Heimat gefunden

Angelika Overath schildert in ihrem „Senter Tagebuch“ das langsame Ankommen in der Fremde

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inzwischen ist es bekannt: Angelika Overath zog im Juli 2007 zusammen mit ihrem Mann Manfred Koch und dem gemeinsamen Sohn Matthias von Tübingen in das Engadiner Bergdorf Sent. Die beiden älteren Kinder blieben in Deutschland zurück, sie setzten dort ihre Ausbildung fort und besuchten Sent weiterhin als Ferienort. Wer das Unterengadin kennt, kann sich die Unterschiede zwischen diesen beiden Welten vorstellen, hier die deutsche Universitätsstadt, da die kleine Gemeinde in den Bergen, nicht mehr unberührt vom Tourismus, aber in keiner Weise etwa mit St. Moritz oder Pontresina zu vergleichen (die denn auch im Oberengadin liegen). Doch auch nach Sent kommt man im Winter zum Skifahren und im Sommer zum Wandern, die farbigen Lärchenwälder im Herbst sind einmalig schön. Und das Dorf hat einiges von seiner Ursprünglichkeit erhalten. Traditionen sind in Sent stark und werden gelebt.

Dass es nicht nur leicht sein dürfte, sich als Deutsche in die Dorfwelt einzugliedern, Teil zu werden, dazuzugehören, liegt auf der Hand. Angelika Overath findet Zugang über das Wort, vorerst noch nicht über die Sprache, denn das rätoromanische Idiom Vallader bleibt ihr lange verschlossen – und sie ist deshalb auch ausgeschlossen. Sie wählt die Form des Tagebuchs, um die Integration zu protokollieren. Am 1. September beginnt Overath mit der Hinreise nach Sent über den Endbahnhof der Rhätischen Bahn in Scuol-Tarasp, wo sie jeweils ins Postauto umsteigen muss, um in ihr neues Zuhause zu kommen. Und die Aufzeichnungen enden ein Jahr später, wiederum am 1. September, als Mengia ihr die Haare schneidet und erzählt. Die Frauen des Dorfes sind die Verbindungsglieder von der Fremden zu den Einheimischen, von ihnen erfährt sie, wer wer ist, was wie läuft, wo was zu bekommen ist, Dorfgeschichten eben, die für die Bewältigung des Alltags unabdingbar werden.

Der Winter ist lang in Sent, sechs Monate bleibt der Schnee liegen, und auch im Mai, manchmal im Juni, kann es nochmals schneien, auch wenn dann der Schnee in dieser Jahreszeit rasch wieder weggeschmolzen ist. Doch dieser Schnee – das besagt schon der Titel „Alle Farben des Schnees“ – übt eine große Faszination auf Overath aus. Wer mehr über Schnee, über seine verschiedenen Farbtöne, über Schnee im tiefen Winter, den ersten Schnee im Spätsommer, den Schnee im Frühjahr erfahren will, kann hier eintauchen in eine Welt, in der der Schnee auch für anderes steht, für unberührte Landschaft ebenso wie Tourismus mit all seinen problematischen Seiten. Dabei klagt Overath nicht an, sie erzählt von dem, was sie beobachtet, was sie hört, und lässt die Leserinnen und Leser teilnehmen an einem Alltag, wie sie ihn als ganz besonderen wahrnimmt. Denn sie ist und bleibt vorerst die Fremde.

Da hat es der Sohn bedeutend einfacher. Er ist sieben Jahre alt, als die Familie umzieht, tritt in die Grundschule ein, in der die Unterrichtssprache Vallader ist, und es geht ihm schnell gut dabei. Für ihn ist das Mitmachen keine Frage, für die Mutter sehr oft schon, etwa wenn sie nach dem Chor nach Hause geht, obwohl sie lieber auch noch mit in die Kneipe gegangen wäre. Aber dort wird eine Sprache gesprochen, die sie ausschließt, und dem will sie sich (vorderhand) nicht aussetzen. Den Zugang zur rätoromanischen Sprache findet Overath über Gedichte, oder besser gesagt, über das Schreiben von Gedichten in Vallader (worüber sie in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 11. April 2011 einen lesenswerten Artikel geschrieben hat).

Mit „Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch“ hat Overath ohne Zweifel ein sehr persönliches Buch geschrieben, manchmal vielleicht sogar zu persönlich. Nicht nur einmal ertappt sich die Rezensentin bei dem Gedanken, dass sie das alles eigentlich gar nicht wissen will. In diesem Buch – und so lohnt sich denn letztendlich auch die Lektüre – gibt es sehr schöne Passagen über den Alltag im Dorf, über die Begegnungen, etwa jene mit den Schriftstellerkolleginnen Leta Semadeni und Rut Plouda, aber auch die sehr bedenkenswerten Ausführungen über die Veränderungen im Unterengadin der letzten Jahre. Trotzdem bleibt ein leises Unbehagen zurück gegenüber diesem Tagebuch schreibenden Ich, das manchmal zu dominant, zu selbstbezogen zu werden droht.

Titelbild

Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010.
255 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783630873404

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