Ein Film als Erinnerungsikone

Sylvie Lindeperg über die Entstehung und Wirkung des Films „Nacht und Nebel“

Von Sebastian VoigtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Voigt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit war nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa stark von ideologischen Bedürfnissen abhängig. Während in Westdeutschland das Flüchtlingselend der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten beständiges Thema war und das beginnende Wirtschaftswunder alle Energie zu absorbieren schien, stand das Gedenken in der DDR unter den Prämissen des Antifaschismus in seiner stalinistischen Variante. In Frankreich herrschte eine andere Situation. Es entstand der sogenannte Résistancemythos, der die gesamte Nation im Widerstand wähnte und über das Vichy-Regime und die Kollaboration schwieg. Allen Ländern ist jedoch eines gemeinsam: Die Ermordung der Juden war kein gesellschaftliches Thema und der Juden wurde als eigenständige Opfergruppe des Nationalsozialismus nicht gedacht.

Der Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais ist zugleich Ausdruck der hegemonialen Tendenzen der damaligen Zeit und liegt gleichsam quer zu ihnen. An seinem Beispiel können viele Ambivalenzen hinsichtlich der frühen Erinnerung an den Holocaust dargelegt werden. Seiner Entstehungsgeschichte und seiner Rezeption ist Sylvie Lindeperg nachgegangen. Dies tut die an der Universität Paris I – Panthéon Sorbonne lehrende Filmhistorikerin mit einer erstaunlichen Akribie. Ihre Untersuchung ist aber mehr als ein Buch über einen Film, weil sein Untersuchungsgegenstand selbst nicht einfach nur ein beliebiger Film ist, sondern ein Kristallisationspunkt für die Schwierigkeiten der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Nicht nur die mehrjährige komplizierte Produktion und die Auseinandersetzungen der Filmemacher untereinander werden behandelt, sondern auch die absichtlich fehlerhaften Übersetzungen, die Auslassungen ganzer Sequenzen und das Löschen musikalischer Passagen. Bereits bevor der Film das erste Mal 1956 auf dem Filmfestival in Cannes gezeigt werden sollte, führte er zu einem Skandal. In der ursprünglichen Fassung fand sich eine Aufnahme des französischen Lagers von Pithviers, von dem aus Deportationen in die Vernichtungslager stattfanden. Die Aufnahme wurde von einem Zug aus gemacht und am linken Bildrand war ein französischer Gendarm zu sehen. Auch wenn die Filmemacher durch diese Einstellung primär auf die Existenz von Internierungslagern in Frankreich hinweisen wollten, thematisierten sie doch nolens volens die französische Staatskollaboration. Dies war konträr zum französischen Selbstbild. Es kam zu Interventionen verschiedener staatlicher Behörden und der Film wurde geändert. Neben der innerfranzösischen Dimension kam noch eine andere hinzu: Vertreter der Bundesrepublik Deutschland verließen wütend das Filmfestival an dem Tag, an dem der Film nach erfolgter Zensur doch noch gezeigt wurde.

Als Einstieg in die Thematik wählt Lindeperg jedoch die Biografie von Olga Wormser, die 1912 in einer aus Russland stammenden jüdischen Familie geboren worden war. Sie erhielt 1944 den ministeriellen Auftrag, bei der Suche der aus Frankreich Deportierten zu helfen. Dies führte sie bereits 1945 nach Deutschland und brachte eine intensive Beschäftigung mit dem Konzentrationslagersystem der Nazis mit sich, worüber sie Jahrzehnte später auch ihre Promotion verfasste. Sie wurde zu einem der wichtigsten wissenschaftlichen Berater bei der Erstellung des Films. Lindeperg kann an der Biografie Olga Wormsers sowohl zeigen, wie schwer es für eine Jüdin war, sich im damaligen akademischen Umfeld zu etablieren, als auch, welchen unterschiedlichen Interessenslagen und politischen Ansprüchen eine wissenschaftliche Untersuchung ausgesetzt war, zumal bei einem derartig brisanten Thema.

Die gesamte Entstehungsgeschichte des Films ist von Schwierigkeiten durchzogen, die minutiös nachgezeichnet werden. Nicht nur die Komposition der Filmmusik durch Hanns Eisler, der von Alain Resnais darum gebeten worden war, brachte ungeahnte Probleme mit sich, sondern auch die von Paul Celan angefertigte Übersetzung für die deutsche Version des Films. Durch leichte Modifikationen des französischen Texts war es ihm gelungen, die Ermordung der Juden zum Subtext des Films zu machen, während der Holocaust in der Originalfassung faktisch kein Thema war. Dies und weitere Gründe führten dazu, dass die DDR diese Version nicht akzeptieren wollte. Die DEFA ließ deshalb eine eigene Übersetzung anfertigen, die mehr der vorherrschenden Auffassung des Antifaschismus entsprach. Die Rezeption des Films zeichnet sich durch politische Instrumentalisierungen aus. Die Geschichte des Films „Nacht und Nebel“ beleuchtet in nuce nicht nur die französische Nachkriegskonstellation, sondern die gesamte Geschichte des Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen in unterschiedlichen Ländern. Deshalb ist die Untersuchung von Lindeperg nicht nur filmhistorisch interessant. Den Anspruch des Buches formuliert die Autorin in der Einleitung mit Bezug auf Walter Benjamin dergestalt, dass sie in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens entdecken möchte. Durch die Verschränkung der ästhetischen, medialen, filmhistorischen und erinnerungskulturellen Ebene gelingt es Lindeperg, diesen selbst gestellten Anspruch zu erfüllen. Es ist schön, dass der Verlag Vorwerk 8 die Analyse einem breiteren deutschsprachigen Publikum durch die Übersetzung möglich gemacht hat.

Titelbild

Sylvie Lindeperg: „Nacht und Nebel“. Ein Film in der Geschichte.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan Barmann.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2010.
350 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783940384249

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