Gelehrte Kabinettstückchen

In seinem lexikalischen Handbuch „Alles, was man braucht“ erfrischt Lars Gustafsson mit Pointen des Lebens

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lars Gustafsson gehört in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1970er-Jahren zu den bekanntesten schwedischen Autoren, also schon lange bevor die Seuche vieler blutrünstiger skandinavischer Kriminalromane den Blick auf qualitätvolle Literatur aus Europas Norden zunehmend verstellte. Ja, man kann sogar sagen, dass Gustafsson im deutschsprachigen Raum zeitweise populärer war als in Schweden. Denn er war nicht nur ein großartiger Romancier, sondern auch ein politisch-philosophischer Autor, der in der Nach-’68er-Zeit zur literarischen Bohème Westberlins zählte, als Schwede jedoch nicht den Reisebeschränkungen seiner deutschen Kollegen unterworfen war. Man kann ihn, ähnlich wie den ihm geistesverwandten Allgäuer Hans Magnus Enzensberger, als einen der originellsten, unabhängigen Denker und Literaten der vergangenen vierzig Jahre bezeichnen.

Sein nun vorliegendes Buch mit dem etwas merkwürdigen Titel „Alles, was man braucht“ ist eine Art Lexikon. Von „Abraxas“ bis zum mutmaßlichen deutschen Neologismus „Zwillingschaft und andere Liebe“ reichen die Anmerkungen, Erläuterungen, Kolumnen und Glossen, die Gustafsson zusammen mit seiner Frau Agneta Blomqvist in diesem Buch versammelt hat. Die meisten Beiträge stammen leicht erkennbar von Gustafsson, dessen Stil und Themen wesentlich anspruchsvoller sind als die seiner Gattin, einer ehemaligen Religionslehrerin. Aber anders, als der deutsche Untertitel nahelegt, sind die meisten Beiträge nicht unbedingt das, was man braucht. Das ist hier nicht nur negativ gemeint, denn viele Beiträge sind durchaus im Sinne Gustafssons Spielereien, nicht unmittelbar verwertbar, aber dennoch hübsch. Dazu zählen so überflüssige Überlegungen wie die „Erinnerung an eine Wolke“, Gedanken über „Labyrinthe“ oder „Wimbledon 1937“.

Es gibt aber auch ganz ernsthafte, oft philosophische Miszellen wie die über „Cogito – ergo sum“ oder „Nichts“, gelehrte Kabinettsstückchen, denen nicht selten eine überraschende Pointe eigen ist. Und es gibt sehr viele banale Beiträge, die vielleicht irgendwann einmal als schnelle Zeitungsglosse ihre Berechtigung hatten, im Buch aber merkwürdig schwachbrüstig wirken, wie etwa der Beitrag „Countertenor“, in dem eine Beobachtung in den Stockholmer Stadtbussen zu einer etwas eitlen Selbstbespiegelung über die Lesung der eigenen Werke aufgeblasen wird.

Und hier kommt auch schon das eigentliche Problem dieses Buchs zum Vorschein: Es ist der Versuch eines verdient Altgewordenen, einer eher zufälligen Sammlung durch den Lexikoncharakter eine gewichtige Form zu geben. In dem Artikel „Emeritusgemeinheit“ beschreibt Gustafsson schön ironisch, in welche Falle man als verdienstvoller Alter tappen kann: Für das Alter sei es „eine gefährliche und destruktive Versuchung […] sich in Dinge einzumischen, mit denen man nichts mehr zu tun hat. Oder – mit anderen Worten – man sollte den Mut haben, einzusehen, dass die eigene Anwesenheit nicht mehr benötigt wird.“ Er kommt zu dem Schluss: „Jenseits der siebzig spricht der kluge Geront nur dann schlecht über Altersgenossen und Nachrückende, wenn es eine absolute moralische Notwendigkeit gibt. Ein kluger Geront ist großzügig, wohlwollend und hört mehr zu als er redet. Und vor allem mischt er sich nicht allzu sehr in sein verflossenes Leben ein.“

Da mischt sich viel Ironie, vielleicht sogar Selbstironie in die Beobachtung von Emeriti, von denen Gustafsson ja einer ist. Doch bei manchen Artikeln hat sich der Rezensent gedacht, si tacuisses…. Vor allem dann, wenn der Philosoph zur Geschwätzigkeit neigt. Dabei hätte Gustafsson das gar nicht nötig. Seine nicht selten unkonventionelle Sicht auf die Dinge des Lebens, der Literatur und der Philosophie ist erfrischend und daher lesenswert. Wie zum Beispiel im Beitrag über „Odysseus und die Sirenen“, wo er sich fragt, warum die fürsorgliche Kirke Odysseus unbedingt die Gelegenheit verschaffen will, dem Gesang der Sirenen zu lauschen, der doch als sehr gefährlich gilt. Wenn er in guter philosophischer Tradition sich fragend vortastet, ist es ganz oft ein Genuss, mit ihm auf diesen Wegen zu schweifen.

Wir haben es bei der deutschsprachigen Ausgabe dieses Sammelsuriums mit der Übersetzung aus dem Schwedischen zu tun. Gustafsson hat in Verena Reichel, die die meisten seiner Werke ins Deutsche gebracht hat, eine ausgesprochen gute und versierte Übersetzerin. So viel Glück ist wenigen Autorinnen und Autoren beschieden. Gerade weil Verena Reichel zu den besten Übersetzerinnen aus dem Schwedischen gehört, darf man an dieser Stelle, ohne ihre Leistung zu schmälern, exemplarisch auf ein Übersetzungsproblem hinweisen. Es betrifft den Eintrag zum Begriff „Promenade“. Im großen Wörterbuch der deutschen Sprache des Duden wird Promenade im Sinne von „Spaziergang, bes. auf einer Promenade“ als veraltend bezeichnet und „promenieren“ mit „an einem belebten Ort, auf einer Promenade o.Ä. langsam auf und ab gehen“ erklärt und der gehobenen Sprache zugeordnet. Im Schwedischen dagegen bedeutet es einfach und ganz alltäglich nur spazieren gehen.

Die Übersetzerin steht damit vor einem riesigen, im Grunde unlösbaren Problem, das dadurch, dass Gustafsson aus einem schwedischen Synonymwörterbuch beziehungsweise aus dem Wörterbuch der Schwedischen Akademie (SAOB) zitiert, nicht unbedingt geringer wird. Verena Reichel hat sich dafür entschieden, das schwedische „promenad“ ungeachtet der verschiedenen Konnotationen eins zu eins mit „Promenade“ zu übersetzen, was dem ganzen Artikel leider etwas leicht Verschrobenes gibt. Die Übernahme der schwedischen Wörterbuchauszüge führt zudem zu der umwerfenden Erklärung, eine Promenade sei „die Handlung zu promenieren“. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, statt aus dem SAOB aus dem großen Wörterbuch des Duden oder einem anderen deutschen Wörterbuch zu zitieren, was allerdings die Differenz der Sprachebenen nicht gelöst und zusätzlich die Realien verändert hätte. Denn Lars Gustafsson hat aus einem schwedischen und nicht aus einem deutschen Wörterbuch zitiert. Und Realien dem Land der Zielsprache anzupassen, ist im Grunde nur schwer zu rechtfertigen (außer bei Micky Maus). Oder die Übersetzerin hätte statt des fast als falscher Freund daherkommenden Worts „Promenade“ das deutsche Wort „Spaziergang“ nehmen können, das fast die gleiche Definition wie das aus dem Schwedischen übersetzte Promenade erbracht hätte („Gang […] zur Erholung, zum Vergnügen“).

Damit hätte sie jedoch die Reihenfolge der Artikel verändert, die ein Autor wie Lars Gustafsson jedoch sicherlich bewusst gestaltet hat. Der hat ein Buch zusammengestellt, das wohl komponiert Disparates zwischen zwei Buchdeckel gepresst hat, was in jeder Hinsicht für den Leser eine Herausforderung ist. Was mit diesem kleinen Diskurs zur Übersetzung gesagt sein will: Man kann die Sache drehen und wenden, wie man will: jede dieser Übersetzungsmöglichkeiten enthält gegenüber dem Original Differenzen, die nicht aufgelöst werden können.

Es wäre schön, wenn sich möglichst viele Leser von Übersetzungen dieser Differenzen bewusst wären, denn dann gäbe es die Chance auf bessere Übersetzungen, vor allem bei Büchern, die der genauen Arbeit wert sind, wozu das Buch von Gustafsson, trotz mancher Schwächen, auf jeden Fall zu zählen ist.

Titelbild

Lars Gustafsson / Agneta Blomqvist: Alles, was man braucht. Ein Handbuch für das Leben.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
336 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446235502

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