Nur ein paar wenige sparsame Sätze noch

Peter Kurzecks „Vorabend“ macht die Verdrängungsprozesse des ,alten Jahrhunderts‘ rückgängig und integriert sie in sein poetisches Großprojekt

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gerade nur diesen einen einzigen kostbaren seltenen Sonntagsaugenblick, sagte ich, wollte ich euch erzählen.“ Wenn er das sagt, hat der Erzähler von „Vorabend“ bereits 700 Seiten lang von den 1950er- bis 1980er-Jahren in der oberhessischen Provinz erzählt. Wer Peter Kurzecks Bücher kennt, weiß, wie wichtig auch die kleinsten Details, jede einzelne Figur für sein Erzählen sind. Selten hat er dies jedoch mit einem solchen Totalitätsanspruch betrieben wie hier.

Dass die große, mittlerweile auf zwölf Bände angelegte autobiografische Chronik, an der Kurzeck seit Mitte der 1990er-Jahre schreibt, in der Titelei von „Vorabend“ zum ersten Mal auch als „Das alte Jahrhundert“ benannt ist, mag verlegerische Gründe haben, im Hinblick auf den neuen Roman ist es nur konsequent. Während die vorhergehenden Bände „Übers Eis“ (1997), „Als Gast“ (2003), „Ein Kirschkern im März“ (2004) und „Oktober oder wer wir selbst sind“ (2007) weitgehend die Situation des Erzählers zum Gegenstand hatten – Winter und Frühjahr 1984 nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin Sibylle, die gemeinsamen Wege mit Tochter Carina zum Kinderladen im Frankfurter Westend, die wechselnden Unterkünfte, in denen der arbeitslose Erzähler unterkommen muss, und schließlich in „Oktober“ der Sprung zurück in den Herbst vor der Trennung – geht es nun in einem weiteren Sprung in die Vergangenheit tatsächlich um das „Alte Jahrhundert“ der BRD, von der Nachkriegszeit bis in die Erzählgegenwart der 1980er-Jahre, und das alles konzentriert auf ein paar wenige Orte im Kreis Gießen.

Die Erzählgegenwart ist verschachtelt. Der Roman beginnt mit einer Variation auf „Oktober oder wer wir selbst sind“: Ausgehend von einem Anruf seines Freunds Jürgen im Oktober 1983 erinnert sich der Erzähler an die im Vorjahr bei Jürgen und dessen Freundin Pascale verbrachten Wochenenden in Frankfurt-Eschersheim. Dort, in Eschersheim, beginnt er mit seiner Erzählung, zunächst nur eines einzigen Moments vor dem Kino in der Kleinstadt Lollar an einem Sonntagnachmittag in den 1950er-Jahren. Wenn er damit aufhört, hat man fast tausend Seiten beziehungsweise etwas mehr als vierundzwanzig (erzählte) Stunden gelesen. „Und dann, sagte ich und sah alles vor mir, mit nur ein paar wenigen sparsamen Sätzen die ganze Zeit von damals bis jetzt! Man müßte, sagte ich, die ganze Gegend erzählen, die Zeit!“

„Die ganze Gegend erzählen, die Zeit“, das ist auch das Motto von „Vorabend“. Und so sparsam Kurzecks oft elliptische Sätze tatsächlich sind, so ausufernd gerät doch ihre Verkettung. Mit ein paar wenigen Sätzen ist es nicht getan; wenn das Erzählen die „ganze“ Gegend und die Zeit abdecken soll, kann es kein Ende finden. Seine fortschreitende Ausschweifung verdankt sich so nicht nur der sukzessiven Ausweitung des Zeitraums, der erzählt wird, von einem Abend, über ein Wochenende, bis zu etwa vierzig Jahren. Wenn Peter, der Erzähler, aufhört, tut er dies offenbar eher aus Erschöpfung als dass er an ein Ende käme. Im Grunde gäbe es immer noch ein Detail, das in einer neuen Abschweifung genauer erläutert werden muss. Diese Sucht nach Vollständigkeit gerade im Kleinsten verlangt – wer Kurzecks Bücher kennt, weiß das – den Lesenden einiges an Geduld ab.

Die Geduld wird belohnt. Man liest Kurzeck nicht wegen spannender Stories. Als erster Eindruck jeder Lektüre dürfte sich die ganz eigene Melodie seiner Sprache festsetzen, und dies umso mehr, wenn man den Autor einmal lesen gehört hat. Die knappen Sätze und ihre ruhige Folge, die ständige Wiederholung einzelner Motive und weiterer Zusammenhänge, macht den so oft bemühten Vergleich von Prosa mit Musik hier plausibler als bei vielen anderen Autoren. Das betrifft auch die Struktur des ganzen Buchs. Ausgehend von den einleitenden Seiten, die den Vorgängerroman resümieren, umspannt ein großer Erzählbogen einzelne Themenkreise, Beschreibungen von Bildern und Szenen aus dem Dorf- und Kleinstadtleben, die immer wieder aufgegriffen werden und sich vermischen. Ihm folgen wie eine Coda zwei kleinere Erzählbögen, stärker auf konkrete Erinnerungen an Szenen im Leben des Erzählers konzentriert, zuerst in den 1970-Jahren, dann ausgehend von einem Heimweg Anfang der 1960er-Jahre zu seiner Kindheit im Dorf, bis auch diese Bögen sich schließen und in der äußersten Rahmenhandlung kaum Zeit vergangen ist. Die gesamte Struktur wird dabei kaum von einer fortschreitenden Handlung getragen, sondern lebt völlig von den brillanten Skizzen des dörflichen und kleinstädtischen Alltags und der Landschaft.

„Die Bahnhofsbrücke, das Treppchen. Man sieht den Bahnhof von oben und könnte gleich mit allem, was man sieht, zu spielen anfangen, sagte ich. Mit allem was da ist. Auf dem Bahnhofsvorplatz Bushaltestellen, das Bahnhofshotel, hohe Bäume (damals noch, sagte ich), immer zwei-drei oberhessische Bratwurstbuden und das Café Schwarz mit Terrasse, Markisen und Lichtern. Und die Bahnhofsausfahrt nach Süden und Westen hin, die Ferne, das Licht und viel Himmel.“ Die Detailfreudigkeit solcher Schilderungen ist nicht Selbstzweck oder selbstverliebter Ästhetizismus. In den Details selbst spielt sich Erfahrung ab. Das ist einerseits die sinnliche Erfahrung, denn wie alle gelungene Literatur ist auch Kurzecks Erzählen eine Wahrnehmungsschule. Es ist aber auch die Erfahrung der Zeit, der Veränderungen des Alltags und der Landschaft in der Nachkriegszeit.

„Dann abgerissen das Brückchen und eine neue Zementbrücke hin. Mit Sichtblenden. Damit man die Ferne aus den Augen verliert.“ Kurzecks Buch ist die derzeit grandioseste und zugleich sensibelste Darstellung dessen, was man üblicherweise mit solchen Schlagwörtern wie „Wirtschaftswunder“ oder „Modernisierung“ fasst. Der Strukturwandel zeigt sich im Kleinsten, etwa an einem Brettchen in der Küche, in den kleinen Häuschen der uralten Witwen im Dorf. Dort stand früher immer der Käfig mit dem Kanarienvogel, irgendwann „der Radio“, bis der Apparat dann „das Radio“ hieß. Hinter der Ersetzung des Tiers durch das Gerät und dann des Artikels stehen enorme Veränderungen.

Es ist das Verschwinden der alten dörflichen Welt, die Ersetzung der Schotterstraßen durch Asphalt, damit man das Dorf im vierten Gang durchfahren kann, das Ende der alten kleinen Kaufläden durch die Supermärkte am Ortsrand – kurz: das Verschwinden der kleinen, engen und langsamen Dörflichkeit durch den Konsum- und Geschwindigkeitsrausch der modernen Warenwelt. Kurzeck zählt diese Veränderungen mit einer ganz eigentümlichen Wehmut auf, die irgendwo zwischen nostalgischer Verklärung und deren bewusster Brechung schwebt. Die Haltung des Erzählers entspricht etwa der der Schafe, die auf einem Autoanhänger transportiert werden. Von ihnen heißt es, sie stünden mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, „damit sie sehen, wie alles weg- und davonfährt und zurückbleibt und wegsinkt. So ein wehmütig schöner Anblick, das haben die Schafe gern.“

Erst im Vergehen scheint die enge Welt der alten Provinz so schön zu werden, und es ist die Welt der Kindheit des Erzählers. Dass es gleichzeitig die reine Hölle war, in der die Männer vom Stahlwerk aufs Feld und vom Feld ins Stahlwerk gingen und sich zeit ihres Lebens totschufteten, gehört unzertrennlich dazu. Umgekehrt setzt die nicht weniger entfremdete Konsumorientierung der „neuen Zeit“ auch neue Spielräume frei. Peters ausgedehnte Reisen und das Umfeld, in dem er sich in den 1970er- und 1980er-Jahren bewegt, der Kinderladen seiner Tochter, der „Pflasterstrand“ und natürlich sein Verlag, der damals noch „Roter Stern“ hieß, verdanken sich der Öffnung der provinziellen Enge. Vergangenheit und Gegenwart stehen bei Kurzeck in keinem bloß dichotomischen, sondern in einem dialektischen Verhältnis.

Indem die Erzählung dieser Veränderungen sich ganz aufs Individuelle konzentriert, kann „Vorabend“ mehr vom „alten Jahrhundert“, von der alten BRD und ihrer Vorgeschichte einfangen als die meisten der großangelegten Erinnerungschroniken, die so bemüht das Historische durchs Brennglas der Familiengeschichte betrachten wollen. So sehr es bei ihm um Zeit geht, um ihr Vergehen, den Wandel ihrer Erfahrung und den Widerstand des Erzählens gegen das Vergehen der Zeit – die sogenannte Zeitgeschichte kommt bei Kurzeck so gut wie gar nicht vor. Alles ist auf die Person des Erzählers bezogen, und wenn er anfängt, seitenlang von seinem Schwager, von den Einkaufsfahrten unbekannter Paare in Gießen und in Lollar oder gar von den Wanderungen der Igel über die Felder zu erzählen, dann bleibt das gebunden an den, der davon berichtet. Der ein wenig an Thomas Bernhard erinnernde ständige Einschub „sagte ich“ hält dabei immer präsent, wie vermittelt diese Darstellungen sind.

Gegenüber Bernhard fehlt bei Kurzeck – abgesehen von der Länge der Sätze – allerdings die misanthropische Pose. Es gibt durchaus starke satirische Momente in seiner Prosa, aber die brauchen keine Schimpftiraden über die Niederträchtigkeit der Leute. Niederträchtig ist, was die Verhältnisse aus den Menschen machen. „Die Kinder sind abwaschbar“ heißt es bei der Beschreibung der neuen Kindergärten und beißender kann man die Austreibung der Kindheit durch eine technokratische Pädagogik wohl kaum auf den Punkt bringen.

Diese Austreibung ist umso gravierender, als die Erfahrungswelt der Kindheit für Kurzecks Ästhetik zentral ist. So wie die verschwindende Welt der Provinz sich der eigenen Kindheitserinnerung verdankt, so ist ihre Erzählung davon geprägt, dass Carina, Peters Tochter, zuhört. Kapitel, die aus der Sicht der Igel die Umgestaltung der Landschaft erzählen, sind so einerseits Annäherungen an eine kindliche Perspektive, sie sind aber auch, wie diese kindliche Perspektive selbst, Versuche, einen Standpunkt außerhalb der Wirklichkeit der erwachsenen Menschen, die das alles zerstören, einzunehmen. Es sind Projektionsfiguren des Erzählers, die auch nur funktionieren, indem von ihrer Verdrängung erzählt wird.

Die Begriffe, mit denen das gefasst ist, könnten kaum drastischer sein: Die Kinder werden zuhause in „Schutzhaft“ gehalten, gegen die Igel wird ein „Vernichtungskrieg“ geführt, und immer wieder erträumen sich die Manager der Supermärkte einen „Endsieg“, ihre Kunden erringen bei ihrer Schnäppchenjagd „Sieg um Sieg“. Man sollte solche Wörter ernst nehmen, und zwar nicht als alberne Banalisierung dessen, was in Deutschland nun einmal mit ihnen verbunden ist. Durch sie erscheint die Umgestaltung der Landschaft plötzlich in einem anderen, grausigen Licht. Sollte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft sich vielleicht gerade in dem ausgetobt haben, was wir als Wirtschaftswunder zu bezeichnen gelernt haben? Erst auf solchen Umwegen gerät die vielbeschworene „Last der Geschichte“ in den Text, und wer einmal darauf achtet, merkt, wie sehr sie auf ihm drückt. Die Gießener Bänke „für deutschstämmige Rentner, die jetzt keinen Ariernachweis mehr brauchen“, ist da noch eine der deutlichsten Anspielungen. Anders als in der üblichen deutschen Erinnerungsliteratur geht es hier nicht um Verbrechen, die man historisierend von sich wegrückt. Wir sehen die Spuren, die jede Verdrängung hinterlässt. Der Weg zum alten jüdischen Friedhof ist zugewachsen, „damit man den jüdischen Friedhof endlich in Ruhe vergessen kann oder nächstens bald als Vergrößerung für das Wochenendgrundstück eines höheren Polizisten“.

So gesehen stellt sich das gesamte alte Jahrhundert als ein enormer Verdrängungsprozess dar. Ihn rückgängig zu machen und in ein poetisches Großprojekt zu integrieren, das in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur seinesgleichen sucht, ist das große Verdienst Peter Kurzecks.

Titelbild

Peter Kurzeck: Vorabend. Roman. Das alte Jahrhundert 5.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
1015 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783866000797

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