Lenz und die Inkongruenz

Tom Kindt entwickelt eine Komiktheorie und erprobt sie an deutschen Komödien des 18. Jahrhunderts

Von Stefan BalzterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Balzter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was die Komikforschung mit der Physik gemein hat, ist die bislang vergebliche Suche nach einer einheitlichen Theorie, die alle empirisch beschriebenen Phänomene hinreichend erklärt. Das Fehlen einer solchen ,Weltformel‘ zu kritisieren oder wenigstens zu bedauern gehört in einer Arbeit zum Thema schon fast zum guten Ton. In der jüngeren Vergangenheit wurden dann meist die gängigen Komiktheorien kurz erläutert, ohne sich jedoch auf eine davon als Maß aller Dinge festzulegen – eine Herangehensweise, die von gesunder wissenschaftlicher Skepsis, vielleicht aber auch von der vielzitierten postmodernen Beliebigkeit zeugt.

Insofern kann es vielleicht als ein weiterer Beleg für den erfolgten Übergang aus der Postmoderne in die Post-Postmoderne gelten, wenn der in Jena lehrende Literaturwissenschaftler Tom Kindt in seiner Habilitationsschrift aus dieser wertneutralen Gleichberechtigung heraustritt und sich ohne Wenn und Aber einer einzigen Komiktheorie beziehungsweise -theorieströmung verschreibt: dem Inkongruenzmodell.

Kindt beginnt sein Plädoyer mit einer stimmigen und höchst übersichtlichen Systematisierung der bekannten Positionen, die er zunächst in die Metakategorien des Kontextualismus und des Universalismus einteilt. Ersterer beinhalte „die Auffassung, dass Komik im Auge des Betrachters entstehe und sich deshalb einer Bestimmung mit allgemeinem Anspruch entziehe“, und habe sich besonders „unter Geisteswissenschaftlern, Essayisten und Autoren […] in den letzten Jahrzehnten […] durchgesetzt“. Letzterer hingegen versuche sich an allgemeingültigen Theorien und Definitionen des Komischen.

Aus dieser These mit ihrer Antithese versucht nun Kindt ganz dialektisch eine Variante der Inkongruenztheorie zu entwickeln, die beide Positionen miteinander versöhnen soll. Zu diesem Zweck holt er nacheinander zu einer Kritik beider Ansätze aus: Am Kontextualismus bemängelt er zu Recht, dass diesem oft der Charakter einer Ausrede zukommt, sich nicht näher mit einer umfassenden Komiktheorie beschäftigen zu müssen, weil das Komische seinem Wesen gemäß unwissenschaftlich und aller Korrektheit abhold sei. Die Klagen über das Un-Verhältnis zwischen Komik und Theoriebildung sind in der Tat Legion, allein Klaus Cäsar Zehrer zählt in seiner Dissertation „Dialektik der Satire. Zur Komik Robert Gernhardts und der ,Neuen Frankfurter Schule‘“ (2002) nicht weniger als sieben grundlegende Schwierigkeiten beim Schreiben über Komik auf, darunter auch die Lust an „Unzulänglichkeiten und Widersprüchen“, die dem Wissenschaftler „als Verhöhnung seines Selbstverständnisses“ erscheinen müsse.

Auf derlei Ausführungen erwidert nun Kindt, dass sich Wissenschaft mitnichten darauf beschränken muss, sich mit ihrerseits wissenschaftlichen und/oder an Korrektheit orientierten Objekten zu befassen: „Atome, Klimawandel, Globalisierung, Literatur oder Komik – all diese Gegenstände sind offenkundig ,theoriefähig‘, ohne dass ihr ,Wesen‘ dem von Theorien verwandt wäre.“

Am Universalismus hingegen kritisiert er weniger die prinzipielle Herangehensweise, sondern eher methodische Details, etwa die ungerechtfertigte Vermischung zwischen Komik- und Lachforschung, der Gelotologie, oder die ungenügende Abgrenzung qualitativ voneinander abweichender Theorien, zum Beispiel einerseits derjenigen, die sich mit der Form eines komischen Werkes befassen, und andererseits jener, welche Funktion und Wirkung betrachten. Die von Kindt favorisierten Inkongruenzmodelle beispielsweise lassen sich darüber aus, was die Komik im Innersten zusammenhält, während die Superioritätstheorie und Sigmund Freuds Konzept der Ersparung psychischen Aufwands die Auswirkungen auf den Rezipienten, dessen Selbstbild und Psyche betrachten.

Dennoch warnt der Autor davor, die verschiedenen Ansätze als allzu kompatibel – und infolgedessen jeden für sich als allgemeingültig – zu betrachten, denn in „recht vielen Komik-Ereignissen spielen Überlegenheitsgefühle schlicht keine Rolle.“ Allerdings führt er nicht weiter aus, wer diese gleichzeitige Allgemeingültigkeit eigentlich behauptet hatte, denn obwohl viele Autoren in der Tat die Kompatibilität dieser Theorien betonen, lautet doch das gängige (explizite oder implizite) Erklärungsmodell, dass sie jeweils auf Teilbereiche der Komik zutreffen.

Ausführlich wird auch die Fragestellung behandelt, inwieweit es sich bei den sogenannten Komiktheorien tatsächlich um Theorien handelt, entwirft doch beispielsweise Freud ein detailliertes Landschaftsbild emotionaler Vorgänge, das durchaus zutreffen könnte – oder auch nicht. Falsifizierbarkeit ist für freudianisch orientierte Komikforscher ein Reizwort. Dabei, so Kindt, müsse eine Theorie gar nicht notwendigerweise falsifizierbar sein, sie sei schließlich nur eine „Menge von Sätzen zu einem bestimmten Gegenstandsbereich“. Auch wenn seine letztendliche Schlussfolgerung daraus – dass es kein prinzipielles wissenschaftstheoretisches Hindernis gibt, das eine umfassende Komiktheorie verunmöglichen würde – absolut korrekt und nachvollziehbar bleibt, erscheint diese Definition doch zu allgemein. Zwar nennt Kindt in einer Fußnote auch eine Quelle zur näheren Erläuterung und möglicherweise Einschränkung seiner Begriffsbestimmung, aber da er einen erheblichen Teil der weiteren Argumentation auf selbige gründet, wäre es angemessen gewesen, ein klein wenig davon hic et nunc auszuführen. Darüber hinaus wollen viele Komiktheoretiker selbst den Anspruch einer falsifizierbaren Theorie erfüllen, sodass sie sich letztlich auch daran messen lassen müssen.

Recht schnell wird deutlich, dass der Autor innerhalb des von ihm versuchten Brückenschlags zwischen Kontextualismus und Universalismus deutlich zu Letzterem tendiert – wie sonst könnte er auch sein eigenes Theoriegebäude mit allgemeingültigem Anspruch vorstellen? Dennoch weiß er, dass man sich in der Komikforschung bei aller Textimmanenz nicht am Rezipienten vorbeimogeln kann, und entwickelt so seine Vorstellung des Komischen als „Wirkungsdisposition“: Ein komischer Text ist für ihn „geeignet, auf einen durchschnittlichen Rezipienten der Textentstehungszeit komisch zu wirken“. Mit dieser Selbstbeschränkung klammert Kindt leider einen bedeutenden Teil textueller Komik aus, zumal er auch noch die Definition dieses mediokren Publikums als Menge der „zeitgenössischen, durchschnittlich informierten und kognitiv gewöhnlich begabten Rezipienten“ nachlegt. Letztendlich aber ist jede Komik zielgruppenorientiert, was im Falle von Minderheitenkomik besonders ins Auge sticht. Wer jedoch Komik produziert, die sich an Intellektuelle oder an Gruppen mit bestimmten, möglicherweise etwas abseitigen Interessengebieten richtet (in denen sie dann meist überdurchschnittlich informiert sind), wäre für Kindt kein Komiker mehr, seine Texte nicht komisch. Auch die etwa von Hans-Georg Kemper in seiner Studie „Komische Lyrik – lyrische Komik. Über Verformungen einer formstrengen Gattung“ (2009) ausführlich gewürdigte Komik, die durch historische Distanz entstehen kann, blendet Kindt mit seiner Beschränkung auf Zeitgenossen gänzlich aus.

Mit seiner neuen Ausarbeitung und Ergänzung der Inkongruenztheorie orientiert sich Kindt vor allem an der „General Theory of Verbal Humor“, über die er anmerkt: „Davon […], dass mit der GTVH seit mittlerweile zwei Jahrzehnten ein avanciertes Modell sprachlichen Humors vorliegt, das sich als Ausgangspunkt für Überlegungen zu einer Theorie literarischer Komik anbietet, hat die Literaturwissenschaft und insbesondere die im deutschsprachigen Raum kaum Notiz genommen.“

Tatsächlich fanden die Diskussionen um die von Salvatore Attardo und Victor Raskin entwickelte, auf dem Konzept der „semantic scripts“ basierende Theorie bis dato hauptsächlich in der englischsprachigen Zeitschrift „Humor“ statt, und bei aller denkbaren Kritik an verschiedenen Aspekten dieser Theorie ist es ein kaum zu überschätzendes Verdienst, sie auch in die deutschsprachigen Debatten zu transferieren – umso mehr, als Kindt einiges Unausgegorene in der GTVH durch seine „Verfeinerung und Erweiterung“ noch ausbügelt, etwa mit Ergänzungen zur Definition des „scripts“. In einer beispielhaften Anwendung der GTVH auf Gernhardts bekannte Sonettbeschimpfung „Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“ kommt er denn auch vier Seiten später beruhigenderweise zu dem Schluss, dass es sich „um ein komisches Gedicht [handelt]“ – was wir uns zwar schon irgendwie dachten, was aber hier in Wahrheit eher die Qualität der Theorie als die des Gedichts bestätigen soll.

Die weiteren – überzeugenden und klar formulierten – Ausführungen, die unter anderem die Frage der Harmlosigkeit berühren (also das Spiel mit Nähe und Distanz), die Rolle des Amoralischen als entweder fördernder Faktor oder Hindernis in der Komikproduktion sowie die Frage nach der Auflösbarkeit komischer Inkongruenzen, steuern zielbewusst auf Kindts neue Theorie zu, an deren Ende dann der Satz steht, auf den die vorhergehenden hundert Seiten Wort für Wort hinarbeiteten: „Eine Textpassage soll genau dann gerechtfertigt als ,komisch‘ gelten, wenn es in ihr durch die Verwendung oder Verbindung von scripts zu Inkongruenzen kommt, die sich erstens als harmlos wahrnehmen lassen und die zweitens entweder nur scheinbar oder aber offensichtlich gar nicht aufgelöst werden können.“

Der erste Teil des Buches schließt – nach diesen Überlegungen zu allgemein textueller Komik – mit einigen Ausführungen zu spezifisch literarischer Komik. So entwickelt er mithilfe eines vorgestellten „Modell[s] wesentlicher Ebenen und Einheiten literarischer Texte“ aus den darin enthaltenen Elementen – Ereignissen, Vorkommnissen, Verhaltensweisen, Gegebenheiten, Akteuren, Zuständen, Handlungen und Situationen – eine Systematik der „Grundformen des Komischen in der Literatur“, welche, durchaus folgerichtig und ein wenig zu schematisch, unter amderem Ereigniskomik, Vorkommniskomik, Verhaltenskomik, Gegebenheitskomik, Figurenkomik, Zustandskomik, Handlungskomik und Situationskomik enthält. Es fällt auf, dass in dieser Systematik nicht etwa die Arten der Komikerzeugung, sondern Ort und Umstände ihres Auftretens als Grundlage dienen.

Im zweiten Teil soll nun die Probe aufs Exempel unternommen werden: Die zuvor ausgeführten Komik-Gedanken setzt Kindt in Beziehung zum konkreten Werk, genauer: zu deutschen Komödien aus dem 18. Jahrhundert. Darüber, so der Autor, sei zwar schon viel gesagt und geschrieben worden – doch bis dato meist in einer wenig einleuchtenden Trennung zwischen Komik- und Komödienforschung. Kindt möchte diesen Missstand, den Mangel an Untersuchungen zu „Formen und Funktionen des Komischen in der Komödie“, beheben.

Dazu behandelt er Gotthold Ephraim Lessings „Minna von Barnhelm“, Jakob Michael Reinhold Lenz’ „Der Hofmeister“, August von Kotzebues „Die Indianer in England“ sowie Ludwig Tiecks „Der gestiefelte Kater“. Zu jedem der vier Autoren zieht Kindt erstaunliche Mengen an Sekundärliteratur heran und vermittelt jeweils einen Überblick des derzeitigen Forschungsstandes – und der Mängel, die er darin sieht. So gelte Lenz allgemein als Wegbereiter der Moderne, weshalb er sehr oft und ausführlich mit Bertolt Brecht oder Friedrich Dürrenmatt, aber kaum mit Zeitgenossen wie Lessing verglichen werde. Auch tendiere diese Einschränkung auf einen Teilaspekt dazu, Bruch und Innovation in Lenz’ Werk über die Maßen zu betonen. Folgerichtig analysiert Kindt besonders die Kontinuität des „Hofmeisters“ zur sonstigen Aufklärungsliteratur – und natürlich den Einsatz von Komik, befinden wir uns doch in einer „Phase der Literaturgeschichte […], in der es zum Topos wird, dass es für Zuschauer und Leser in den Stücken der Gattung nichts zu lachen gibt.“

Dieses gängige Vorurteil über deutsche Komödien im Allgemeinen und die hier behandelten Autoren im Besonderen, das die Klischees von den humorlosen Deutschen merklich mitprägte, widerlegt Kindt gekonnt und zeigt, dass selbst eine Marginalisierung der Komik keineswegs ihrer Abschaffung gleichkommt.

So bietet die Abhandlung einen sehr informativen und übersichtlich systematisierten Einblick in literarische Komik und ihre Anwendung in den Komödien des 18. Jahrhunderts. Wenngleich man das eine oder andere Detail noch einmal diskutieren könnte – neben den erwähnten Gedanken zum Theoriebegriff wäre das etwa die Frage, ob die Forderung nach ,Harmlosigkeit‘, also nach ausreichender Distanz, nicht die Tatsache unterschlägt, dass Komik auch durch ein Übermaß an Distanz, ergo Indifferenz, verhindert werden kann – wird sich dieses Buch für künftige Untersuchungen des Literarisch-Komischen als kaum verzichtbare Grundlage erweisen, die überdies ein komfortables Eingangstor zur weiteren Beschäftigung mit der erst jetzt allmählich gewürdigten „General Theory of Verbal Humor“ darstellt.

Titelbild

Tom Kindt: Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert.
Akademie Verlag, Berlin 2011.
281 Seiten, 89,80 EUR.
ISBN-13: 9783050051529

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch