Mutter oder Frau

Julia Freytag und Alexandra Tacke haben einen Sammelband über die City Girls der 1920er-Jahre herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schönheitschirurgie boomt. Nicht etwa darum, weil die Menschen hässlicher wären als in früheren Zeiten; doch der nicht zuletzt mediale Druck, den Körper gemäß herrschender Normen umgestalten zu lassen, ist gegenwärtig stärker als je zuvor. Er wird von den Werbungen der Litfasssäulen und diversen Models auf den Laufstegen der Welt, die sich vielleicht nicht einmal selbst der einschneidenden Prozedur unterzogen haben, vermittelt. In ihren Fällen wird die Normierung vielmehr von Retuschier-Programmen vollzogen, wie sie im Computerzeitalter nahezu alle Illustrierten obligatorisch für einschlägige Photos einsetzen. So scheinen die TrägerInnen der ebenso makel- wie porenlosen Antlitze, die uns von den Titelblättern von Mode- und anderen Zeitschriften entgegenlächeln, nie auch nur in die Versuchung kommen zu können, zu einem der Mittelchen zu greifen, die im Innenteil dafür angepriesenen werden, die aus den Poren mancher jugendlicher Gesichter sprießenden Pickel zu verhindern.

Die Schönheitschirurgie selbst – und auch die Werbung für sie – ist allerdings um einiges älter, als etwa Angehörige der jüngsten Generation vermuten dürften, die glauben, sich die Nase begradigen, die Brüste mit Gel-Mischungen aufblähen oder das Fett absaugen lassen zu müssen, wie etwa eine in dem von Julia Freytag und Alexandra Tacke herausgegebenen Sammelband „City Girls“ reproduzierte Werbeanzeige „für Künstlerische Chirurgie“ aus dem Jahr 1932 zeigt. Doch war dies keineswegs der Beginn kosmetischer Eingriffe in den menschlichen Körper, Annelie Ramsbrock bietet dem Publikum in einer unlängst erschienenen Untersuchung einen Blick, der noch weit tiefer in die lange Historie der „künstlichen Schönheit“ reicht.

Die Beitragenden des auf ein Symposium anlässlich der 65. Geburtstage von Christina Braun und Inge Stephan zurückgehenden Sammelbandes von Freytag und Tacke konzentrieren sich allerdings ganz auf die 1920er-Jahre, in denen die titelstiftenden City Girls die Straßen der westlichen Metropolen und die Büros der sie säumenden Hochhäuser bevölkerten. Öfter noch aber waren sie in zeitgenössischen Medien wie dem aufstrebenden Film zu bewundern, bei dem Frauen „seit den 1920er Jahren“ allerdings „nicht mehr nur Objekte vor der Kamera, sondern auch Subjekte hinter der Kamera“ waren, wie die Herausgeberinnen anmerken. Tatsächlich gab es mit Alice Guy-Blanché (1873-1968) sogar bereits Ende des 19. Jahrhundert eine Regisseurin (so würde man sie heute zumindest nennen), die 1896 im Alter von gerade mal 23 Jahren einen fiktionalen Film mit dem Titel „La fée aux choux“ drehte. Zwar dauert die Handlung, in der eine ‚gebärende‘ Fee auf wundersame Weise Babys aus einem Gartenbeet zieht, kaum eine Minute, doch darf er durchaus als (Miniatur-)Spielfilm gelten. Schon im folgenden Jahr trat sie mit nicht weniger als acht weiteren Filmen an die Öffentlichkeit. Es war dies der Beginn einer jahrzehntelangen ertragreichen Schaffenszeit einer heute zu Unrecht weitgehend vergessenen Regisseurin.

Doch zurück zu dem zu besprechenden Sammelband und somit zu den City Girls der 1920er-Jahre. Neben dem Kintopp hatten diese Neuen Frauen auch in diversen Illustrierten und in den zunehmend den Buchmarkt erobernden Romanen, die Autorinnen für ihre Geschlechtsgenossinnen schrieben, prominente Auftritte. Gerade „die jungen, neugierigen und ehrgeizigen Protagonistinnen der Romane repräsentieren den ‚Idealtyp der Neuen Frau‘“, wie die Herausgeberinnen anmerken. Kino, Illustrierte und Romane prägten denn auch den von Freytag und Tacke beschriebenen „neuen Look“ der „jungen und sportlichen“ Neuen Frauen mit „Bubikopf, kurzem Rock und Zigarette“, die ihre „neue Freiheit genießen“ und „nicht mehr nur begehrt werden, sondern selbst begehren“. In ihrer Freizeit „tanzen, trinken, rauchen, flanieren und flirten sie, als gäbe es kein Morgen“, um nach kurzen Nächten ins Büro und an die Schreibmaschine zu „eilen“. Doch betonen die Herausgeberinnen auch, dass sich die vom „Bild der Neuen Frau“ versprochenen „Utopien und Aufbruchsphantasien“ für diese jungen Mädchen „in der sozialen Realität der Großstädte nur schwer“ erfüllten.

In einem der lesenswertesten Beiträge des Bandes wendet sich Ariane Martin den literarisierten „neuen SchreibKräfte[n]“ zu und stellt die „Sekretärinnen in Romanen von Irmgard Keun und Alice Berend“ nebeneinander. Bevor sie jedoch Keuns Gilgi und Berends „Fräulein Wegfraß“ aus den Romanen „Gilgi, eine von uns“ und „Der Herr Direktor“ vergleicht, konstatiert sie – wohl nicht zu Unrecht –, bei Keuns Buch handele es sich um einen Gegenentwurf zu dem Roman „Schicksale hinter der Schreibmaschine“, in dem Christa Anita Brück ein Jahr zuvor „Ehe und Mutterschaft als wünschenswerte Alternative zur weiblichen Erwerbstätigkeit propagiert“ hatte.

Wendet sich Martin fiktiven Figuren zu, so gilt Annegret Pelz’ Interesse nicht den literarisierten, sondern den realen „City Girls im Büro“, während sich Ulrike Vedder den „Körperposen“ von Sportlerinnen und Schaufensterpuppen widmet. Renate Berger erinnert an Valesca Gert, die als „bad girl des neuen Tanzes“ bei ihren Performances nicht nur „Amme oder Erzengel“ und „alle Nuancen von der verführten Frau bis zur Kupplerin“ sowie „Geburt, Nervosität, Ekstase“, sondern auch Sportarten wie Radrennen, Schwimmen, Boxen oder Fußball, ja selbst Gerüche zu tanzen verstand. Dagmar von Hoff wiederum befasst sich mit Germaine Dulacs „poetischen Traumdiskursen“ im „frühen Avantgarde-Film“.

Übertroffen aber werden alle diese durchweg erhellenden Beiträge von Ulrike Stamms Aufsatz über Mela Hartwigs Roman „Das Weib ist ein Nichts“. Wie Stamm überzeugend zeigt, handelt es sich bei dem Buch nicht nur um „eine kritisch intendierte Darstellung von patriarchalen Strukturen und deren weiblicher Internalisierung“. Hartwig stellt – und das ist das eigentlich originelle von Stamms Deutung – darüber hinaus die „radikalisierte Geschlechterpolarität“ wie auch Vorstellungen (männlicher) autonomer Subjektivität in Frage, wobei die Literatin „zeitgenössische abwertende Weiblichkeitsideologeme aufnimmt und hypostasiert, um sie sodann mit verschiedenen narrativen Strategien kritisch zu unterlaufen“ und ihre männlichen Figuren zugleich als „Unterworfene“ und „Besessene“ zu charakterisieren, die sich „entweder an Intrigen, an die Musik, an ihren Machtwillen oder an das Ziel gesellschaftlicher Veränderungen verlieren“ und daher „nicht mehr autonom handeln können“.

Mit dieser „Demaskierung männlicher Autonomievorstellungen“ erhebt Hartwig der Autorin zufolge „Einspruch gegen alle polaren Geschlechtertheorien, die die These der weiblichen Passivität benötigen, um Vorstellungen männlicher Autonomie und Unabhängigkeit zu entwerfen“, und „kehrt“ die damals von männlichen Ärzten und anderen Wissenschaftlern dem weiblichen Geschlechte gegenüber gerne gestellte „Defizienzdiagnose“ um: „Nicht der ‚imprägnierbaren‘ Frau fehlt etwas, sondern die vermeintlich autonomen männlichen Subjekte sind allesamt gepanzerte Individuen, die aus diesem Grund von der Liebe nicht wirklich berührt werden können.“

Doch nicht nur zum Roman und seiner Handlung hat Stamm Kluges zu sagen, sondern auch zu seinem Titel, der – ebenso wie das ihm vorangestellte Motto – einem „Spruch“ Friedrich Hebbels entnommen ist, aus dem Stamm zitiert: „Das Weib ist ein Nichts; nur durch den Mann kann sie etwas werden […] sie kann Mutter durch ihn werden.“ Im „kollektiven Imaginären“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, bemerkt Stamm hierzu, schlossen sich Mutterschaft und Frausein aus, und auch in den 1920er-Jahren der Romanhandlung „scheint“ es „weiterhin nur die Alternative zu geben, Frau oder Mutter zu sein“. Hartwigs Protagonistin Bibiana „entscheidet sich für ersteres“.

Bietet Stamms Aufsatz die gründlichste und schärfste Analyse, so ist Heike-Melba Fendels ebenfalls instruktiver Beitrag über das It-Girl Clara Bow zweifellos am besten geschrieben. Selbst einige fast schon aphoristisch anmutende Sentenzen lässt sie wie nebenbei einfließen. Nicht nur ihr Interesse, sondern zweifellos auch ihre Sympathie gelten Clara Bow, die zu den großen Stars des frühen Kinos zählte – und unglücklich war. Es konnte wohl kaum anders sein. Denn „glückliche Mädchen werden keine Schauspielerinnen, das galt damals wie heute. Wenigstens werden sie keine Stars“, wie Fendel weiß, die Bow mit den Worten „All the time the flapper is laughing and dancing, there’s a feeling of tragedy underneath. That’s what makes her different“ zitiert.

Offenkundig spricht die Aktrice hier auch von sich selbst, denn Bow war nicht nur Schauspielerin und unglücklich. Wie keine andere verkörperte sie zudem – nicht zuletzt als Protagonistin des Filmes „It“, dessen Titel begriffsbildend wurde – das It-Girl, eine „Variante“ des Flappers, der wiederum selbst die US-amerikanische Variante der deutschen „Neuen Frau“ war.

It-Girls werden von Fendel auch als „Gegenstand unerfüllter Männerphantasien“ charakterisiert. Unerfüllt blieben diese Fantasien, weil dei It-Girls selbst entschieden, „wen sie zerstören bzw. heiraten wollten“. Denn „im Gegensatz zum Backfisch – einem anderen beliebten Frauentypus im Kino der damaligen Zeit – belässt es das It-Girl nicht beim Schwärmen, es schwärmt aus, fühlt vor und zieht alle Register“. Zu seinen „Insignien“ zählten „Stil, Irrsinn, Partywut und Zerbrechlichkeit. Und natürlich die falschen Männer“. Die wurden zwar vom It-Girl selbst gewählt, waren aber eben darum doch nicht die ‚richtigen‘ – die es ja womöglich überhaupt nur als Mr. Right im Hollywood-Film gibt.

Zumindest in der „Leinwandrealität“ zählten für Flapper und It-Girls „vor allem der größtmögliche Spaß bei bestmöglichem Aussehen“. Dieser „Schnittmenge aus Konsum und Rebellion“ entsprach im Film wie im wirklichen Leben niemand besser als eben Clara Bow, die Frau, die dem Film zeigte „wo es langgeht. Auch hier natürlich in den Hafen der Ehe, aber dass auch dort weiter nach den Regeln des toughen Mädchens gespielt wird, daran dürften auch die auch die damaligen Zuschauer keinen Zweifel gehabt haben.“

Nun gibt es aber bekanntlich doch einen Unterschied zwischen Film und Leben – und der fällt nicht unbedingt zu Gunsten des Letzteren aus. „Die Flapper on screen haben meist geheiratet“. Das mag zwar nicht eben eine wünschenswerte Perspektive sein. Doch off screen war ihr Schicksal oft noch weit elender. Denn sie haben „einen meist hohen Preis für ihre private Verwegenheit bezahlt“. Clara Bow beispielsweise verlor die Sympathie des Publikums, weil sie nicht gewillt war, der herrschenden Moral gemäß monogam zu leben, sie griff zu Drogen und wurde schließlich als schizophren psychiatrisiert.

Fendel beleuchtet nicht nur die Karriere und das tragische Ende Clara Bows, sondern folgt den Spuren ihrer Elevinnen bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Dabei zieht sie über die von Audrey Hepburn gespielte Holly Golightly, die Schauspielerinnen Jean Seberg, Edie Sedgwick, Helga Anders und andere – eine keineswegs immer gerade Linie von den It-Girls der 1920er-Jahre zu Sienna Miller, die sich „in ‚Factory Girl‘ an Edie Sedgwick abarbeitet“ und zu Lindsay Lohan, die Clara Bow nur noch „spielen“ möchte. „Der Flapper wenigstens ist ersatzlos verschwunden“, klagt Fendel, „seine Variante, das It-Girl hingegen hat schweren Begriffsschaden genommen. Von Paris Hilton bis zur ungekrönten Königin des gewissen Garnichts, Sienna Miller, wird alles als It-Girl bezeichnet, was nicht bei drei auf dem Baum der Erkenntnis ist.“

Anders als die heutigen Hiltons und Millers „waren die Heldinnen der 1920er nicht dem Klischee, sondern dem Experiment und seinem möglicherweise tragischen Ausgang verpflichtet“, resümiert Fendel, „dafür muss man sie lieben. Und vermissen.“ Wohl wahr!

Titelbild

Julia Freytag / Alexandra Tacke (Hg.): City Girls. Bubiköpfe & Blaustrümpfe in den 1920er-Jahren.
Böhlau Verlag, Köln 2011.
227 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783412206031

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