Mit Widersprüchen leben

Wilfried F. Schoellers Wagnis einer Gesamtschau auf Alfred Döblins Leben und Werk

Von Christina AlthenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Althen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilfried Schoeller stellt in seiner 900 Seiten umfassenden Biographie über Alfred Döblin einen großen Autor der deutschen Literatur vor, dessen Rang sich allerdings nie in hohen Auflagen seiner Werke manifestierte. Selbst der populäre Roman Berlin Alexanderplatz erzielte nur etwa ein Zehntel der Auflage von Thomas Manns Buddenbrooks. Die geniale Vielfalt des „Döblinismus“ hat aber damals wie heute die schreibende Zunft immer neu zu inspirieren vermocht.

Den Arzt und Dichter Döblin angemessen zu beschreiben und einzuschätzen ist schwierig: Seine Parteinahmen reichten von blutrot/ultraviolett am Beginn der Weimarer Republik bis zum Eintritt in die Katholische Kirche 1941, die 2007 beendete Werkausgabe umfasst rund vierzig Bände. Man braucht einen besonderen Zugriff, um sich in Döblins literarischem Reichtum nicht zu verlieren. Entlang der biographischen Chronik erörtert Schoeller die Romane und Erzählungen, die Schriften zu Poetik, Ästhetik, die philosophischen Essays, die Kritiken und Religionsgespräche sowie Psychiatrie und Psychologie, die Tätigkeitsgebiete des Mediziners.

Als ehemaliger Generalsekretär des deutschen PEN ist Schoeller bewandert in Kulturpolitik, und so befasst er sich manchmal etwas zu detailliert mit Döblins gesellschaftspolitischen und kulturellen Aktivitäten. Schoellers Biographie will, wie er selbst formuliert, „zwischen Deutungswissen und Ahnungslosigkeit“ vermitteln. Dieser Anspruch ist hoch, zumal die vielen Lesarten, die Döblins Kunstwerke anbieten, die literaturwissenschaftlichen Beiträge seit Jahrzehnten anschwellen lassen. Da es gute Werkeinführungen, Forschungsberichte und Monographien zu einzelnen Werken gibt, hätte Schoeller hier verknappen können, um das poetische Ingenium besser herauszuarbeiten; so hätte man in Anlehnung an Buffon („Le style est l‘homme même“) Döblins unglaubliche Vielfalt an Schreibstilen genauer auf die Vielseitigkeit seiner Person beziehen können. Auch die fundamentale Bedeutung von Ironie und Humor in Döblins Leben und Werk kommt bei Schoeller zu kurz. Mehrfach benutzt Schoeller die Bezeichnung „Sottise“ für Äußerungen des Autors; es ist fraglich, ob dieser Begriff Döblins Humor korrekt erfasst.

Schoeller hat die Kommentare der Werkausgabe und viele Ergebnisse der Döblin-Forschung verarbeitet, aber auch eigene Quellenstudien betrieben: so sichtete er erstmals die Aufzeichnungen von Döblins sogenannter Schwesterseele Yolla Niclas, der zwanzig Jahre jüngeren Freundin. Er geht der emotionalen Zwickmühle des Schriftstellers nach, der auf keinen Fall den Fehler seines Vaters wiederholen wollte, seine Familie wegen einer Geliebten im Stich zu lassen. Schoeller weist darauf hin, dass Döblins Problem nicht der für die Epoche typische Vaterkomplex war, wie etwa bei Kafka, sondern das Trauma des mutwilligen Verschwindens des Vaters. Der Biograph fühlt sich ein in die Psyche Döblins, dessen Verhältnis zu Frauen ein Leben lang von Schuldbewusstsein begleitet war. Frieda Kunke, seine erste große Liebe und Mutter seines Sohnes Bodo, heiratete er aus familiärer Rücksicht nicht. Bodo Kunke habe keine Aufzeichnungen hinterlassen, bedauert Schoeller, doch bereits 1982 veröffentlichte dieser seine Erinnerungen an den Vater.

Schoellers in überschaubare Einheiten gegliederte Biographie enthält sehr viel Richtiges und Lesenswertes, aber auch vermeidbare Irrtümer; so hätte Schoeller gerne gewusst, worüber Döblin 1929 in einer Sendung der ‚Funkstunde‘ mit seinem Sohn Wolfgang gesprochen hat; die Aufzeichnungen, die im Nachlass dazu existieren, kennt er offenbar nicht.

Es ist schade, dass Schoeller den jüngsten Sohn Stephan Döblin nicht befragt hat. Dieser teilte alle Stationen des Exils mit den Eltern, in Los Angeles sogar das Zimmer mit seinem Vater und vollzog 1941 die Taufe mit. Im Gespräch mit Stephan Döblin, der in Louveciennes bei Paris lebt, hätte er auch Genaueres über das Familientreffen 1948 in Nizza erfahren können, bei dem nicht der Sohn von Klaus, sondern von Stephan Döblin getauft wurde; Klaus weigerte sich, den Vater zu empfangen, weil er den Eltern nicht verzeihen konnte, ihn 1940 in Frankreich zurückgelassen zu haben.

Schoeller befasst sich eingehend mit den autobiographischen Schriften Döblins, vor allem dem brillanten Ersten Rückblick. Erstaunlich ist Schoellers Urteil, Döblin betreibe Selbststilisierung, wenn er schon als Kind den Abstand zu anderen gespürt, „eine andere Syntax und Grammatik“ gekannt habe, wie er einmal schrieb. Diese Erfahrung entspricht doch gerade dem hochbegabten Kind. Döblin empfand seine Andersartigkeit nicht einmal als störend, sondern als innere Kraft, die ihm schon früh Stoff zum Denken gab. Auch teilte er in den ersten zehn Lebensjahren seine künstlerischen Interessen mit seinem Vater, was das Selbstvertrauen des kleinen Jungen stärkte. Schoeller bleibt skeptisch, was die an sich sehr offenen und uneitlen Bemerkungen Döblins zu seinem dichterischen Schaffen betrifft. Dessen Selbstbeobachtung um 1930, er habe von sich nicht das Gefühl einer Entwicklung, sondern des Ruhens, einer Unbeweglichkeit, bezeichnet Schoeller gar als Stilisierung zum „Kastenmitglied der Unberührbaren“. Hier zeigt sich ein Dilemma Schoellers: Einerseits vermisst er unverschlüsselte Selbstäußerungen des Dichters, andererseits bezweifelt er die Glaubwürdigkeit vorhandener Bekenntnisse.

Döblin ist weniger „im Versteck“, als es Schoellers einleitendes Kapitel behauptet. Wenn der Biograph schreibt, Döblin mythisiere seine Produktion „als Fremddiktat“, dann scheint er wenig bis kein Verständnis zu haben für das, was Döblin und Andere seit Aristoteles als Gabe der dichterischen Inspiration beschreiben. Hohe Intensität des Erlebens, wiederkehrende starke Eindrücke und/oder eine schöpferische Eingebung lösen den Schaffensdrang aus, den Döblin übrigens am ausführlichsten in einer Umfrage von 1927 beschreibt, als er auf die Entstehung seines Epos Manas eingeht. Der Dichter erlebt Sprache als eigenständige Größe, die sich ihm in Schaffensphasen überwältigend öffnet. Wieso will Schoeller nicht mitvollziehen, dass Döblin sich „als die ausführende Hand eines überpersonalen Prozesses“ sieht, warum spricht er in diesem Zusammenhang von „stilisieren“ und „fingieren“?

Schoellers Kapitelüberschriften erscheinen nicht glücklich gewählt; was soll man sich unter „Fluchten, Nornengarn und Daseinssiege“ vorstellen, der Überschrift für die ersten Jahre des Exils? Alliterationen wie „Republik, Roman, Ruhm“ bergen die Gefahr der Worthülse. Schoellers Sätze wirken besonders gegen Ende des Buches gelegentlich fragwürdig; zum Beispiel heißt es über die letzte Lebensphase: „Er durchlebte noch einmal einen Roman, doch ohne Romanstoff“. Im letzten Absatz steht die rhetorische Frage: „Welche Kenntnis vom Kreis, […] der Grundfigur seines Lebens, war ihm eingebrannt?“ – Bei solchen Sätzen wie bei einigen sinnentstellenden Druckfehlern und längeren Zitaten, die doppelt verwendet werden, vermisst man das Lektorat des Verlags. Weitere Schwächen zeigen sich in begrifflichen Formulierungen: Natürlich ist die Amazonas-Trilogie kein „christliches Romangebilde“. Das gibt es genauso wenig wie ein ‚jüdisches Romangebilde‘. Unverständlich ist auch Schoellers Etikettierung, wenn er von der Drucklegung des Hamlet, des „christlichen Romans im Ost-Berliner Aufbau-Verlag“, berichtet.

Im Hinblick auf den letzten großen Roman Hamlet greift Schoeller eine Behauptung auf, die schon 1956 beim Erscheinen des Romans zu Unrecht in Umlauf gesetzt wurde: dass nämlich Döblins Glaube ohnehin schwächer geworden sei und er daher kein Problem damit gehabt hätte, auf Drängen des Ostberliner Verlags Rütten & Loening den sog. Klosterschluss des Hamlet zu ändern. Damit vermengt Schoeller zwei verschiedene Themen auf unzulässige Weise: zum einen die Frage, welche Kompromisse Döblin bereit war einzugehen, damit dieser Roman nach zehn Jahren in der Schublade überhaupt gedruckt wurde, und zum anderen die Frage nach Döblins religiöser Entwicklung in den letzten Lebensjahren.

Auffällig ist, dass Schoeller die Primärquellen genau, Adaptionen der Sekundärliteratur hingegen nur in Auswahl belegt. In dem umfangreichem Literaturverzeichnis steht einleitend: „Gedankt sei auch all jenen, deren Arbeiten einzelne nützliche Hinweise enthalten, ohne dass sie hier gesondert verzeichnet sind.“ Besser wäre es gewesen, auf die 15 eng bedruckten Seiten mit dem allgemeinen Literaturverzeichnis zu verzichten und stattdessen die „nützlichen Hinweise“ exakt wie die Primärquellen zu belegen.

Ein Beispiel: Dass Döblin seine Aufsätze Flucht und Sammlung des Judenvolkes (1935) mit den beiden Erzählungen Märchen von der Technik und Der verlorene Sohn abschließt, deutet Schoeller als „didaktische Wendung“. Die (Ab-)Qualifizierung dieser Erzählungen als ‚didaktisch‘ erfolgt im Anschluss an Hans Otto Horch, den Herausgeber der Schriften zu jüdischen Fragen, aber ohne Hinweis auf ihn. Die beiden Erzählungen als „Gelegenheitstexte“ abzutun, lässt darüber hinaus keine gründliche Lektüre erkennen und ist in Schoellers Duktus auch nicht folgerichtig, denn er zeigt zuvor für Unser Dasein (1933) glaubwürdig, welch organische Funktion die Erzählung Sommerliebe in diesem Buch hat. Solche Funktionalität hätte Schoeller mit gutem Grund auch den Erzählungen in Flucht und Sammlung des Judenvolkes beimessen können: Döblin krönt seine Essays mit einer Verbeugung vor dem Erlebnishorizont und der Erzählhaltung ostjüdischer Autoren, worauf schon 1924 die Rezension David Bergelsons hinweist. Döblin erzählt ruhig, Bild für Bild und schließt das Buch ab mit einem Gebet für das Haus Israel, das ebenfalls keineswegs didaktisch, sondern höchst poetisch und im Kontext der Zeit sehr eindringlich ist.

Döblins Flucht vor den Nazis und seine Konversion erzählt Schoeller den Umständen entsprechend spannend, dem Leser sei allerdings empfohlen, auch auf Döblins eigene Darstellung in der Autobiographie Schicksalsreise zurückzugreifen. Denn er möchte vielleicht wissen, was Schoeller mit „raunenden Reflexionen“ der im selben Satz als „ergreifend“ bezeichneten Schicksalsreise meinen mag. Es zeigt sich: Döblin formuliert seine Fragen und Zweifel an Gott angesichts der Konzentrationslager sehr klar, während der Biograph anscheinend der Versuchung erliegt, seine eigene Befindlichkeit auf Döblin zu übertragen: Er habe „noch viele offene Rechnungen zu begleichen und viele Zweifel abzudichten“. Döblin selbst liegt diese Sprache fern. Seine Bekehrung tut Döblins Kritikfähigkeit und Ironie keinerlei Abbruch; in Hamlet spottet er: „Ich ziehe in keinen Kreuzzug, um ein heiliges Grab den Muselmännern zu entreißen“. Anders als Schoeller ist Döblin bereit, Unfassbarkeiten und Widersprüche hinzunehmen: „Ich muß den, der diese Welt hinstellt, nehmen wie er (und diese Welt) ist. Ich muß ihn in Bausch und Bogen schlucken. Einen filtrierten ‚lieben Gott‘ kann ich nicht akzeptieren.“

Schoeller hat sich zwar ausgiebig mit Döblins religiöser Entwicklung und den nach seiner Konversion (1941) entstandenen Büchern befasst, aber er bleibt unter seinem sonstigen Reflexions-Niveau, wenn es um die Diskussion der christlichen Dimension in Döblins Leben und Werk geht. Es scheint nicht in seine Vorstellung zu passen, dass auch ein Katholik an Gott zweifelt – obwohl dies selbst von Heiligen bekannt ist. Eine zentrale These Schoellers ist, Döblins christlicher Glaube sei „doch viel schütterer“ gewesen, als dies „systemgläubigen Wissenschaftlern“ erscheine. In der Einleitung bleibt verborgen, wen oder was Schoeller meint, aber das Schlusskapitel bringt Aufschluss: Der „höchst verdienstvolle“ Herausgeber Anthony W. Riley (auf Seite 368 fälschlich Arthur genannt) halte „den Christen Döblin für eine unveränderliche Größe“. Schoeller stellt ihn in Gegensatz zu Robert Minder, der die freischweifende Art von Döblins Christentum betont habe. Abgesehen von der Fragwürdigkeit des Ansatzes, nur an einem Punkt verschiedene Forschungsmeinungen zu zitieren, kann kein Zweifel an Rileys differenzierter Darstellung bestehen. Schon im Nachwort zu Der Oberst und der Dichter bezeichnet Riley Döblin als Mitglied der „Ecclesia quaerens“: „Ein ständiges Fragen, ein stetes Suchen nach der religiösen Wahrheit begleitet den Menschen Döblin und alle von ihm gestalteten fiktiven Personen im Spätwerk.“

Eine konstante Figur in Döblins Werk ist die Gestalt des Hiob, so auch in den Religionsgesprächen. Schoellers Kommentar hierzu lautet: “Die jüdische Zentralfigur sitzt erratisch im katholischen Glaubenstext herum.” Mit solchen Sätzen wird der Biograph weder seinem eigenen Anspruch noch seinem Sujet gerecht.

Trotz dieser Einwände gebührt Schoeller das Verdienst, eine Gesamtschau auf Döblins Leben und Werk gewagt zu haben, auf einen Autor, der versuchte, mit den Widersprüchen von Intellekt und Emotion, Anspruch und Wirklichkeit zu leben, sich immer ganz in die Waagschale warf, nicht berechnend war, nicht darüber nachdachte, dass er sich mit Publikationen zum falschen Zeitpunkt schaden konnte. Möge Schoeller Andere anspornen, Döblins Leben und Werk auf ihre Weise zu erfassen, und möge es seiner Biographie gelingen, viele Leser an Döblins Werke heranzuführen.

Titelbild

Wilfried F. Schoeller: Alfred Döblin. Eine Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
910 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237698

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