„Von wem reden wir, wenn wir von Carver reden?“

Die ungekürzte Originalfassung von Raymond Carvers berühmter Short-Storys-Sammlung „Beginners“ ist in deutscher Sprache erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ gilt als eine der bekanntesten Kurzgeschichtensammlungen der Weltliteratur – und ihr Autor, Raymond Carver, als ein Großmeister dieser kleinen literarischen Form.

Der Kurzgeschichtenband erschien 1981 im renommierten New Yorker Verlag von Alfred A. Knopf. Carver wählt darin keine großen Themen, sondern scheinbar einfache Geschichten aus dem Alltag, von einfachen Menschen. Dabei verwendet er einen äußerst sparsamen Satzbau und minimale Handlungselemente. Der Carver-Stil lässt genügend Spielräume für Interpretationen und prägte ganze Generationen von Autoren.

Gegenstand dieser Rezension sollen jedoch nicht die 17 Kurzgeschichten dieses berühmten Erzählbandes sein, sondern deren Entstehungsgeschichte. Im S. Fischer Verlag ist nun die Originalfassung von Carvers Stories erschienen. Was viele vor dreißig Jahren nicht wussten, ist, dass Gordon Lish, der damalige Lektor des Verlages, das Manuskript von Carver in zwei Durchgängen handschriftlich um mehr als fünfzig Prozent kürzte.

Neben dieser Rotstiftaktion bekamen Handlungsabläufe eine völlig neue Wendung, und die Geschichten erhielten teilweise einen anderen Schluss. Lish verknappte die Dialoge und schuf so den typischen Carver-Sound. Außerdem änderte er noch den von Carver vorgeschlagenen Buchtitel „Beginners“. Als Carver davon erfuhr, versuchte er, die Herausgabe des Buches zu stoppen.

Hat also in Wahrheit allein Gordon Lish den legendären Carver-Stil kreiert? War Carver für seinen trockenen und komprimierten Erzählstil fälschlicherweise gelobt worden? Wer war nun eigentlich der gefeierte Erneuerer der Short Stories? Hatte Lish Carver Unrecht getan? Wie weit darf ein Lektor gehen? Und wäre Carver ohne die massiven und fragwürdigen Eingriffe überhaupt ähnlich berühmt geworden?

Diese Fragen wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder diskutiert. Nun hat jeder Leser die seltene Chance, sich selbst ein Urteil zu bilden, denn die ungekürzten Geschichten liegen zum ersten Mal in deutscher Sprache vor. An der Wiederherstellung von „Beginners“ wurde viele Jahre gearbeitet. Dazu wurde der maschinenschriftliche Originaltext mitsamt allen von Lish gestrichenen oder veränderten Passagen übersetzt.

Nach der Lektüre zeigt sich, dass „Beginners“ und „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ zwei grundverschiedene Bücher sind – und das nicht nur vom Umfang her: 310 Seiten zu 160 Seiten. So haben etliche Geschichten auch einen völlig anderen Sinn. Während Carvers Stories mehr humanistisch ausgerichtet sind, werden die von Lish veränderten Texte mehr vom Existenzialismus bestimmt.

Der ausführliche Anhang gibt noch weitere Einzelheiten dieses einmaligen Vorgangs in der Literaturgeschichte preis: das Nachwort „Harte Schnitte – Die Eingriffe in Raymonds Carvers Erzählungen“ und der Briefwechsel zwischen Autor und Lektor.

„Beginners“, Carvers eigentliches Buch, ist eine dankenswerte Publikation, die jeden Leser vor eine Wahl stellt. Das Urteil wird sicherlich unterschiedlich ausfallen, vielleicht schon von Geschichte zu Geschichte. Die einen werden auf den Carver-Lish-Stil schwören und die Originalgeschichten mit „doppelt so lang und halb so interessant“ abtun, andere werden dagegen darin den „echten“ Carver, wie sie ihn von seinen späteren Geschichten schätzen, erkennen. Eine wirklich spannende Frage: „Von wem reden wir, wenn wir von Carver reden?“

Titelbild

Raymond Carver: Beginners. Uncut - Die Originalfassung.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié sowie Antje Rávic Strubel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
361 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100101501

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