Der herkömmliche Geschlechtsverkehr als vollendete Perversion

Ein Sammelband zu "Philosophie und Sex"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sexualität sei ein Thema, "das von der philosophischen Tradition weitgehend vernachlässigt wurde", klagen Philipp Balzer und Klaus Peter Rippe in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes "Philosophie und Sex" und rühmen sich somit, Neuland zu betreten, vielleicht sogar einen philosophischen Tabubruch zu begehen. Alan Goldman stellt in seinem Beitrag "Reiner Sex" jedoch mit mehr Recht fest, dass "Sex [...] seit Platon ein philosophisches Thema" sei. Natürlich wissen das auch die Herausgeber, zählen sie doch eine beachtliche Reihe namhafter Philosophen auf, die sich mit Sexualität und Sexualmoral befasst haben: Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Jeremy Bentham, Arthur Schopenhauer, Bertrand Russel, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Die Liste ließe sich mühelos beliebig verlängern. Das spricht natürlich nicht dagegen, einen Band vorzulegen, in dem sich weitere acht PhilosophInnen zum Thema äußern, auch nicht, dass die "zeitgenössischen" Beiträge der amerikanischen AutorInnen bis auf eine Ausnahme zwischen zehn und mehr als dreißig Jahre alt sind.

Die Aufsätze werden unter den Überschriften "Normaler und perverser Sex", "Sexuelle Beziehungen" und "Sexindustrie" rubriziert. Zwar sei, so die Herausgeber, "normaler Sex weder an Liebe noch an Fortpflanzung gebunden", und "perverser Sex an sich nicht unmoralisch", doch lassen sie eine kritische Erörterung dessen vermissen, was Perversion überhaupt sei. Sie rekurrieren vielmehr auf einen unhinterfragten und nicht näher erläuterten common sense-Begriff des Perversen.

Anders Thomas Nagel in seinem Beitrag "Sexuelle Perversion", dem trotz eines vagen Problembewusstseins Perversion in "einem gewissen Sinne" als "unnatürlich" gilt, ohne dass er jedoch ein Kriterium für Natürlichkeit nennen würde. Ebenso wie den Herausgebern sind ihm Natürlichkeit und Perversion sexueller Handlungen für deren moralische Beurteilung ohne Belang. Auch Robert C. Solomon, der Nagels Beitrag zu Recht "vollkommen asexuell" schimpft, hat seine "vollendete Perversion": den "herkömmlichen Geschlechtsverkehr", worunter er den mit Sexualtechniken geführten "Kampf" um den 'perfekten Orgasmus' versteht. Handelt es sich hierbei auch um ein griffiges Bonmot, so dürfte er dennoch weder mit der Behauptung, dass der Orgasmus bei der Onanie befriedigender sei als beim Geschlechtsverkehr, auf ungeteilte Zustimmung stoßen; noch kann er mit seiner grundlegenden These überzeugen, das eigentliche Ziel sexuellen Verlangens liege nicht im Genuss, sondern in der Kommunikation, wird hier doch ein Widerspruch zwischen sexuellem Genuss und sexueller Kommunikation erkünstelt.

Auch andere Beiträge wie Paul Gregorys Plädoyer "wider die feste Zweierbeziehung" und Daniel M. Farrells moralischer Rettungsversuch der Eifersucht bleiben argumentativ weitgehend schwach.

Im dritten Teil des Buches spricht sich Sibyl Schwarzenbach mit feministischer Intention für eine "Entkriminalisierung der Prostitution" aus. Bedauerlich ist, dass sie zwar die Frage erörtert, ob es legal beziehungsweise legitim (beides trennt sie nicht eindeutig) sei, seinen Körper zu verkaufen oder genauer gesagt zu vermieten; jedoch nicht die Frage aufwirft, ob es moralisch erlaubt ist, den Körper von jemandem zu kaufen bzw. zu mieten. Ihre Suggestion, dass Prostitution eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung sei, dürfte zudem wenig mit dem Lebensalltag auch legaler Huren zu tun haben.

Spricht sich Schwarzenbach für die Entkriminalisierung der Prostitution aus, so Alisa L. Carse dagegen, Pornographie mit rechtlichen Mitteln zu bekämpfen. Sie schlägt andere "Strategien der Intoleranz" vor. "Der feministische Kampf gegen Pornographie", so lautet ihre etwas naiv klingende Forderung, solle sich "auf die Mittel der Erziehung, der sexuellen Selbsterkundung und des Protestes konzentrieren."

Titelbild

Philipp Balzer / Klaus-Peter Rippe: Philosophie und Sex. Zeitgenössische Beiträge.
dtv Verlag, München 2000.
224 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3423307285

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