Schatzkammer mit vielen Truhen

Über den von Klaus Ridder herausgegebenen Band „Wolfram-Studien XX. Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur.“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rezension von Sammelbänden im allgemeinen und natürlich Tagungsbänden im Besonderen ist nicht ganz problemlos, denn trotz der im Normalfall gegebenen thematischen Verdichtung macht es die Vielzahl von Autorinnen und Autoren und die damit verbundene Disparatheit doch schwer, der Publikation als Ganzer gerecht werden zu können. Andererseits sind gerade die in Druckform gebrachten Beiträge wissenschaftlicher Tagungen eine Möglichkeit, den aktuellen Forschungsdiskurs zu einem bestimmten Thema oder Themenfeld kennenzulernen, auch ohne auf dem entsprechenden Kongress gewesen zu sein; gäbe es sie also nicht, wäre allzu oft eine breitere sowie auch die wissenschaftliche Öffentlichkeit von neueren Forschungsansätzen ausgeschlossen.

Der vorliegende 20. Band der „Wolframstudien“, die von der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft ins Leben gerufen wurden, scheint – nicht zuletzt wegen des Rahmenthemas des Blaubeurer Kolloquiums der Gesellschaft, das im Jahre 2006 unter dem Titel „Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur“ stattfand – von besonderem Interesse, lassen sich hier doch jenseits von Event-Kultur und anderen eher obskuren Wegen tatsächlich Bezüge zu gegenwärtigen Lebenswelten ziehen beziehungsweise Konstanten in der geistig-kulturellen Diskussion oder literarischen Rezeption erkennen.

Es ist bei der Besprechung solcher Sammelwerke natürlich auch nicht einfach, allen Beitragenden gerecht zu werden, da einerseits die Zahl der Beiträge – im vorliegenden Fall sind es einschließlich der Einführung des Herausgebers 20 Artikel – mitunter recht hoch ist, und andererseits der Person des Rezensenten das eine oder andere Thema doch einfach näherliegt. In diesem Sinne ist es auch nicht als Qualitätsurteil zu werten, wenn insbesondere auf den in die Thematik einführenden Einleitungstext des aktuellen Wolfram-Studien-Herausgebers Klaus Ridder sowie den Text des 2008 verstorbenen langjährigen Herausgebers dieser Reihe, Walter Haug, verwiesen wird.

Führt der Einführungstext allgemein in das Tagungs- und Tagungsbandthema ein, so trifft Walter Haug, wie auch im Untertitel seines Beitrags benannt, „einige grundsätzliche Erwägungen“ zur „mittelalterlichen Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozess“. Für einen ersten Überblick wie auch für weniger tief in das der Tagung vorangestellte Themenfeld Involvierte werden hier wesentliche Grundlagen deutlich, auf deren Basis dann auch die anderen Beiträge mit (noch) größerem Gewinn gelesen werden können. Beide Beiträge sind auch unter dem Aspekt von Interesse, dass hier die dem Mittelalter gemeinhin immer noch anhaftende Aura des ‚dunklen Zeitalters‘, in dem eine wie auch immer geartete Rationalität nicht stattfindet, ins Reich der Fabel verwiesen wird.

Dies gilt selbstverständlich auch – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – für die andern Beiträge des vorliegenden Bandes. Neben den erwähnten Texten finden sich Beiträge von Frank Bezner zu „Wissensmythen. Lateinische Literatur und Rationalisierung im 12. Jahrhundert“, Katharina Mertens Fleury zu „Zur Poetik von ratio und experientia in der Blutstropfenszene im Parzival Wolframs von Eschenbach“, Sandra Linden, „Wie die Ratio das Irrationale gebiert“, Nina Midema, „Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik“, Ines Heiser, „Wunder und wie man sie erklärt. Rationale Tendenzen im Werk des Strickers“, Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, „Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers Ring“, Michael Stolz, „Vernunst. Funktionen des Rationalen im Werk Heinrichs von Mügeln“, Regula Forster, „Inszenierung und Grenzen von Rationalität in philosophischen Dialogen“, Ingrid Kasten, „Rationalität und Emotionalität in der Literatur des Mittelalters“, Annette Gerok-Reiter, „Die Rationalität der Angst: Neuansätze im Fortunatus“, Otto Langer, „Rationalität und religiöse Erfahrung. Drei Paradigmen: Eriugena, Bernhard von Clairvaux, Meister Eckhart“, Annette Volfing, „der sin was âne sinne. Zum Verhältnis von Rationalität und Allegorie in philosophischen und mystischen Texten“, Johannes Janota, „Fides et ratio. Die Trinitätsspekulationen in den Meisterliedern des Hans Folz“, Christiane Ackermann, „How come, he sees it and you do not? Die Rationalität der Täuschung im Pfaffen Aramis und im Eulenspiegel“, Sonja Kerth, „ich quam geriten in ein lant ûf einer blawen gense. Weltbetrachtung und Welterfahrung im Zerrspiegel mittelalterlicher Unsinnsdichtung“, Jan-Dirk Müller, „Rationalisierung und Mythisierung in Erzähltexten der Frühen Neuzeit“ sowie Thomas Franz Schneider und Gabriel Viehhauser, „Zwei Neufunde zu Wolframs von Eschenbach Parzival. Teil 2: Das Solothurner Fragment F 69. Ein Vertreter der Nebenfassung *m“.

Bereits diese Aufzählung verweist auf das umfangreiche Spektrum an Unterthemen, die sich im Kontext des Oberthemas ‚Rationalität‘ aufgetan haben, und die es gewiss wert wären, dezidierter behandelt zu werden.

Die Problematik, eine solche Publikation im Vollsinne adäquat zu rezensieren, wurde ja bereits einleitend angesprochen, auf den Aspekt eines subjektiv geprägten ‚Spezialinteresses‘ des Rezensenten verwiesen. Um allen Beitrag vollumfänglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müsste demnach jemand, der dieses unternimmt, in allen fraglichen Bereichen tief fundierte Kenntnisse besitzen. Und so möchte ich eigentlich keinen der oben aufgezählten Beiträge hervorheben, werde aber sofort wieder wortbrüchig, weil ich – bei großer Wertschätzung aller vorliegenden Titel – doch insbesondere auf die eher als weiter gefassten und gleichwohl fundierten Überblick angelegten Beiträge von Frank Bezner, Regula Forster, Ingrid Kasten, Otto Langer, Sonja Kerth sowie Jan-Dirk Müller verweisen möchte, die tatsächlich auch für einen weiter angelegten Publikumskreis wesentliche Anregungen liefern können. Und als Reminiszenz an meine eigene Studienzeit und meine erste Begegnung mit dem ‚Stricker‘ möchte ich auch eine Lanze für den Beitrag von Ines Heiser brechen.

Die „Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur“ ist sicherlich keine eindimensionale Angelegenheit und natürlich weder in einer Tagung noch im zugehörigen Tagungsband abschließend zu behandeln. Die vorliegende Band ist gleichwohl als ein Zugangspfand zu dieser Thematik von Interesse und gewissermaßen als eine Schatzkammer mit vielen Truhen – den einzelnen Beiträgen nämlich – anzusehen, in denen es sich durchaus zu stöbern lohnt, und die vielleicht auch insofern Überraschungsmomente bieten mögen, als bei diesem Stöbern womöglich das Interesse nach einer weiteren und intensiveren Beschäftigung mit dem entsprechenden Thema geweckt werden mag. Und das ist sicherlich nicht die schlechteste Wirkung, die ein Tagungsband entfalten kann.

Titelbild

Klaus Ridder / Wolfgang Haubrichs / Eckart Conrad Lutz (Hg.): Wolfram-Studien XX. Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008.
558 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783503098453

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch