Parole Verdrängung

Vergessene Erzählungen Erich Kästner

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wiederentdeckung und -veröffentlichung seit langem vergessener Texte eines weltberühmten Autors: das verspricht in der Tat jene "kleine literarische Sensation", die der Klappentext des Kästner-Bandes "Interview mit dem Weihnachtsmann" ankündet. Die knapp dreißig Kurzerzählungen - während der letzten Jahre der Weimarer Republik vor allem in der "Neuesten Leipziger Zeitung" und in "Beyers für alle", dem Familienblatt eines Leipziger Schnittmusterverlags, erschienen - zeigen denn auch einen den meisten Lesern bislang unbekannten Erich Kästner. Eher in fatalistischer Lakonie als mit seinem bekannten melancholischen Humor wendet er sich hier zumal solchen Charakteren zu, die längst alle Hoffnung haben fahren lassen und sich deshalb am Schluß der Texte gern einmal erhängen.

Auch hier freilich viele Kinder und Kinderschicksale - mit der scheinbar geglückten Utopie der Jugendromane Kästners haben diese jedoch nichts zu tun. In ihnen wird in künstlerischer Verfremdung und Überzeichnung vielmehr jene Realität sichtbar, der Kästner in jungen Jahren tatsächlich ausgesetzt gewesen sein muß. Der am Ende stets glückliche Primus und die verehrte Mutter über alles liebende Sohn, daran lassen die Erzählungen keinen Zweifel, ist ein literarischer Mythos Kästners gewesen. Auch wenn die Texte, in denen einmal mehr auffällig viele vaterlose und mutterfixierte Jungen vorkommen, keinen letzten Beleg für jene umstrittene These bieten können, daß Kästners leiblicher Vater nicht der bankrottierende Sattler Emil Kästner, sondern der jüdische Sanitätsrat und Hausarzt der Familie, Dr. Emil Zimmermann, war: überaus klar zeigen sie, daß die Familienkonstellation der Kästners, welcher Art auch immer sie gewesen sein mag, wie ein Alpdruck auf dem angehenden Autor lastete. Ob Halbjude oder nicht - die Erzählungen, die oft nur geschrieben wurden, um das gierige Feuilleton der Zeit schnell bedienen zu können, sie spiegeln die verunsicherte Identität eines verwundeten Autors wider.

"Aber das hat seine Schwierigkeiten", so der programmatische Titel einer der Erzählungen, die die problematische Liebe eines Sohnes zu seiner Mutter behandelt. Die Schwierigkeiten, die aus der zu engen Bindung an seine schwer depressive Mutter herrührten, beseitigte Kästner erstmals 1928 mit dem "Emil"-Roman - genau zu der Zeit also, da er auch die kleinen Feuilletonstücke verfaßte. Die Technik hatte Erfolg, denn fortan war es den Kindern gegeben, ihr Lebensunglück selbst zu beseitigen und sogar die Welt der Erwachsenen zurechtzurücken. Kästners berühmtes Diktum, daß ein guter Kinderbuchautor vor allem die eigene Kindheit nicht vergessen dürfe, wäre dergestalt abzuwandeln: in manchen Fällen muß er erst lernen, sie entschieden zu verdrängen.

Durch die Abstinenz von jener gutgemeinten Moral, die Kästner meist sehr schnell zur Hand war, heben die kurzen Erzählungen sich von dem restlichen Werk Kästners ab. Ja einige von ihnen strahlen in ihrer schlichten Absurdität eine surreale Schönheit aus, die dem trotz aller Falschheit schönen Glück seiner Jugendbücher nahezu ebenbürtig ist.

Titelbild

Erich Kästner: Interview mit dem Weihnachtsmann. Kindergeschichten für Erwachsene.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz.
Carl Hanser Verlag, München 1998.
135 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3446195416

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