Gift und Galle

Alice Munro erzählt 13 böse Geschichten

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kanadische Autorin Alice Munro, Jahrgang 1931, ist vielfach ausgezeichnet und gehört zu den renommiertesten Erzählerinnen der Gegenwart. Ihre dritte Geschichtensammlung, „Was ich dir schon immer sagen wollte“, erschien 1974 und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Die zweite, „Kleine Aussichten“, wird manchmal als ihr einziger Roman bezeichnet, ist aber ein Zyklus miteinander verbundener Erzählungen. Dieses Verfahren verwendet sie auch später, so in ihrem „Tricks“, in dem drei Erzählungen inhaltlich verwoben sind. Als maßgebliche Einflüsse nennt sie unter anderem Eudora Welty, Carson McCullers, Flannery O’Connor, Joyce Carol Oates und William Maxwell.

Alice Munro erzählt böse Geschichten von kaputten Familien, zerrütteten Ehen und unerfüllter Liebe, in „Auf dem Wasser gehen“ und „Marrakesch“ thematisiert sie die Schwierigkeiten des Altseins. Die Geschichten spielen in Kanada, meistens in der Gegend um ihre Heimatstadt Ontario. Im Zentrum stehen ganz normale Menschen mit alltäglichen Problemen, die zu Enttäuschung, Eifersucht und Zorn führen. Die Ressentiments schwelen unter der Oberfläche, in wenigen Fällen schlagen sie in Gewalt um.

Die meisten Geschichten sind Zeitreisen in die Vergangenheit, Erinnerungen der Hauptfigur an eine wichtige Phase oder einen Wendepunkt im Leben. Dabei kollidieren die subjektiven Vorstellungen vom eigenen Leben oft mit den Fakten: Erinnerung als konstruierte Geschichte, Autobiografie als Fiktion, lektoriert und inspiriert von der Fantasie zum Unterhalten und Polieren des Selbstbilds. Die hässlichen Geheimnisse und peinlichen Wahrheiten sind darunter verborgen. Betrug und Selbstbetrug erfolgen nicht immer in böser Absicht, wohl aber können sie böse Folgen haben.

Scharfe psychologische Beobachtung und eine präzise Analyse der dunklen Seiten der menschlichen Seele zeichnen die Geschichten aus, die in klarer Prosa verfasst, aber inhaltlich nicht ganz so klar sind. Denn Munro erzählt geradezu Two-in-One-Geschichten. Die erste Geschichte liegt an der Oberfläche und ist leicht zu erfassen. Nur bei genauer oder wiederholter Lektüre bemerkt man die ein oder zwei versteckten Andeutungen, die den Schlüssel liefern, mit dem man die Tür zum Subtext öffnet. Der wirft ein ganz anderes Licht auf das Geschehen, eröffnet neue Möglichkeitsräume. Munro treibt ein geschicktes Spiel mit dem Unausgesprochenen und dem Unaussprechlichen, lässt viele Enden offen. Zurück bleibt ein verunsicherter Leser.

Ein typisches Beispiel für Munros doppelbödige Erzählweise ist die Titelgeschichte über das Schwesternpaar Char und Et. Die eine ist attraktiv, die andere ein Mauerblümchen. Char verliebt sich in den Hoteliersohn Blaikie, der sie nach kurzer Zeit fallen lässt. Sie begeht daraufhin einen Selbstmordversuch. Später heiratet sie den unbeholfenen Lehrer Arthur. Als Blaikie zurückkehrt, bahnt sich eine Katastrophe an. Die scheinbar so harmlose Et scheint nur Zuschauerin zu sein, aber tatsächlich erweist sie sich als treibende Kraft in einem bösen Spiel.

Eher naiv als böse ist die Ich-Erzählerin in „Wie ich meinen Mann kennenlernte“. Als fünfzehnjähriges Dienstmädchen verliebt sie sich in einen Piloten und wartet nach seiner Abreise jeden Tag auf den Postboten, damit er ihr einen Brief des Liebsten bringt. Schließlich heiratet sie den Postboten, der bis heute seinen Kindern erzählt, dass sie auf ihn gewartet habe. Sie lässt ihn in dem Glauben, denn es sei ihr lieber, andere Menschen denken zu lassen, was sie wollen, und sie glücklich zu machen. Man darf bezweifeln, ob sie wirklich deshalb schweigt oder weil ihr die Wahrheit zu peinlich ist. Doch die eigentliche Geschichte erzählt von einem naiven Mädchen, das bis heute nicht weiß, wie viel Glück es hatte.

Ähnlich viel Glück hat auch die Figur in „Scharfrichter“. Die kleine Helena lebt mit ihrer Mutter allein, weil ihr Vater, ein Politiker, nach einer Wahlniederlage zum Alkoholiker wurde. Von den anderen Kindern verspottet und gedemütigt, entwickelt sie aus ihrer Ohnmacht heraus Empathie für einen anderen Außenseiter, Howard, den Sohn des beinlosen Schwarzbrenners Stump Troy und begegnet ihm mit Freundlichkeit. Das erweist sich als Fehler, denn fortan lauert er ihr auf und beschimpft sie. Helena entwickelt gewalttätige Rachefantasien. Sie freundet sich mit dem Dienstmädchen ihrer Mutter an, Robina, deren Brüder ebenfalls Schwarzbrenner sind. Eines Nachts brennt das Haus von Stump Troy nieder. Stump Troy und Howard kommen dabei ums Leben. Alle glauben, Howard habe das Haus angezündet und sich aus Schuldgefühl selbst verbrannt. Doch so war es nicht. Als Helena der Wahrheit ganz nahe kommt, gerät sie in Lebensgefahr. Ob sie sich darüber klar ist, bleibt offen, denn die Wahrheit bleibt unausgesprochen.

Oft sind es bei Munro die Frauen, die mit der Vergangenheit abrechnen oder hadern, mit dem Exmann („Material“, „Die spanische Edeldame“), dem Geliebten („Sag mir, ja oder nein“) oder der Familie („Vergebung in Familien“). Immer scheint die Kritik zunächst plausibel, steht der Leser auf der Seite der Erzählerin.

Mit dem Thema Familie befassen sich auch zwei autobiografisch anmutende Geschichten („Gedenken“, „Das Tal von Ottawa“), in denen sich eine Tochter an ihre kranke Mutter erinnert. Die eine ruft Verärgerung und Scham hervor, die andere Zuneigung und Geborgenheit. Bei allen Unterschieden könnte es sich bei den beiden Mutterfiguren aber auch um dieselbe Person handeln, die facettenreich dargestellt wird, gerade um sie in ihrer Widersprüchlichkeit und den ausgelösten widersprüchlichen Gefühlen besser zu verstehen.

Titelbild

Alice Munro: Was ich dir schon immer sagen wollte. Dreizehn Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Heidi Zerning.
Dörlemann Verlag, Zürich 2012.
380 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-13: 9783908777564

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