Sittenkämpfe eines desavouierten Bildungsbürgertums

Sybille Steinbacher zeigt unfreiwillig, dass die frühe Bundesrepublik noch schlimmer war als ihr Ruf

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum war 1949 mit dem Grundgesetz die bisher freiheitlichste Verfassung auf deutschen Boden verabschiedet worden, unternahm die junge Republik, gestützt von allen Parteien einschließlich der Sozialdemokratie und begleitet vom deutlichen Missfallen der Siegermächte, einen ernsthaften Generalangriff auf die Pressefreiheit. Das so genannte Schmutz-und-Schund-Gesetz zum Schutze der angeblich gefährdeten minderjährigen Jugend strebte nichts weniger an als die umfassende Zensur eines rasch überbordenden Angebots erotischer Schriften und Illustrierten und löste damit eine jahrelange politische Debatte in Konrad Adenauers prosperierendem Weststaat aus.

Noch einmal formierte sich ein Bündnis der Unentwegten aus Bildungsbürgertum und Kirche, die schon seit der Kaiserzeit gegen die aufziehende Moderne polemisiert hatten und offenbar nichts so sehr fürchteten wie die Befreiung der Frau aus den Fesseln einer überkommenen und bigotten Sexualmoral. In dem noch mehrheitlich religiös oder nationalkonservativ geprägten Weltbild der westdeutschen Führungsschicht war Sexualität keineswegs eine Privatangelegenheit, sondern in ihrer durch die geheiligte Ehe domestizierten Form ein Pfeiler der sozialen Ordnung, die ausschließlich der Fortpflanzung zu dienen hatte.

War aber der konservative Widerstand gegen die drohende Neudeutung der Sexualität als Mittel individueller Daseinssteigerung und Lebenserfüllung tatsächlich nur ein Randphänomen einiger Unentwegter, wie es Sybille Steinbacher in ihrer Untersuchung über die Rolle der Sexualität in der frühen Bundesrepublik behauptet? Ist das historische Paradigma von den moralisch repressiven 1950er-Jahren tatsächlich nur ein Zerrbild? Die Protagonisten der geistigen Reaktion waren nicht wenige und sie besaßen Einfluss. Zu ihnen zählte nicht nur der Kölner Nachkriegskardinal Joseph Frings oder der ihm nahe stehende langjährige Geschäftsführer des berüchtigten Volkswartbundes Michael Calmes. Auch in Politik und Justiz der jungen Bundesrepublik fand die Verteidigung so genannter europäischer Werte gegen die transatlantische Massenkultur und ihren Sexismus lautstarke Befürworter.

Folgt man der in Wien lehrenden Historikerin, war die Debatte über die scheinbar drohende Erosion von Familie und Gesellschaft nur Teil eines komplexen sozialpsychologischen Prozesses, in dem sich Vorbehalte gegen eine überfremdende Amerikanisierung ebenso äußerten wie Bestrebungen, Nationalsozialismus und Niederlage als bedauerliche Abweichungen vom Königspfad überzeitlicher europäischer Werte zu verdrängen und zu bagatellisieren.

Tatsächlich aber hatten Diktatur, Krieg und Besatzung, so Steinbacher, die deutsche Gesellschaft längst in ihren überkommenen Grundfesten erschüttert. Nicht etwa freizügige Massenmedien oder ein angeblich sittenloser Kulturbetrieb, sondern die von den Nationalkonservativen mitgetragene kriegerische Politik des NS-Regimes hatte zahllose Familien zerrissen, ihrer Ernährer beraubt und die hoch gehaltene eheliche Treue durch die Auslösung einer in der europäischen Geschichte einzigartigen Völkerwanderung massiv in Frage gestellt.

Die deutsche Gesellschaft war längst in Trümmer zerschlagen und der konservative Kampf um Sittlichkeit und Anstand diente somit durchaus nicht der Bewahrung einer tradierten moralischen Ordnung, sondern war der – allerdings von Beginn an zum Scheitern verurteilte – Versuch der Restitution eines mythisch verklärten abendländischen Sittlichkeitsideals, das so tatsächlich nie existiert hatte. In den breiten politischen und publizistischen Widerstand gegen die Aufsehen erregenden Studien des Amerikaners Alfred Kinsey mischte sich daher auch unübersehbar, so Steinbacher, die Kulturarroganz einer durch Nationalsozialismus, Niederlage und Entnazifizierung desavouierten und gekränkten politischen Elite. Der importierten konsumorientierten Individualmoral, die den Sex angeblich zu einer Ware degradierte, versuchten ehemals dem NS-Regime nahe stehende Autoren wie der Soziologe Helmut Schelsky das bildungsbürgerliche Ideal einer von Tiefe und Innerlichkeit geprägten europäischen Weltanschauung entgegen zu stellen. Gegenüber dem scheinbar blanken Materialismus einer Kultur der Statistik jenseits des Atlantiks reklamierten Ärzte, Psychologen und Sozialwissenschaftler die Einbindung von Seele, Geist und Liebe in das Bild der Sexualität.

Besonders irritierend wirkte auf die selbsternannten Hüter der deutschen Nachkriegsmoral die amerikanische Frau, die offenbar, folgte man Kinsey zweiten Band über die weibliche Sexualität, unabhängig und selbstbestimmt eine aktive Rolle im Geschlechterverhältnis spielte. Es wundert daher kaum, dass in der Bundesrepublik den geschäftlichen Aktivitäten einer Frau wie Beate Uhse, die im Krieg Kampfflugzeuge an die Front überführt hatte, alle erdenklichen juristischen Schwierigkeiten in den Weg gelegt wurden. Die von Steinbacher in beinahe hagiografischen Tönen beschriebene Betreiberin eines überaus profitablen Versandhandels von so genannten Hygieneartikeln und erotischer Literatur, eine Jeanne d’Arc der sexuellen Selbstbestimmung, widersprach vollkommen dem Idealbild der westdeutschen Hausfrauenrepublik. Gerade als erfolgreiche Unternehmerin drohte sie das ohnehin schon angeschlagene Selbstbild einer durch Kriegsniederlage und Gefangenschaft gedemütigten Männerwelt in Frage zu stellen. Die Debatte um das so genannte Schmutz-und-Schund-Gesetz wie auch die nationale Aufregung um die Kinsey-Reporte oder der juristischen Krieg gegen Beate Uhse waren nur die sichtbarsten Marksteine einer breiten und lang anhaltenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Sexualität, die Steinbacher in ihrer fraglosen lesenwerten Studie zu einem gelungenen kulturgeschichtlichen Porträt der frühen Bundesrepublik verdichtet hat. Dabei zeichnet sie – manchmal allerdings zu ausführlich – die akademischen Debatten ebenso nach wie auch die in Illustrierten und Leserbriefen geäußerte öffentliche Meinung zur Sexualmoral und ordnet sie zugleich in den breiteren Kontext einer durch Krieg und Niederlage gezeichneten allgemeinen Befindlichkeit. Darin mutierte oft der Trotz der Besiegten zu einem kulturellen Dünkel gegenüber der Siegermacht Amerika, zu dessen Grundpfeilern auch eine rigide Sexualmoral zählte.

Fraglich bleibt allerdings, ob sich der bundesrepublikanische Widerstand gegen eine moderne Sexualmoral tatsächlich, wie es Steinbacher wiederholt betont, als ein Rückzugsgefecht einiger Unentwegter deuten lässt. Zwar waren Figuren wie Micheal Calmes, der umtriebige Geschäftsführer des denunziatorischen Volkswartbundes oder der Bundesfamilienminister Franz Josef Wuermeling eher skurrile Erscheinungen, aber keineswegs isoliert, sondern mit beachtlichem Einfluss in Politik und Rechtsprechung. Die breite Verankerung ihrer moralischen Vorstellungen zeigte sich auch daran, dass selbst noch im Jahre 1968 auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte ein Prozess gegen den Münchener Verleger Kurt Desch eröffnet wurde, weil er „Die Memoiren der Funny Hill“, ein Buch aus dem 18. Jahrhundert, veröffentlicht hatte.

Da der heutzutage harmlos erscheinende Text in seiner ganzen Länge vom Gericht verlesen wurde, erreichte der Besucherandrang zu den Verhandlungen am Münchner Landgericht ein Rekordniveau. Die Zusammenarbeit zwischen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und der bundesdeutschen Justiz funktionierte noch lange nach Adenauers politischem Abgang reibungslos. Steinbacher vermerkt dazu nur sarkastisch und etwas selbstwidersprüchlich: Auf dem Aktionsfeld „Schmutz und Schund“ war binnen kurzem möglich, was mit Blick auf die Ahndung von NS-Verbrechen noch jahrelang auf sich warten ließ, die Schaffung organisatorischer Grundlagen zur systematischen Verfolgung und Bestrafung von Tätern. Nach einem politischen Randdasein der Sittenwächter klingt das allerdings nicht.

Es scheint also doch alles beim Alten zu bleiben: Erst die Studentenrevolte und die sozialliberale Koalition brachten die entscheidende Trendwende im öffentlichen Bewusstsein, die es sogar möglich machte, dass 1975, nur sieben Jahre nach dem peinlichen Fanny-Hill-Prozess, mit Hermann Höcherl ein CSU-Mann und ehemaliger Bundesinnerminister sogar ein ausführliches Interview im Playboy geben konnte, ohne sich damit zu diskreditieren.

Sybille Steinbacher hat mit ihrer überarbeiteten Habilitationsschrift eine lesenwerte und facettenreiche Studie der Bundesrepublik unter Adenauer vorgelegt. Ihre Kernthese von der frühen geistigen Trendwende in der Debatte um Sittlichkeit und Anstand überzeugt allerdings nicht.

Titelbild

Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik.
Siedler Verlag, München 2011.
575 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783886809776

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