Zivilisierte Gewalt tut not
Anmerkungen zum soziologischen Verständnis von Gewalt
Von Dirk Kaesler
Zwei beliebige Tage des Zeitungslesens. Ich wähle Dienstag, den 27. Dezember 2011 und Mittwoch, den 28. Dezember 2011. Allein das erste Buch der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ berichtet mehr als genug über Gewalt in vielerlei Erscheinungsformen, – von der „gewöhnlichen“ Gewalt, über die auf den hinteren Seiten geschrieben wird (Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Schlägereien, Messerstechereien) einmal abgesehen: In Nigeria wurden mehr als 40 Menschen bei Bombenanschlägen auf christliche Kirchen getötet. Die syrische Armee ging mit scharfer Munition und Tränengas gegen Regimegegner in Homs vor. Ein Selbstmordattentäter hat im irakischen Innenministerium mindestens sechs Menschen getötet. Im Jemen eröffneten Soldaten der Republikanischen Garde das Feuer auf Demonstranten und töteten mindestens zehn Menschen. In Darfur wurde der Rebellenführer Khalil Ibrahim bei einem Luftangriff getötet. Durch einen Selbstmordanschlag in Taloqan im Nordosten Afghanistans wurden mindestens 20 Menschen getötet und 50 weitere verletzt. In Bahrein wurden 46 Menschen bei Zusammenstößen zwischen Militär und oppositionellen Gruppierungen getötet, 2.000 Oppositionelle wurden verhaftet, 35 schiitische Moscheen zerstört. Ein Verwaltungsgericht in Kairo hat die entwürdigenden sogenannten „Jungfrauentests“ in ägyptischen Militärgefängnissen verboten. Piraten haben im Arabischen Meer den Öl- und Chemietanker „Enrico Ievoli“ angegriffen und entführt. In der westlich von Jerusalem gelegenen Stadt Beit Schemesch kam es zu gewalttätigen Protesten ultraorthodoxer Juden, die dafür kämpfen, dass Frauen auf Bürgersteigen, in Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln von Männern getrennt werden. Der in der syrischen Opposition aktive Grünen-Politiker Ferhad Ahma wurde in seiner Berliner Wohnung von zwei Männern überfallen und verletzt.
Einigermaßen beunruhigt lege ich die Zeitung zur Seite: Gewalt herrscht anscheinend überall! Gibt es heute mehr Gewalt als früher? Oder verdankt sich unsere Wahrnehmung allseits verbreiteter Gewalt nur der Tatsache, dass uns die Medien mit deren Omnipräsenz in permanenter Folge konfrontieren? Vielleicht war es in früheren Zeiten noch viel gewalttätiger, nur erfuhren die Menschen allenfalls von jener Gewalt, die in ihrem eigenen Stamm oder Dorf stattgefunden hatte, aber schon nichts mehr davon, was im nächsten Bergtal passierte. Ich war noch nie in Beit Schemesch, und nun weiß ich über die Gewalttätigkeiten, die sich dort abspielen. Und dazu spülen die täglichen Nachrichtensendungen auch noch bewegte Bilder von sich tötenden und verletzenden Menschen in unser Bewusstsein.
Was hat es mit dieser Gewalt auf sich? Das Wort „Gewalt“ kommt vom althochdeutschen „waltan“ und bedeutet Herrschen, vor allem durch die Anwendung von physischem Zwang. Menschliches Handeln, das wir als gewaltsam oder gewalttätig bezeichnen, ist zum einen Ausdruck der aggressiven Natur des Menschen, die in jedem von uns – wenn auch in unterschiedlicher Virulenz – steckt. Zum anderen dient Gewalt als legitimes oder als illegitimes Mittel zur Begründung, Aufrechterhaltung oder zur Überwindung bestimmter Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Zur Bewahrung ihrer Macht setzen die Inhaber von Macht- und Herrschaftspositionen sachliche und personale Gewaltmittel ein, um im Fall der Gehorsamsverweigerung eine dem jeweiligen Herrschaftssystem entsprechende Gewaltanwendung durchführen zu können.
Gewalt begegnet uns in Vergangenheit und Gegenwart in höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen, man denke nur an elterliche Gewalt, Amtsgewalt, Staatsgewalt, kirchliche Gewalt, richterliche Gewalt, militärische Gewalt, kriminelle Gewalt. Gewalt muss nicht immer brutal und körperzerstörerisch sein, sie kann auch sehr subtil eingesetzt werden als psychischer Zwang. Gewalt kann direkt oder indirekt eingesetzt werden, es wird unterschieden zwischen personaler Gewalt – Mensch gegen Mensch – und struktureller Gewalt – von ungerechten sozioökonomischen und politischen Verhältnissen ausgehende Zwänge –, es hat sich eingebürgert, zwischen retardierender „Ordnungsgewalt“ zur Verteidigung des Überkommenen und progressiver „Änderungsgewalt“ zur Erneuerung oder Verbesserung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse zu unterscheiden. Alle einleitend genannten Erscheinungsformen von Gewalt, wie sie uns täglich in den Nachrichtenmedien präsentiert werden, können und werden von den jeweiligen Parteien in eben diesen Unterscheidungen diskutiert. Es ist nicht die Aufgabe der Soziologie zu beurteilen, welche Seite „Recht“ hat, sondern es geht darum, Gewaltphänomene zu identifizieren und zu analysieren.
Alle Formen von Gewalt erschrecken die Menschen, die direkte und brutale Gewalt zwischen Menschen ganz besonders. Als im September 2009 der Manager Dominik Brunner vier 13- bis 15-jährige Schüler in München vor den räuberischen Erpressungsversuchen durch zwei betrunkene Jugendliche schützen wollte und von diesen derart geschlagen und getreten wurde, dass er an den Folgen dieser Misshandlungen verstarb, ging das Entsetzen über diesen erneuten Fall von Gewaltkriminalität durch die ganze deutsche Gesellschaft. Zu den als soziologisch bedeutsamen Ursachen für derartige Taten wurden die Relativierung und Erschütterung überkommener Wert- und Normensysteme genannt, die Abnahme traditioneller gemeinschaftlicher Bindungen und sozialer Kontrolle, soziale Entwurzelung, erhöhte horizontale Mobilität, die Herausbildung krimineller Gruppen und die Verbreitung von Gewaltdarstellungen in den Medien. Solche Erklärungsversuche haben nichts an der angespannten Stimmung verändert, die viele von uns ergreift, wenn wir erleben, wenn Ärger in einem Waggon der S-Bahn anhebt und die Stimmen plötzlich lauter werden. Wie kann ich mich bei Gewaltbedrohung gegen mich und andere schützen? Bin ich bereit, mich verteidigend zu engagieren? Kann ich das überhaupt? Das postum verliehene Verdienstkreuz 1. Klasse nützt niemandem, schon gar nicht den Eltern von Dominik Brunner.
Das Auftreten von Gewalt in menschlichen Gesellschaften ist ebenso alt wie das Bestreben, alle Formen von Gewaltanwendung einzugrenzen. Es war genau dieses Bestreben, das zum Einsatz von staatlicher Gewalt gegen nicht-staatliche Gewalt geführt hat und weiter führt. Das herkömmliche „Recht“ der Gewaltanwendung des physisch Stärkeren gegen den Schwächeren, sollte durch die Gewalt des Leviathan gebrochen werden. Aus soziologischer Sicht wird Gewalt – sowohl ihre Androhung als auch ihr Einsatz – als legitimes und notwendiges Mittel der Herrschaftsausübung betrachtet. Durch Gewalten(!)teilung und verfassungsrechtliche Grundordnungen wird versucht, die Gewalt zu kanalisieren. Dadurch soll der zerstörerischen Gewalt (Lateinisch: violentia) die ordnende Amtsgewalt (potestas) entgegen gestellt werden. Diese Prozesse stellen, trotz aller immer wieder zu verzeichnenden Rückschritte, eine der ganz großen zivilisatorischen Errungenschaften dar. Es braucht also, unter bestimmten Umständen und in zivilisierten Formen, Gewalt!
In seiner famosen Rede über „Politik als Beruf“ aus dem Jahr 1919 geht es dem Soziologen Max Weber darum, Politik als „die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates“ zu definieren. Einen Staat wiederum bestimmt er als „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“. Wer sich mit Politik befasst, also dem Streben nach Machtanteil und der Beeinflussung der Machtverteilung, und darum Politiker wird, muss nach Max Weber einen Dreiklang persönlicher Qualitäten mitbringen: „Leidenschaft“, „Verantwortungsgefühl“ und „Augenmaß“. Gerade der Macht- und Gewaltbezogenheit des politischen Handelns wegen müsse dieses „verantwortungsethisches Handeln“ sein, bei dem keineswegs jedes Mittel den Zweck „heilige“. Vor allem zu bedenken sei dabei die Tatsache, dass jeder, der sich auf Politik einlasse mit „diabolischen Mächten“ – also Macht und Gewaltsamkeit – einen Pakt schließe.
Weil es der heutige Rechtsstaat nicht allein bei der normativen Forderung nach solchen persönlichen Qualitäten belassen will, unterliegt die staatliche Gewalt einer Vielzahl rechtlicher Bindungen. Die Anwendung von staatlicher Gewalt wurde und wird nur dann als gerechtfertigt angesehen, wenn sie zur Abwehr illegitimer Gewalt eingesetzt wird. Sogar das Töten im Krieg ist nicht mehr jenseits gesetzlicher Regelungen, wie der emeritierte Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, Albin Eser, in einem fulminanten Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 28. Dezember 2011 ausführte.
Für die Gewaltanwendung im Krieg nennt er drei „Grunderfordernisse“: 1) Militärische Gewaltanwendung mit möglichen Todesfolgen kann von vornherein nur dann legitimierbar sein, wenn und soweit sie unter Beachtung des Gewaltverbots autorisiert ist. 2) Um autorisierbar zu sein, muss – über formale Souveränitätsbehauptung hinaus – ein gewichtiger Grund vorliegen, dessen Zielsetzung nicht außer Verhältnis zu möglichen Verlusten an Menschenleben stehen darf. 3) Um rechtsstaatlichen Erfordernissen zu genügen, sind Eingriffe in das Recht auf Leben durch Ermächtigung zu militärisch erforderlichen Tötungshandlungen so klar wie möglich in gesetzesförmiger Weise zu bestimmen.
Wenn nicht einmal mehr der hemmungslose Einsatz von Gewalt im Krieg legitimiert werden kann, dann gilt das ebenso und noch viel mehr für die notwendige Beschränkung von staatlicher Gewalt im Inneren von Gesellschaften. Jede Polizistin und jeder Polizist, jede Vollzugsbeamtin und jeder Vollzugsbeamte im Strafvollzug, jede Zöllnerin und jeder Zöllner, jede Lehrerin und jeder Lehrer wissen, dass jede übermäßige Anwendung von Gewalt strafrechtliche und dienstrechtliche Sanktionen nach sich ziehen kann. In Deutschland ist sogar der vormals quasi rechtsfreie Raum der Familie mittlerweile durch die Strafgerichte domestiziert: Seit dem Jahr 2002 schützt das „Gewaltschutzgesetz“ – als § 1 des „Gesetzes zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen“ – vor häuslicher Gewalt und „Stalking“. Seit dem Jahr 2004 wurde die Vergewaltigung in der Ehe zu einem Offizialdelikt gemacht, das wie jede andere Art von Vergewaltigung vom Staat bestraft werden muss.
Die Zivilisierung von Gewalt tut ebenso not, wie der Einsatz zivilisierter Gewalt. Der Weg zur noch wirksameren Zivilisierung von Gewalt in und zwischen Gesellschaften ist fraglos noch ein langer und von Rückschlägen begleiteter. Die Friedens- und Konfliktforschung, in Zusammenarbeit mit dem ganzen Potential der nationalen und internationalen Soziologie, Geschichts- und Rechtswissenschaften, soll dazu beitragen, die wissenschaftlich fundierte Unterscheidung bei allen diesen vielfältigen Gratwanderungen treffen zu können. Man kann nur darauf hoffen, dass auch die Wissenschaftspolitik und die Politik einer Universitätsleitung um den Wert solcher wissenschaftlichen Begleitung von historischen und gegenwärtigen Gewaltphänomenen Bescheid weiß.