Das Berechenbare und das Unberechenbare
Über „Im schönsten Fall“ von Angela Krauß
Von Marion Gees
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDieses Buch ist auf beinahe unheimliche und zugleich fesselnde Weise seismografisch. Sein Erscheinen, kurz bevor die Welt mit einer enormen Erschütterung und deren weiterhin unkalkulierbaren Auswirkungen konfrontiert wurde, ist ein großer literarischer Wurf, ein Glücksfall. Es geht hier um nichts Geringeres als um das Berechenbare und das Unberechenbare, das gefährdete Weltgebäude, seine mittlerweile schier unendlichen Vernetzungen und die Frage, wie wir uns in ihm und in dessen Zukunft einrichten sollen. Es geht somit auch um Versuche über den geglückten Tag. Und das alles begegnet dem Leser in einer filigranen und kunstvoll-artistischen Prosa, die in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur ihresgleichen sucht.
Die prägnante Frage „Wie weiter“ stellte Angela Krauß schon in ihrem so betitelten vorangegangenen Buch, und sie dient hier erneut als Motto. In „Im schönsten Fall“ nun blickt die Erzählerin gleich zu Beginn lakonisch zurück auf ein Jahr voller Unwägbarkeiten, die zugleich nach einer Form für die Zukunft rufen.
„Dieses ganze Jahr, der Sequoia-Rechner ging ans Netz, es ließ gewisse Anzeichen erkennen.
Geistig: schwindende Kraft, ein Weltgebäude zu errichten
Körperlich: sporadische Hochform
Seelisch: unbegreiflich.“
Das vermeintlich sichere Kalkül des Superrechners mit der bisher höchsten Leistung steht motivisch neben dem seelischen Zustand einer Erzählerin, die sich dem Nicht-Kalkulierbaren und Unbegreiflichen hingibt. „Dieses Jahr ging es schlechter und schlechter mit mir“, lautet es wenig später, „ich hatte das Kopfrechnen daraufhin kurzerhand aufgegeben, es behinderte mich, ich brauchte meine Hirnareale für anderes. Über die Kapazität des Gehirns wird viel spekuliert. Wenn ich an mein Hirn denke, fühle ich nichts. Wenn ich an mein Herz denke, macht es einen kleinen Flügelschlag“.
So werden im Folgenden die Polaritäten von Herz und Hirn, Liebe und Mathematik, Küssen und Rechnen, Ereignislosigkeit und Beschleunigung, Kontemplation und Mobilität seriell in einer schillernden Kette angeordnet, deren Motive und Nuancen in einer Mischung aus Raffinesse und Zufall immer wieder aneinander anknüpfen, miteinander vernetzt werden, in einer wägenden spielerischen Bewegung, die jegliche Absicherung zu vermeiden versucht. Zumindest eine herausfordernde Gewissheit bleibt bei der Beschreibung des Weltalls, auch wenn es der Mathematiklehrer früher genau andersherum proklamiert hatte: „Das Unbegreifliche ist das einzige, was diese Welt vor dem Auseinanderfallen bewahrt.“ Und diese Aporie der Gewissheit des Nicht-Begrifflichen bestimmt die schwerelose Diktion des Textes, die nebenbei bemerkt in der Beschwörung des Null-Seins als herausforderndes Freiheitsmoment („Heute bin ich eine Null, mathematisch gesehen, ich bin frei für anderes“) ein wenig an die spielerischen Verkleinerungsgesten gewisser Robert Walser-Figuren erinnert. Zudem taucht motivisch mehrmals ein Schmetterling auf, der sich wie die Verkörperung eines ästhetischen Schwebezustandes durch den Text bewegt, dessen fragile ephemere Schönheit und die mit ihm imaginierte zarte poetische Suchbewegung bald auch den Leser zu verzaubern versteht.
Die Erzählerin bewohnt eine Wohnung hoch über der Stadt in einem Gebäude mit Wohngemeinschaften, Anwalts- und Architektenbüros, die sich auf „Berechnungen der Statiker“ verlassen, sowie mit einem „ständigen Parkplatz für Umzugsspeditionen“ vor dem Haus. Ein sinnbildliches Weltgebäude also, das durch zunehmend auferlegte Mobilität und Vernetzung den Zusammenhalt verliert und durch die Schneise der nächtlichen Postflugzeuge, die seit einiger Zeit höher fliegen, vielleicht da der Briefverkehr nachgelassen hat, noch eine bildliche Raum-Erweiterung erfährt. Elmar aus der unteren WG öffnet regelmäßig seine Fenster, um seinen Gerätepark zu kühlen, und ruft gelegentlich auf die Straße „alles im Normbereich“. Ein anderer Nachbar lässt das Haus erbeben. Und da ist noch die ältere Madame Fleur, die anstatt Fotos Stilettos als Dokumente ihres bewegten Lebens sammelt, deren Leben geglückt und die frei erscheint. Die Liebe zu Karel, der sich auf der instabilen Erdplatte des westlichen Amerikas der Wissenschaft verschreibt und für das meiste eine Erklärung hat („Der Ausfall von Sensoren in technischen Geräten ist auf Abnutzung oder auf Überschreitung der Grenzparameter zurückzuführen“), ist ebenso den Widersprüchen von Rechnen und Küssen ausgesetzt. „Auch die Liebe lässt sich organisieren, darauf hat Karel bestanden.“ Doch, so erwidert die Erzählerin „kann [es] nicht sein, dass das Glück von einer Grundschuldisziplin abhängt; wir dürfen das getrost den Geräten überlassen.“
Dem gilt es ein eigenes Weltgebäude entgegenzusetzen, erst recht, so scheint es, wenn man wie die Erzählerin „aus dem letzten Jahrhundert des Briefverkehrs“ stammt, obwohl auch sie sich der neuen Vernetzungen nicht entziehen kann. Denn sie betreibt ebenfalls „elektronische Evolution von Berufs wegen, lange reichten mir Stift und Pinsel für meine Arbeit aus. Doch mit keinem Werkzeug lässt sich die Natur an Schönheit übertreffen“. Das Tun der Erzählerin bewegt sich in einem eigenen Netz-Raum, sie betreibt eine Grammatik des Sehens zwischen Zetteln und Notizen, die „ein Leben für sich“ führen neben den Ordnern und elektronischen Dateien, in denen alles festgehalten ist, nur eben die Zukunft nicht.
In diesen Teppich einander abwechselnder und wieder anknüpfender Textbruchstücke, die das Leben der Bewohner, die Liebe zu Karel streifen, werden Erinnerungen an die Kindheit, an die Mutter und an einen Onkel, der schon früh das Weltgerüst zu erklären versuchte, gewoben. Dazwischen fügen sich skurrile Berichte über monströse Weltgipfel, die über das menschliche Genom, die Umwelt, die Gefahr eines Festkörpers, der auf die Welt zurast, verhandeln, wobei der worst case immer untergründig mitläuft.
Es stellt sich keine geringere Frage als die nach dem eigenen Ort in dieser globalen Welt. „Das Weltgelände will errichtet werden“ heißt es entschieden. Und dieser Vorsatz beschwört, neben dem Versuch sich in einem immer unübersichtlicher werdenden Geschehen einzurichten, das Bestreben nach momenthaftem Glück, nach Liebe und Schönheit, auch wenn diese gelegentlich unerreichbar erscheinen, sowie vor allem die Sehnsucht nach einer entsprechenden Form, die diesen Zuständen gerecht wird. Der Vorsatz umschließt das Sein als dichterische Existenz als auch die Sprache der Dichterin, deren poetisches Erkenntnis-Gebäude errichtet werden will. So geht es bei diesen Suchbewegungen immer auch um ein Warten, ein tägliches Üben in diesem wachtraumhaften Errichten von Welt und Text. „Ich muß mein Herz üben“ so heißt treffend ein Lyrikband der Autorin.
Nicht nur innerhalb eines Textes verwebt sie die motivischen Fäden zu einem Muster, sondern auch zwischen ihren Büchern spinnen sich die Beziehungsnetze weiter, so als ob sie an einem großen Buch weiter schreibe. Schon in „Weggeküßt“ betont die Protagonistin ihr ganz eigenes Netz, ein Zustand „in dem mir keiner verloren geht und ich jeden, der mir begegnet, in mein Netz einwebe. In meinem Netz ist alles geborgen, was ich jemals begehrte, liebte, an mich zog und von mir stieß.“ Aber schon dort ertönt häufiger die bange Frage „wie weiter?“ Das Umkreisen des Erdballs und die Blicke von oben auf ein Stück Welt als Miniatur inszeniert Angela Krauß schon in „Die Überfliegerin“. Immer wieder tritt die erzählende Protagonistin auch „Im schönsten Fall“ auf den nächtlichen Balkon oder ans Fenster und imaginiert einen Zustand des Vergessens und des Einsseins, den sie, wie das Küssen, als momenthaftes Glück erfährt. „Dann werfe ich meinen vollkommen gedankenleeren Kopf / hinaus in die Nachtluft“ oder an anderer Stelle: „Im Schönsten Fall ist die Erde rund.“ Oder wie es die Mutter ausdrückt: „Im schönsten Fall, dass nämlich alles, einfach alles auf eins zuläuft, so wie ein Flussdelta ins Meer findet, damit hätte ich von Anfang an rechnen sollen, lacht meine Mutter.“
Auf den letzten Seiten lösen sich die Textbruchstücke in frei fließende Verse auf. Die zuvor schon lyrisch anmutende Prosa, deren Fragmente eine adäquate Form für eine Annäherung an die Unübersichtlichkeit des Weltgeschehens sowie die Flügelschläge des Herzens bilden, geht einen konsequenten Weg weiter in den balancierenden, flügelschlagenden Zeilensprung der Dichtung. Motivisch führt der Schluss in ein wachtraumhaftes Szenario, das dem Leser die eine oder andere Deutungsart (auch im Hinblick auf die Gestaltung seines eigenen zukünftigen Weltgebäudes) überlässt. Am Tag des letzten Weltgipfelberichts geht die Frau allein durch die „engste Gasse der Stadt“, einen sinnbildlichen Zwischenraum, der ihre Poetik eines Lebens- und Geschichtsraums nochmals verdichtet, mit einem Koffer „prall von Schuhen / von den Aufzeichnungen vom Anbeginn der Zeit / den Musterbögen der Zukunft / und den Resten der Rechenkunst.“ Sie bricht auf und verschwindet ungesehen durch ein im Dunkel liegendes märchenhaftes Tor. — Was sie und uns erwartet bleibt offen. Vielleicht eine Zukunft, eine ungewisse Sphäre des Unbegreiflichen, die allein die Welt zusammenhält; im schönsten Fall eine Form, die das Sein zum Schweben bringt.
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