Der Müllberg als Archiv

E. L. Doctorows Roman „Homer und Langley“ literarisiert die wahre Geschichte des amerikanischen Brüderpaars Collyer

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Homer und Langley, die Collyer – Brüder, waren ein amerikanischer Mythos. Die beiden Söhne einer wohlhabenden New Yorker Arztfamilie, geboren 1875 und 1881, blieben nach dem frühen Tod ihrer Eltern in deren riesiger Wohnung an der Fifth Avenue in Manhattan wohnen, die sie über die Jahre mit den unmöglichsten Sachen geradezu vollmüllten.

Lange Zeit lebten die spleenigen Junggesellen, die jeden Kontakt mit der Außenwelt vermieden, völlig unbehelligt, ehe 1938 eine Maklerin auf sie aufmerksam wurde, denn sie hatte Interesse an der imposanten Villa. So kam die Geschichte von den kauzigen Brüdern und ihrem Haus in Gang. Schnell machten Gerüchte die Runde: kriminelle Verschwörung, konspirative Treffen oder erotische Ausschweifungen. Dass nie ein Reporter das Haus betreten hatte, befeuerte die Fantasie der Leute noch mehr.

Als die beiden Brüder 1947 starben, hinterließen sie in ihrem Haus weit über hundert Tonnen wertloser Gegenstände: Bücher, Musikinstrumente, medizinische Geräte, Uhren, Musikboxen, Möbel und sogar ein Auto – das berühmte T-Modell von Ford. Daneben hatten die schrulligen Sammler Tausende von Zeitungen gestapelt, dass sich die Hausbalken bogen.

Der amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorow hat sich nun dieser Geschichte, die fast Legendencharakter besitzt, angenommen und sie zu einem Stück Literatur gemacht. Das schwierige Unterfangen, eine allseits bekannte Boulevard-Anekdote, die im historischen Bewusstsein vieler Amerikaner ihren Platz hat, in einem Roman zu gestalten, ist dem Autor wunderbar gelungen. Dabei bedient er sich einiger literarischer Freiheiten. So lässt Doctorow die beiden Brüder nicht 1947 sterben, vielmehr erleben sie die amerikanische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis zum Vietnamkrieg, womit der Roman einen großen historischen Zeitraum überspannt.

Doctorow erzählt die Geschichte aus der Perspektive des blinden Homer, der einen Brief an die französische Schriftstellerin Jacqueline Roux schreibt. Diese hat er zwar nur einmal im Central Park getroffen, doch für ihn verkörpert sie die letzte Hoffnung. Den Brief tippt Homer auf einer Schreibmaschine mit Blindenschrift-Tastatur.

Sein Bruder Langley, der im wirklichen Leben ein Ingenieur war, arbeitet dagegen an dem paradoxen Projekt einer „ewigen Zeitung“. Über Jahrzehnte kauft er täglich Dutzende Zeitungen und filtert daraus die ultimativen Meldungen für eine einzige, universelle Tageszeitung, die jeden Tag ihre Gültigkeit behält. Im Grunde genommen eine geniale Idee, um im Mahlstrom der Informationsflut und der täglichen Sensationen die News von morgen zu prognostizieren.

E. L. Doctorow zeigt zwar, wie sich Homer und Langley in ihrem Mausoleum regelrecht verschanzen, doch er stellt die beiden Brüder nicht als abstruse Sonderlinge dar, sondern als zwei Archivare, die mit ihren Aufzeichnungen und Müllbergen das Amerika des 20. Jahrhunderts bewahren. Nach „Ragtime“ (1975) und „City of God“ (2002) ist Doctorow wieder ein bedeutender Roman gelungen, der seinen Ruf festigt: einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren der USA zu sein.

Titelbild

E. L. Doctorow: Homer and Langley. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
220 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783462042986

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