Ein bürgerliches Individuum, das kein Bourgeois war

In Memoriam Heinz Steinert

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Es ist schon eine Weile her, dass einer meiner Freunde starb. Wenn es – so wie jetzt am 20. März 2011 – dann doch erneut passiert, bietet es sich an, ein wenig über Freundschaft zu sinnieren.

Wir haben uns angewöhnt, zwischen Verwandten (kann man sich nicht aussuchen, behält man sein Leben lang) und Freunden (sucht man sich aus, behält man oder nicht) zu unterscheiden. Das war sprachlich und gesellschaftlich nicht immer so: Noch bis ins 17. Jahrhundert wurde Freundschaft und Verwandtschaft synonym gebraucht. Wir haben es uns weiterhin angewöhnt, unsere freundschaftlichen Beziehungen nach ihrem jeweils gefühlten Intensitätsgrad abzustufen: von der (flüchtigen) „Bekanntschaft“ über die „Nachbarschaft“, die „Kameradschaft“, die freundschaftliche „Kollegialität“ bis hin zu den „wahren“ Freunden, unter denen dann „die beste Freundin“ und „der beste Freund“ einen ganz ausgezeichneten Platz zugewiesen bekommen. Als „Freunde fürs Leben“ werden dann jene Menschen bezeichnet, bei denen auch lange Unterbrechungen keine Trübung der emotionalen Verbundenheit bewirken kann. Das wären dann jene Menschen, von denen man weiß, dass man sie jederzeit um Hilfe und Beistand bitten kann und diese einander wechselseitig gewährt werden wird. Wir haben uns heute nur deswegen angewöhnt, von solchen Beziehungen nicht als Liebesbeziehungen zu sprechen, weil es sich ebenfalls durchgesetzt hat, dass Freundschaftsbeziehungen nicht den Hauch eines erotischen Nebenklangs haben (dürfen). Auch das war nicht immer so, man denke nur an die romantische Freundschaftsbeziehung zwischen Clemens Brentano und Achim von Arnim.

Mit Freundschaften ist das also so eine Sache: Manche Menschen pflegen Freundschaften (fast) ein ganzes Leben lang, man kennt/kannte sich „von Kindesbeinen“ an. Von dieser Sorte habe ich selbst nur einen einzigen Freund über 43 Jahre lang behalten, keiner der vielen Menschen aus den grauen Vorzeiten von Kindergarten, Schulen und Studium steht sonst noch in meinem Kalender. Der „zweitälteste“ Freund, mit dem ich noch kontinuierlichen Kontakt habe, stammt aus der gleichzeitigen Assistenten-Zeit in München. Der soeben verstorbene Freund Heinz Steinert war ein geradezu „frischer“ Freund, es war eine Beziehung, die sich über einen Zeitraum von sechs Jahren sehr behutsam aus einer kollegialen Beziehung heraus zur Freundschaft hin entwickelte: Von einem langen gemeinsamen Nachmittag und Abend in der Upper West Side im Herbst 2005, wo ich ihn sehr ermutigte, aus seiner Recherche über das grundsätzliche Missverständnis des Sarkastikers Benjamin Franklin durch Max Weber etwas größeres zu machen bis hin zu seiner Einladung zur Korrekturlektüre der Vorfassungen jenes Buches, das nun sein letztes geworden ist.

Es soll hier weder ausführlich über diese Freundschaft noch über diesen verstorbenen Freund selbst berichtet werden, manches lässt sich unschwer nachlesen. Berichten möchte ich jedoch an dieser Stelle von einem seiner geplanten, aber nun nicht mehr von ihm abzuschließenden Projekte, das zum einen viel über diesen verstorbenen Freund aussagt, zum anderen vielleicht jemanden ermutigt, sich dieses Themas anzunehmen. Er selbst hat nur eine kleine Skizze hinterlassen, die jene Richtung illustriert, die er mit dem nicht geschriebenen Buch anzielen wollte: Es geht um das bürgerliche Individuum in den Zeiten des Neoliberalismus. Dass der gebildete und kultivierte Bürger Heinz Steinert, der nie ein Bourgeois gewesen war, am Ende seines Exposés den Sensenmann – der für einen Wiener selbstverständlich ein „alberner“ war – tanzen sehen wollte, liest sich rückblickend wie eine hellsichtige Wahrnehmung: Fare thee well, my friend!

Woody Allens Kaleidoskop der Ironien

Über das Gefühlsleben des Individuums nach seinem historischen Ende

Von Heinz Steinert

Filmanalyse und historische Sozialpsychologie zugleich

Der Zustand der Gesellschaft wird nicht nur in den Theorien und Diagnosen der Soziologie „auf den Begriff gebracht“, er wird, vielleicht sogar sensibler und differenzierter, in der Kunst und nicht zuletzt in den populären Künsten dargestellt. Der Film, der schon seiner Kosten wegen ein nicht ganz kleines Publikum erreichen muss, stellt Gesellschaft so dar, dass mehrere Kategorien von Kinogängern daran Interesse, möglichst sogar Vergnügen haben sollen. Bei einem ungewöhnlichen Literaten, Drehbuchschreiber, Regisseur und Schauspieler wie Woody Allen, dessen Filme nicht (wie alles, was im Kino „Blockbuster“-Aspirationen hat) kulturunspezifisch an Kinder und Jugendliche in aller Welt, sondern an ein erwachsenes Publikum von „Wissensarbeitern“ vor allem in New York und Europa adressiert sind, lassen sich die dargestellten gesellschaftlichen Fragen auch spezifisch identifizieren: Es geht in diesen oft komischen, immer aber ironischen Filmen um das Individuum, wie es bildungsbürgerlich als ausgestattet mit einem komplizierten Innenleben und schwierigen Beziehungen in Arbeit und Liebe, Konkurrenz und Selbstbehauptung, biederer Konformität und Widerständigkeit im 18. Jahrhundert entwickelt, im 19. zelebriert und im 20. aufgelöst wurde.

Woody Allens Filme mit ihrer hohen Ironie und vielfachen Reflektiertheit zeigen besonders differenziert die Auseinandersetzungen der Gebildeten mit den Bedingungen und Zumutungen von Kulturindustrie, ihre Niederlagen und kleinen Siege in diesen Konflikten, ihr hoffnungslos komisches Bemühen um die nicht mehr glaubhafte „Individualität“. Woody Allens Werk soll daher einerseits nach seinen gesellschaftlichen Hintergründen und ihrer Darstellung analysiert, andererseits damit und zu diesem Zweck in seiner künstlerischen Raffinesse und Vielschichtigkeit sichtbar gemacht werden.

Das bürgerliche Individuum war der gegen das „blaue Blut“ des Adels gerichtete Anspruch auf Würde und Beachtlichkeit aufgrund von „Eigen“schaften, die in einer persönlichen Entwicklung erworben wurden. Sein Widerspruch war von Anfang an, dass Individualität in der Beziehung zu anderen entsteht, die uns gut kennen, bürgerlich aber als Besonder- und Einzigartigkeit des Einzelnen verstanden und angestrebt wurde. Individuum sind wir für bestimmte Andere, in einer länger dauernden oder besonders intensiven momentanen Beziehung zu ihnen. Dagegen konstituierte die als „Eigentum“ missverstandene Individualität ein „absolutes Individuum“ (der Robinson der Literatur und der Nutzenmaximierer der Staats- und Wirtschaftstheorie). Dass es nur den Reichen und den Gebildeten überhaupt erreichbar war, verstand sich von selbst. Das 19. Jahrhundert des industriellen Kapitalismus war seine große Zeit, auch wenn Ahnungen des Untergangs (man denke an die „schwarze Romantik“ oder „Madame Bovary“) bereits auftraten.

Die Literaten nach 1900 hatten den gut fundierten Eindruck, mit dem Individuum sei es nicht mehr weit her. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und im Massensterben durch die damals neuen technischen Fernwaffen vom Geschütz und Maschinengewehr über die Fliegerbombe zur Giftgaswolke wurden das Individuelle von Überleben und Sterben und das Heroische des Kampfes darum unglaubwürdig. An den Fließbändern des Fordismus wurde der Wert von qualifizierter Lohnarbeit und damit die Würde des Arbeiters aufgehoben; zusätzlich erfuhren in der Weltwirtschaftskrise neben den Arbeitern auch die Unternehmer, dass ihre Herrschaft über das eigene Schicksal begrenzt war. Die Enthumanisierung wurde in den industriellen Millionentötungen des Zweiten Weltkriegs weiter vorangebracht: Die Frage nach dem Individuum stellte sich ohnehin nicht mehr, die Frage war im KZ bekanntlich vielmehr, „Ist das ein Mensch?“ – in Hiroshima nicht einmal mehr das.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt verschiedene Versuche, mit der so zerstörten Individualität zu leben. Zu retten war sie nicht, wurde vielmehr in neuen Formen der Massenhaftigkeit bis hin zum Zwang zur Selbstmanipulation weiter beschädigt. Der Versuch, im „Wirtschaftswunder“ zur biedermeierlichen Normalität tüchtiger Individuen zurückzukehren, landete in der begrenzten Glaubwürdigkeit von Warenanhäufern, die den jeweiligen Moden nachliefen. Dazu wurde diese Normalität doch etwas gestört von älteren wie jüngeren Leuten, die als Existentialisten oder als Halbstarke, als Hippies oder Beatniks, als antiautoritäre Studenten oder Aktionskünstler, als politische Aktivisten oder nur Freizeit-Haschischraucher beanspruchten, sich im Widerstand gegen die vorgegebene Wohlanständigkeit als autonome Individuen selbst noch in der Masse zu konstituieren. Die Verwechslung von Individualität mit Prominenz setzte spätestens hier machtvoll ein. Dazu kamen die widersprüchliche Individualisierung durch Psychotherapien, später die Verfalls- und Verzweiflungsformen der Psychosekten, warenförmig verallgemeinert zur Esoterik des Geheimwissens untergegangener Kulturen, der körperlichen Ertüchtigung und des Wohlfühlens. Mit dem Hochziehen der Konkurrenz und dem Abbau der kollektiven Absicherungen im Neoliberalismus seit den 1980ern wurde „Individualität“ in einem neuen Sinn als Zwang und Gleichgültigkeit wieder aufgebaut: Jeder für sich und Gott gegen alle.

Woody Allens Filme haben in einer sonst nicht erreichten Vielschichtigkeit das Strampeln dieses Individuums, das nicht mehr möglich ist, dem Gelächter und zugleich der sentimentalen Erinnerung preisgegeben. Weil er das von Anfang an, also seit den 1960ern, am Beispiel der „Wissensarbeiter“ tut (zu denen er als Literat und Filmemacher selbst gehört), bieten seine bisher dreiundvierzig Filme (als Regisseur) nicht nur einen Querschnitt der Formen, in denen in dieser Position am Individuum und seinen Unmöglichkeiten gearbeitet wird, sondern ebenso einen Längsschnitt: Wie haben sich in fast einem halben Jahrhundert und zwischen Fordismus und Neoliberalismus die Probleme der Individualität entwickelt? Das geschieht zugleich in einem nicht alltäglichen Maß von Reflexivität und Selbstironie.

Es wird in dem Buch eine angemessen komplexe Analyse des Werks von Woody Allen geboten. Im Gegensatz zu fast allem, was dazu auf dem Markt ist, wird weder mit der üblichen chronologischen Darstellung der Filme, noch in der Abbildung auf die Biografie des Regisseurs gearbeitet. Es werden vielmehr Themen und Motive identifiziert und im Gesamtwerk analysiert, das als das filmische Analogon zu einer (sich noch weiter ausbauenden) Novellensammlung verstanden wird. An diesem Material wird zugleich die Sozialgeschichte der gesellschaftlichen Figur „Individuum“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht. Die beiden Stränge der Darstellung – Filmanalyse und historische Sozialpsychologie – wechseln sich im Aufbau des Textes eng auf einander bezogen ab.

Das literarische und filmische Werk Woody Allens: Rahmungen und Motive

Woody Allen gehört wie Chaplin zu den wenigen Filmemachern, die sich durch die Übernahme mehrerer Schlüsselfunktionen (Buch, Regie, Hauptdarsteller), ein stabiles Team und eine ebensolche Produktionsfirma hohe künstlerische Autonomie organisieren konnten – vergleichbar ist heute noch Clint Eastwood als Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller, der allerdings seine Filme nicht schreibt, sondern (sorglich ausgewählt, versteht sich) Stoffe einkauft. Andere Filmautoren wie Welles, Hitchcock, Fellini, Truffaut oder Jarmusch konnten und können ihr arbeitsteilig produziertes Werk weniger bestimmen.  Deutlicher als anderen kann man Woody Allen also ein eigenes Werk zuschreiben. Für alle seine bisher dreiundvierzig Filme als Regisseur hat er auch das Buch geschrieben, aber in sechzehn, also einem guten Drittel davon tritt er (besonders in den letzten Jahren) nicht als Schauspieler auf. Dazu kommen Filme, bei denen Woody Allen nicht Regie führt, für die er nur das Buch geschrieben hat oder in denen er nur als Schauspieler auftritt. Dazu gehört „Play It Again, Sam“ (1972), das auf einem Theaterstück Allens beruht und in dem er unter der Regie von Herbert Ross die Hauptrolle spielt, ebenso wie in „The Front“ (1976) von Martin Ritt, Regie, und Walter Bernstein, Buch – beide aber das Genre definierende „Woody-Allen-Filme“. Auch „Scenes from a Mall“ (1991) von Paul Mazursky und „Picking Up the Pieces“ (2000) von Alfonso Arau fallen so wenig aus dem Rahmen wie der Auftritt mit Peter Falk in dem Klassiker des Boulevard-Theaters „The Sunshine Boys“ (1995).

Woody Allens Werk enthält aber dazu vier Bücher: Sammlungen von Kurzgeschichten („Getting Even“, 1971; „Without Feathers“, 1975; „Side Effects“, 1980; „Mere Anarchy“, 2007), und mehrere Theaterstücke (zum Teil verfilmt). Kaum (jedenfalls nicht zugänglich) dokumentiert ist seine frühe Arbeit fürs Fernsehen, etwas besser (auf CD) die als Stand-up Comedian in den 1960er-Jahren. Es ist aber auch aus den meisten seiner Filme deutlich, dass er literarisch denkt und arbeitet. Natürlich ist er komisch als Schauspieler und verfügt also über die Körper-Komik des Clowns und den Sprachwitz des Komödianten. Aber seine Filme zeichnen sich durch ihre literarischen Qualitäten aus, durch die Geschichten, die sie erzählen, durch ihre Einordnung in die filmische wie die literarische Tradition des europäisch-amerikanischen Lachtheaters. Nicht zuletzt deshalb werden sie von einer Gemeinde geschätzt, die zumindest gelegentlich anders unterhalten werden möchte als durch „action“, Spannung, Klamauk und ähnliche Häppchenkost. Das Verhältnis von Körper-Komik, Sprachwitz und vielfältig literarischer Ironie zu bestimmen, ist eine der Aufgaben einer angemessenen Interpretation von Woody Allens Filmen.

Woody Allens filmisches Werk als Regisseur ist literarisch am besten als eine Novellensammlung (in der Tradition von Boccaccio über Maupassant bis Tschechow, dazu der englischsprachigen Short Story) zu verstehen, die sich von Jahr zu Jahr und über die Jahrzehnte entwickelt. Die Sammlung besteht in der Hauptsache aus Novellen, also Erzählungen mittleren Umfangs, oft selbst wieder gerahmt, in denen eine begrenzte Handlung mit offenen Enden ausgeführt wird. Dazwischen gibt es short stories, die eine Sentenz (etwa: „I can direct such a movie blind“ in „Hollywood Ending“) mehr oder weniger paradox illustrieren, vor allem aber einzelne große Romane, in denen bestimmte Motive ausführlich und verzweigt durchgeführt sind.

Der große Rahmen, der diesen Zyklus zusammenhält, ist die Kunstfigur „Woody Allen“, bestehend aus einem Promi des New Yorker bis internationalen Klatsches, einem Autor und Regisseur und einem Schauspieler. Die Filme werden gern als autobiografische Äußerungen und Darstellungen des Weltbilds aller drei, jedenfalls aber des Autors und Regisseurs verstanden. Tatsächlich handelt es sich hier um eine kulturindustriell hergestellte Kunstfigur – entstanden 1952, als der damals siebzehnjährige Allan Stewart Konigsberg erst seine Witze und dann seine Auftritte als Stand-up Comedian, schließlich seine Bücher und Filme unter diesem Namen zu verkaufen begann. Seit den 1960er-Jahren wird sie besonders von Journalisten und Biografen, Filmkritikern und Fans hergestellt. Aber auch der Autor und seine Produktions- und Verleihfirma und vor allem der Darsteller spielen aktiv damit. Der Mensch, der als Allan Stewart Konigsberg 1935 in Brooklyn geboren wurde, schützt sich einerseits mit dieser „persona“, andererseits präsentiert er sich so der Öffentlichkeit. Diese vielschichtige Figur „Woody Allen“ ist selbst Teil des Werks und muss als sein Rahmen untersucht werden. Das Material dafür sind Interviews und Biografien, aber auch bestimmte Auftritte in den Filmen und der dokumentarische Film „Wild Man Blues“ von Barbara Kopple (1997).

Diese Figur „Woody Allen“ ist dem Publikum bekannt als der Schreiber und Regisseur von bisher dreiundvierzig Filmen, in vielen von ihnen (und etlichen von anderen Regisseuren) tritt sie auch als Schauspieler auf und verkörpert weitere Figuren. Es fällt uns aber schwer, diese Bankräuber, Filmkritiker, TV-Produzenten, Privatdetektive, Zauberer und so weiter so von der Rolle zu lösen, wie das etwa bei Dustin Hoffman oder Al Pacino gelingt. Der Clown Woody Allen schlägt ähnlich stark durch, wie das bei Charlie Chaplin, oder in anderer Weise bei Clint Eastwood oder Katherine Hepburn der Fall ist. Diese Figur tritt in manchen Filmen auch einleitend, als Erzähler und kommentierend auf (so in „Annie Hall“, „Sweet and Lowdown“ oder „Radio Days“). Auch in Interviews kommentiert sie die Filme als Autor. Aber die Figur Woody Allen hat ein Leben über die Filme hinaus: als Jazzmusiker und als Mann mit einem nicht ganz einfachen Liebesleben, als Bewohner der Upper East Side von New York oder Restaurantbesucher. Verwirrend ist, dass dieses Leben außerhalb der Filme gelegentlich in diese hineingezogen wird, auch von dem Autor und Schauspieler selbst, aber besonders von den Journalisten und Fans.

Innerhalb dieses großen Rahmens, der Erzählung eines kulturindustriell geformten Lebenslaufs, werden die „Novellen“, gelegentlich ein „Roman“ fast im Jahresrhythmus präsentiert. Wie bei den meisten Novellensammlungen ist die Reihenfolge, in der sie entstanden sind, nicht entscheidend – geordnet werden sie erst hinterher und im Überblick. Bei Woody Allen entsteht die Ordnung durch die Motive, die in verschiedenen Filmen und teils immer wieder auftauchen. Die gesamte Sammlung wird von einem Netz dieser Motive überzogen, die sich verschieden kombinieren. Die Zahl dieser Motive ist begrenzt. Häufig und strukturierend treten etwa sechs bis sieben auf. Die Sammlung lässt sich durch diese Motive und ihre Kombinationen beschreiben. Von der Chronologie der Entstehung der Filme ist dabei durchaus abzusehen.

Es sind zunächst zwei große Motive zu unterscheiden, von denen die Filme auch formal bestimmt werden: Alle beziehen sich vielfältig auf literarische und filmische Traditionen, die verwendet und verspottet, gelegentlich auch mit Hochachtung zitiert werden. Manche tun das so stark und durchgängig, dass sie als Genre-Parodien strukturiert sind. Das zweite übergreifende, ebenfalls formal wirksame Motiv ist das Spiel mit der Wirklichkeit, mit der erzählerischen und besonders filmischen Illusion, die in Märchen- (heute Fantasy-) Motiven am stärksten gebrochen wird. Film als Unterhaltung dient ohnehin dazu, die harte Realität in Tagträume und handlungsentlastete Nachdenklichkeit aufzubrechen, andere Möglichkeiten des Lebens fantasieren zu lassen und damit die Realität zu kritisieren. Wenn das humorvoll, komisch und ironisch gelingt, ist der Gewinn besonders groß.

Genre-Parodien haben vor allem die erste Phase von Allens Werk beherrscht, ihr Muster- und Meisterstück ist aber „Zelig“ (1983). „Genre“ meint dabei neben literarischen und filmischen Traditionen wie Krimi oder Science Fiction vor allem den Bezug auf das Fernsehen und seine Formen der Reportage und der Dokumentation (aber sogar Werbeeinschaltungen und Spiel- oder Talk-Shows werden zitiert). Dazu kommt die Form der um ein Thema gruppierten Witze und Sketches des Comedian, die angelsächsisch eigenständig in Comedy Clubs und früh auch im Fernsehen Tradition hat, bei uns im Kabarett gepflegt und erst neuerdings vermehrt vom Fernsehen aufgenommen wurde. Bedeutend in seiner Exposition der pseudo-dokumentarischen Manier des TV-Features ist das frühe „Take the Money and Run“ (1969), das in „Sweet and Lowdown“ (1999) noch übertroffen wird. Genre-Parodien sind auch sämtliche Filme von „Bananas“ (1971) bis „Love and Death“ (1975), also „Everything You Always Wanted to Know About Sex“ (1972), „Play It Again, Sam“ (1973), der zugleich zu den Hommagen (siehe unten) gehört, und „Sleeper“ (1973). Später sind es zumindest in bedeutenden Aspekten „Mighty Aphrodite“ (1995; der griechische Chor), „Eyeryone Says I Love You“ (1996; Musikfilm, Marx-Brothers) und in verschiedenen Varianten von Krimi „Manhattan Murder Mystery“ (1993), „Small Time Crooks“ (2000), „The Curse of the Jade Scorpion“ (2001) und „Scoop“ (2006).

In „Play It Again, Sam“ (1973), „Purple Rose of Cairo“ (1985) und in „Eyeryone Says I Love You“ (1996) wird die Beziehung des Lebens zu filmischen Traditionen, zu „Casablanca“, den Filmen mit Fred Astaire und zu denen der Marx Brothers, direkt zum Gegenstand gemacht. „Interiors“ (1978), „A Midsummer Night’s Sex Comedy“ (1982) und „Deconstructing Harry“ (1997), sind alle auf Bergmann, letzterer zugleich auf Fellini bezogen, der „expressionistische“ „Shadows and Fog“ (1992) inhaltlich auf Kafka. Diese gar nicht kleine Gruppe von Woody-Allen-Filmen ist als „Hommage“ von den Parodien abzugrenzen, aber scharf ist die Grenze nicht. Die vielen kleineren oder ausführlichen, mehr oder weniger spielerischen oder dramaturgisch wichtigen, ehrerbietigen oder spöttischen Verweise auf literarische und filmische Traditionen kennzeichnen darüber hinaus Woody Allens gesamtes Werk.

It’s Magic

Der „Roman“ zur Einführung von Märchenartigem, gesteigert zur Frage, was Fantasie und was Wirklichkeit bedeuten, ist „The Purple Rose of Cairo“ (1985). Hier ist die Beziehung von Fantasie und Wirklichkeit zugleich Thema. Mehr oder weniger dramaturgisch entscheidende Elemente von Magie und Unwirklichkeit, die unvermittelt in den Alltag einbrechen, gibt es in „A Midsummer Night’s Sex Comedy“ (1982), „Alice“ (1990), „The Curse of the Jade Scorpion“ (2001) und „Scoop“ (2006). Eine Wahrsagerin und Geisterbeschwörerin findet sich in „You Will Meet a Tall Dark Stranger“ (2010) und schon in „Oedipus Wrecks“ (1989), aber in weniger zentraler Position auch in „Celebrity“ (1998) und in „Whatever Works“ (2009).

Das inhaltlich wichtigste und häufigste, das eigentliche Woody-Allen-Motiv, wurde im ein- und zweiundvierzigsten Film („Whatever Works“, 2009; „You Will Meet a Tall Dark Stranger“, 2010) exemplarisch und im Gegenspiel vorgeführt: Whatever works – nothing works. Der Zufall ist die eigentliche Macht, von der das Leben der Menschen bestimmt wird – im Gegensatz zu der Illusion der Selbstbestimmung. Das wilde Strampeln der aktiven Suche nach Glück und Erfolg ist illusionär. Der „Roman“ dazu ist schon „Hannah and Her Sisters“ (1986), exemplarisch in der Vielzahl der Personen, die sich zu Paaren finden und umschichten, typisch auch darin, dass sich die Handlung aus Irrtümern speist (der angeblichen Unfruchtbarkeit wie der hypochondrisch angenommenen fatalen Krankheit Mickeys). Das Motiv findet sich aber auch schon in „Annie Hall“ (1977), „Manhattan“ (1979) und „A Midsummer Night’s Sex Comedy“ (1982), später in „Husbands and Wives“ (1992), „Celebrity“ (1998), in „Anything Else“ (2003), dem politisch geschärften Re-make von „Annie Hall“, in „Melinda and Melinda“ (2004), und „Vicky Cristina Barcelona“ (2008). Gesellschaftskritisch gewendet bestimmt es auch die beiden großen Filme „Match Point“ (2005) und „Cassandra’s Dream“ (2006).

Ein zweites großes inhaltliches Motiv ist das Leiden der Künstler (nicht zuletzt an der Unsicherheit darüber, ob und wie sehr sie es sind), ihre lächerlichen Prätentionen, auch das Leiden an der Prominenz, zusammengefasst: Fear and Loathing in the Celebrity Circus. Der „Roman“ zu diesem Thema ist „Stardust Memories“ (1980), fast gleich wichtig und mit etwas anderen Gewichtungen auch „Bullets Over Broadway“ (1994) und „Deconstructing Harry“ (1997). Dazu gehören ferner „Celebrity” (1998), „Sweet and Lowdown” (1999) und „Hollywood Ending” (2002).

Das dritte große inhaltliche Motiv ist Schuld und (keine) Sühne. Der „große Roman“ dazu ist „Crimes and Misdemeanors“ (1989), aber die beiden neueren und zusammengehörigen „Match Point“ (2005) und „Cassandra’s Dream“ (2006) schließen sich hier gleich bedeutend an. Als kleinere Erzählung gehört dazu „September“ (1987). Die Unschuldigen leiden und die Schuldigen haben Erfolg. In den drei großen Filmen ist das Motiv des Zufalls und der Sinnlosigkeit, der Ungerechtigkeit nach beiden Seiten der weitere Rahmen. Dieser glückliche oder unglückliche Zufall, von dem es abhängt, was als Ergebnis aus den törichten und getriebenen Handlungen der Menschen entsteht, ist besonders auch in den derzeit neuesten beiden Filmen Thema.

Schließlich sind zwei kleinere inhaltliche Motive zu nennen, die aber doch mehrere Filme bestimmen. Das eine ist Growing Disillusioned, das vor allem „Annie Hall“ (1977), „Manhattan“ (1979) und „Radio Days“ (1987) verbindet. Die Desillusionierung bedeutet zugleich Resignation und fast etwas wie Weisheit. Das andere ist Der gute Mensch von Manhattan. Das wichtigste Exemplar davon ist „Broadway Danny Rose“ (1984), aber auch „Small Time Crooks“ (2000) ist davon bestimmt, wenn man „gut“ mit „naiv“ gleichsetzt. Die Woody-Allen-Figur ist häufig von beiden Motiven geprägt, so etwa auch in „Crimes and Misdemeanors“ (1989).

Eine Analyse des Werks von Woody Allen wird, von den „Romanen“ ausgehend, die Motive entfalten. An einzelnen Filmen ist vorzuführen, wie sich die Motive verbinden und verschränken und damit die Vielschichtigkeit, manchmal auch Brüchigkeit der Erzählung hervorbringen. Besondere Bedeutung hat der Rahmen in der Kunstfigur „Woody Allen“: Kulturindustrie ist Gegenstand der Ironie nicht nur in einzelnen Filmen, sondern in dem gesamten Zyklus von filmischen Erzählungen, der von der Selbstinszenierung Woody Allens nicht zu trennen ist. Das Spiel mit der „einseitigen Intimität“ des Publikums und der „vorgetäuschten Privilegierung“ des einzelnen Betrachters ist ein essentieller Ausgangspunkt für jedes Verstehen der Filme und des Film-Zyklus von Woody Allen.

Das Besondere dieser Analyse ist die theoretische und methodische Einordnung in eine Interaktionsästhetik: Die Filme werden als Spiel zwischen der künstlerischen Vorgabe und den Erwartungen des Publikums untersucht. Letztere bilden sich zugleich aus der zunehmenden Kenntnis eines Genres „Woody-Allen-Film“. (Insofern spielt die Abfolge, in der die Filme veröffentlicht wurden, doch eine Rolle. Besonders sind die Brüche zu beachten, die mit „Annie Hall“, 1977, und mit „Match Point“, 2005, vorbereitet seit „Anything Else“, 2003, festzustellen sind – der erste eine Verschiebung von der Medien- und Genre-Parodie zur Ironisierung von Lebenslauf und Psychologie, der zweite zum stärker Zeitdiagnostischen, wenn man so will zum Soziologischen.) Das grundlegende Arbeitsbündnis der Filme ist Ironie und Reflexivität. Die Komik, selbst der Klamauk, die Clownerie, ist nur das Mittel dazu, kein Selbstzweck. Insofern sind die Filme, in denen es wenig bis nichts zu lachen gibt, die Dramen wie die Grotesken, keine Ausnahmen: Ironie verbindet sie alle.

Individualität nach ihrem historischen Ende

Woody Allens Filme sind, obwohl sie wunderbare Frauenrollen enthalten, gewiss keine Frauenfilme. Es gibt immer wieder diese schrecklichen, gutaussehenden, dummen Weibchen, es gibt die ressentimentgeladenen Ex-Gattinnen, es gibt die fürchterlichen Mütter, es gibt die betulichen Oberschicht-Hausfrauen, es gibt die harten Frauen, von denen der schwache Mann ausgenützt wird – und es gibt das verwirrte, hyperaktive weibliche Gegenstück zu der Woody-Allen-Figur, wie es besonders Diane Keaton mit Bravour verkörpert. Kaum eine dieser Figuren macht der Betrachterin Freude, jedenfalls nicht auf Dauer und gewiss nicht ambivalenzfrei. Feministinnen pflegen diese Filme ärgerlich bis abstoßend zu finden.

Aber sie sind ebenso keine Männerfilme. Der ungeschickte, zappelige Clown ist ohnehin als Mann ein Witz, seine aufgeregte Sex-Besessenheit treibt ihn in peinliche Situationen und verbirgt nur mühsam die Liebesunfähigkeit. Aber auch die anderen Männerfiguren sind höchstens bedauernswert darin, wie sie auf die jeweils neue junge Frau abfahren, wie sie sich als Pseudo-Künstler und sonst -Intellektuelle oder auch als Geschäftsleute aufblasen. Sie sind lächerlich als Hypochonder und peinlich in ihrer Hilflosigkeit starken Frauen gegenüber. Auch Männer kommen vielleicht lachend, aber sicher nicht erbaut und erfreut aus dem Kino, wenn sie einen Woody-Allen-Film gesehen haben.

Das Individuum, weiblich wie männlich, wird in diesen Filmen gründlich vorgeführt – als traurige Karikatur, wenn es sich ernst nimmt, und als komisch im günstigsten Fall. Die Verstrickungen wie die Zufälle sind allemal stärker als noch so gute Absichten, angestrengte Bemühungen und selbst temporäre Erfolge. Inhaltlich gesehen ist da nichts als ein ewiges Gewusel, sind da Versuche, die manchmal zu gelingen scheinen, um im nächsten Moment doch ins Unglück zu kippen, finden sich die Figuren in ewigen Wiederholungen ohne Ausweg. Aber das alles wird in einer bemerkenswerten Grundhaltung vorgeführt, in einem Arbeitsbündnis der stoischen Ironie und des humorvollen Überwindens der immer drohenden Depression bis Panik.

Die einzelne Geschichte ist nicht erbaulich. Wenn sie einmal für den Moment „gut ausgeht“, tut sie das aus den falschen Gründen und nicht auf Dauer. Aber das gesamte Arrangement schließt ein, dass uns solche Geschichten erzählt werden, damit wir Stoff für Nachdenklichkeit haben, damit wir über die menschliche Schwäche lachen können, damit wir uns keine Illusionen über das machen, wie sonst Geschichten im Fernsehen oder in der großen Literatur erzählt werden, damit wir auf die Moden von Weltschmerz und die Fluchtversuche von Therapie bis Esoterik, die Suche nach Abenteuern oder nach Rückzug nicht hereinfallen. Indem das Erzählen als Rahmen immer präsent bleibt, erfahren wir Individualität als gesponnen aus Geschichten, die uns zur Unterhaltung vorgeführt werden – zusammengesetzt aus einem Fundus von Motiven, die wir kennen und von deren Varianten und Kombinationen wir nicht genug kriegen können. Die „individuellen“ Lebensläufe bestehen aus altbekannten Versatzstücken, die sich in typischen Formen kombinieren. In der Erzählung können wir mit Nachsicht auf die Irrtümer der Jugend und des Alters zurückblicken.

Das „absolute Individuum“, der bürgerlich-gebildete Irrtum darüber, dass sich Individualität nicht in der Konkurrenz erzwingen, sondern nur in der Solidarität des Zusammenlebens erreichen lässt, wurde längst ad absurdum geführt. In dieser historischen Situation bleibt die Möglichkeit, einander Geschichten zu erzählen und dabei über diese Absurdität zu lachen. Es ist nicht so, dass ein Mangel an Unterhaltung bestünde – im Gegenteil, wir werden zugeschüttet mit moralischen, politischen und sonstigen Konsum-Aufforderungen, die uns vorgeben, wie wir leben sollen und die uns zugleich Nachdenklichkeit und Widerstand austreiben. Das Wissen darum, wie abgenutzt diese Erzählungen sind und wie und wie sehr gerade die Gebildeten auf sie hereinfallen, hilft dabei, sie nicht so wörtlich und schon gar nicht ernst zu nehmen.

Mit solcher Unterhaltung kann sich die „absolute“ Individualität auflösen in Widerstand gegen die Wohlanständigkeit, in deren Namen die Gefühle unterdrückt und irregeleitet werden, in Nachsicht der Vergangenheit und Gegenwart an eigener Narretei gegenüber, schließlich in Weiterarbeit an selbstgestellten Aufgaben. Wenn es gelingt, so mit einem Minimum an Solidarität in lächelnd, weil kontrafaktisch gegenseitig anerkannter Individualität zu leben, kann zuletzt das nicht mehr mögliche Individuum zu einer albernen Prokofjew-Melodie mit einem ebenso albernen Sensenmann ins Off tanzen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.