Einblicke in die thanatologische Welt des Gerichts und die Triebdynamik des Lebensgeflechtes

Wiebrecht Ries betrachtet Franz Kafkas „Der Process“ essayistisch und philosophisch

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Kafkas Roman „Der Process“ gilt als Klassiker der Weltliteratur. Er hat zahlreiche Kommentare und kontroverse Interpretationsansätze evoziert, die seinen Klassikerstatus zementiert haben. Psychologische, psychoanalytische, marxistische, hermeneutische, biografische, historische und intertextuelle sowie zahlreiche alternative Methoden konkurrieren dabei mit Akribie und wissenschaftlicher Eloquenz um die Deutungshoheit. Plausible Lesarten eines Werkes zu finden, das eine komplexe Editionsgeschichte aufweist, bemüht sich auch der emeritierte Philosophieprofessor Wiebrecht Ries. In vierzehn unterschiedlich komplexen und ungleich gewichteten Kapiteln untersucht er ein Buch, das, ginge es nach seinem Schöpfer, eigentlich nicht veröffentlicht werden sollte.

Eröffnet wird der Band jedoch durch ein ausführliches Vorwort von Hinderk Meiners Emrich, dem die Ausgabe in der Reihe „Profile der Avantgarde“ des Elfenbein-Verlags auch gewidmet ist. Der renommierte Psychiater und Psychoanalytiker verweist darauf, dass Kafkas „Process“ der „Roman des 20. Jahrhunderts“ sei und entsprechend von Ries auch phänomenologisch-ontologisch gewürdigt werde. Er resümiert das Grundanliegen des Autors, dem es darum gehe aufzuzeigen, welche aktuellen Bedrohungen im Prozess der Individuation für jeden Menschen im Zeitalter der Verunsicherung herrschen. Hierfür sei Kafkas Protagonist Josef K. ein Paradebeispiel. An dieser Figur lasse sich die dialektische Gestalt aller psychischen Vorgänge herausarbeiten „in den Höhen und Tiefen, in dem Außen und Innen des radikalen Identitätsbildungsprozesses, der in seiner Ambiguität zugleich scheitert und nicht scheitert“.

Diese Paradoxien der humanen Genese werden von Ries im ersten Kapitel in Frageform präzise konkretisiert. Ihm geht es mit seiner essayistischen Analyse um eine Betrachtung der Modi von Zerstörung und Irritation der Vertrautheit durch sprachliche Artikulation, um „das Verstehen von etwas Unerklärlichem“ an der „Grenze seiner logischen Erklärbarkeit“. Kurzum: Ries möchte mit seiner handlichen Publikation darstellen, wie die „Krise des Subjekts die Existenz eines Einzelnen bis zu ihrem Ruin erschüttern“ kann. Dazu rekapituliert er im ersten Kapitel auf einer hermeneutischen Ebene die Sinnspuren des Romans. Er deutet den Handlungsverlauf des Textes als „eine Abfolge von ‚Sinn‘-Aufbau und ‚Sinn‘-Zerstörung“, die nach K.s Verhaftung mit Inhalten wie Scham, Trauma und Grauen angereichert werde. Zentral ist Ries’ Deutung, der Roman „Der Process“ zeige auf eine „verborgene Existenz einer inneren Welt, einer Wirklichkeit dicht ‚hinter‘ der Wirklichkeit“ hin. In kritischer Distanzierung zu zahlreichen methodischen Herangehensweisen der „modischen Literaturtheorie“ plädiert er für ein Denken und Entschlüsseln des Textes in Bildern, da dies auch der Autorenintention nahe komme.

Dieses Grundverständnis des Romans verfolgt er im Folgenden exemplarisch an ausgewählten Kapiteln des Romans. Bereits Ries’ zweites Kapitel mit der Überschrift „Zum ‚Process‘“ weist zahlreiche intertextuelle Bezüge von Kafkas Text zu Heinrich von Kleist oder Fjodor M. Dostojewski auf. Vor allem aber psychologisiert er die Entstehungsgeschichte des Romans, indem er Parallelen zu Kafkas Vita darlegt und zu dem Fazit gelangt: „Unbekannte Gesetze des inneren Lebens lenken äußere Geschehensabläufe.“ Diesen Gedanken führt er in den folgenden drei Kapiteln fort, die sich Kafkas Selbstbeobachtungszwang zuwenden sowie Elemente von Depersonalisationserlebnissen literarisieren. Im Rückgriff auf gnostisch-dualistische Konzepte zeigt er Besonderheiten von Kafkas Sprache auf, die sich auch auf die topografischen Elemente des Romans auswirken: Passagen aus dem Romankapitel „Die Kanzleien“ demonstrieren für Ries „die Differenz zwischen einer Sprache, die auf Grund der Regeln ihrer Grammatik von den Tatsachen der äußeren Welt handelt, und einer ‚anderen‘ Sprache, die für das menschliche Ohr unverständlich bleibt.“

Ebenso textnah und materialreich untermauert interpretiert er zentrale Figuren der Romanhandlung. Beispielsweise wird die Figur Titorelli als Gestalt einer „nihilistischen Artistenmetaphysik“ beschrieben. Zahlreiche weitere Motive und Gestaltungsmerkmale des Romans – etwa das Rufen oder die Instanz des Gerichtes – werden mit umfangreichen Kontextualisierungen erläutert und mit Bezug auf kulturwissenschaftliche Perspektiven beleuchtet.

Abschließend kann man festhalten, dass Ries eine überaus existentielle Studie vorgelegt hat. Bereits in den „einleitenden Bemerkungen“ hat er dies für den Leser redlich offenbart: Seine Lektüren des Romans streben auf die Erkenntnis der „Essenz“, die Ries mit einer „Erziehungslehre des Lebens“ gleichsetzt. Nach rund 150 Seiten wird deutlich, dass Kafkas Roman einen zentralen Aspekt der conditio humana aufdeckt. Jeder Mensch steckt in einem individuell gestalteten „Process“ aus Komischem, Traumhaftem, Schrecklichem und Unheimlichem – in äußerst disparater Zusammensetzung. Insofern kann Ries’ Buch von all jenen mit großem Gewinn zurate gezogen werden, die den Prager Schriftsteller als Poeten realistischer Alpträume kennen und schätzen beziehungsweise kennen und schätzen lernen wollen. Als hilfreich für weitere Kafka-Lektüren erweisen sich ferner die rund 90 Anmerkungen, ein zweiseitiges Literaturverzeichnis und ein übersichtliches Personenregister.

Allerdings sollte man sich nicht auf „leichte Kost“ einstellen, denn an vielen Stellen kann Ries seinen beruflichen Hintergrund als Fachmann für Philosophiegeschichte und Nietzsche-Forschung sprachlich nicht verleugnen. Gerade dann, wenn über antinomische Strukturen oder gar Transformationen seelischer Prozesse in physiognomische Bewegtheit geschrieben wird, verliert der Text etwas von seinem grundsätzlichen Essay-Charakter respektive -Jargon. Insofern wird man beim Lesen an die Romanfigur Frau Grubach erinnert, die Kafka über K.s Verhaftung, juridisches Sprechen und – mutatis mutandis – reflektierte Intellektualität räsonnieren lässt: „Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muss.“

Titelbild

Wiebrecht Ries: "Maskeraden des Auslands". Lektüren zu Franz Kafkas "Process".
Elfenbein Verlag, Berlin 2011.
184 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783941184138

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch