende Chance geboten“ werde.
Die Aufklärung besteht in diesem Fall in einem Whodunit, der Rekonstruktion des Falles mit wissenschaftlichem Instrumentarium, wobei letztlich vom Verlagsmarketing mehr versprochen wird als der weißhaarige Ermittler einzulösen vermag. Kraushaar rekonstruiert den Weg Verena Beckers aus dem radikalen Milieu der ,Schwarzen Hilfe‘ und der ,Bewegung 2. Juni‘ im Westberlin der frühen 1970er-Jahre. Da diese aktionistische Outlaw-Szene im Gegensatz zur RAF in erster Linie die Marginalisierten der Gesellschaft anzog, bot sich dem Berliner Landesamt für Verfassungsschutz die Möglichkeit, diese Gruppen leichter zu infiltrieren, als es bei der RAF im Bundesgebiet der Fall war. So besteht der – allerdings nicht zu belegende – Verdacht, dass Becker, als sie von Bommi Baumann, dem selbsternannten Führungskader der Bewegung 2. Juni, „eingestellt“ wurde, bereits für den Berliner Verfassungsschutz arbeitete. Den Komplex der Verstrickung von Geheimdiensten und Terrorgruppen personalisiert Kraushaar in der Figur von Verena Becker, ohne dass er Einblicke in ihr Innenleben oder ihre Entwicklung zu geben vermag, da er ausschließlich Druck- und Archivquellen verwendet, jedoch keine Interviews mit den handelnden Personen führt. So kann der Forschungstechniker alle verwendeten Waffen mit ihrem Fabrikat benennen oder bei der Beschreibung des Treffens von Siegfried Buback und dem BKA-Präsidenten Horst Herold im April 1977 mit der Information „Es gibt Kaffee und Kuchen“ aufwarten.
Dagegen bleibt die Geschichte, die Kraushaar zu erzählen versucht, vage. Es wimmelt von Formulierungen wie „Die Presse schreibt…“, „ … so wird jedenfalls berichtet…“, „Ein Journalist will aus Sicherheitskreisen erfahren haben…“ oder „Offiziell hatte es damit geheißen…“. In einem langen Exkurs über den als Agent des Verfassungsschutzes von der Bewegung 2. Juni ermordeten Ulrich Schmücker, der letztlich nur die bereits von Stefan Aust und anderen erzählte Geschichte noch einmal referiert, mutmaßt Kraushaar eine „Art Blaupause“ für die Verwicklung des Verfassungsschutzes, ohne dass er dies exemplifizieren könnte. Zudem vernachlässigt Kraushaar die Unterschiede zwischen der Bewegung 2. Juni und der RAF: Sie agierten auf unterschiedlichen Territorien als Rackets, die keineswegs so durchlässig waren, wie Kraushaar suggeriert. In ihrer Autobiografie „Nie war ich furchtloser“ (1996) beschrieb Inge Viett der Übertritt von der Bewegung 2. Juni, die von der RAF 1980 in einer „feindlichen Übernahme“ liquidiert wurde, zur Roten Armee Fraktion: „Der Schritt in die RAF ist ein Schritt in die Fremde.“
Für Kraushaar stehen einzig die Verdachtsmomente im Vordergrund, die gegen Becker und ihre Verstrickung in die Machenschaften des Verfassungsschutzes sprechen: der Verdacht der Unterdrückung von Beweismitteln, die Herausnahme Beckers aus Fahndung und Anklage, die mögliche Manipulation einer Verfassungsschutzakte, Beckers Hafterleichterungen und Haftverschonung. Am Ende bleibt jedoch der etwas magere Befund: „Der Verdacht, dass Becker bereits vor 1977 für den Verfassungsschutz gearbeitet haben könnte, ist und bleibt eine Vermutung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Dies ist jedoch ein etwas dürftiges Resümee für eine Aufklärung, die eine „ernstzunehmende Chance“ darstellen soll. Das Problem besteht nicht allein darin, dass verstrickte Mittäter – wie das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz – Beweismittel verschwinden ließen, sondern auch, dass Kraushaar nicht über die dialektische Fantasie verfügt, um Geschichte jenseits der buchhalterischen Faktenhuberei in den Gegenstand einer Konstruktion zu überführen, die sich nicht einer eindimensionalen Formel des Whodunits unterwirft.
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