Eine verhängnisvolle Leidenschaft
„Der Geliebte der Mutter“ von Urs Widmer
Von Kristina Stockmann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise,,Ich kann nicht mehr“ lautet wiederholt das stumme Aufbegehren der Mutter, dem der Sohn Gehör verschafft, indem er ihr als Erzähler des Romans Der Geliebte der Mutter ein literarisches Requiem verfaßt.
Als Ausgangs- und Endpunkt markiert die Beerdigung des Geliebten und der Tod der Mutter kreisförmig das Romangeschehen, innerhalb dessen linear zwei miteinander verbundene Lebensläufe erzählerisch verfolgt werden. Der sukzessive Aufstieg des vormals mittellosen Edwin zu einer der berühmtesten Dirigentenpersönlichkeiten dieses Jahrhunderts, und parallel dazu verlaufend der zunehmende Verfall der Fabrikantentochter Clara in Folge ihrer besessenen Leidenschaft zu diesem Mann. Wie es dazu kommen konnte, wird auf der Suche nach dem Schicksalsknoten bis zu den Urahnen in burlesk leichtfüßiger Erzählweise nachgespürt. Neben der individuell biographischen Linie wird ein ganzes Jahrhundert historisch und musikgeschichtlich von den Anfängen bis heute gestreift.
Als Clara ihn in den zwanziger Jahren in der Stadt am See kennenlernt, ist sie jung, schön und reich, er dagegen ein armer Mann der ein Junges Orchester gründet. Zu Edwin, dem Dirigenten blickt Clara aus den Publikumsreihen bewundernd auf und wird wie für den Vater sein ,,Mädchen für alles“. Es hätte der Anfang einer großen Liebes- und Arbeitsgemeinschaft werden können, doch gerät es zur amou fou, da Edwin sie nur als Steigbügel zu seinem Ruhm benutzt. Auf der Stundenhotelebene wird sie, die ihn als den Einzigsten ihr Leben lang unerwidert vergöttert für kurze Zeit seine Geliebte und von ihm zur Abtreibung des gemeinsamen Kindes gezwungen. Während er zunehmend im Glanz des Ruhmes steht, verliert sie durch den Börsenkrach 1929 ihr Erbe und wird über Nacht arm. Edwin heiratet die Tochter eines Fabrikbesitzers, das Leben Claras wandelt sich in eine manische Depression, latente Selbstmordversuche und Aufenthalte in Heilanstalten folgen. Sie heiratet einen namenlosen Mann und bekommt ein Kind, über dessen Existenz sie sich jedoch nicht zu freuen vermag. Wie ihr Leben, so ihr Ende. Die Mutter springt aus einem Altersheimfenster auf einen Fiat 127, während die Beerdigung des Dirigenten noch zum applaudierten Fernsehspektakel gelingt. Assoziationen an zahlreiche Frauen werden wach, die im Dunstkreis berühmter Männer ihr Dasein fristeten und ihrer Verzweiflung im Wahn erlagen.
Schon früh wurde ,,der kleinen Mutter“ vom dirigistischen Vater ,,ihre Art“ mit rigider Strenge ausgetrieben, später übernehmen andere stellvertretend die Domestizierung ihres Wesens. Ihre Seele sucht sich als Kind in Phantasiewelten den Raum für nicht gelebtes Eigenes. Später, unter Zunahme der Enttäuschungen bleibt ihr nur die Flucht in die Krankheit, der selbstzerstörerische Prozeß setzt ein, Elektroschocks treiben ihr zuletzt jeden erschöpften Widerstand aus. Während männliche Despoten ihrem Expansionsdrang nachgehen, Dirigenten Konzertsäle-, Hitler und Mussolini Länder erobern, stochert Clara in weiblicher Selbstbeschränkung in ihrem Garten.
Mit einfachsten Bildern gelingt es Widmer, psychologische Muster einer Täter-Opfer Verstrickung auf kollektiver und individueller Ebene wirkungsvoll zur Anschauung zu bringen. Auch der Vater war als ,,Ultimo“ in der Familienhierarchie auf den untersten Platz zum Zuschauen verdammt. Die erlittenen Demütigungen werden weitergegeben, Parallelen zwischen politischem, künstlerischem und persönlichem Machtstreben bloßgelegt. Claras Apathie mag auch als ein Hieb auf die Neutralität der Schweiz im Nationalsozialismus begriffen werden.
Erst am Ende, nachdem er in einer ,,Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben“ die Lebenstragödie seiner Mutter aufgezeichnet hat, tritt der Erzähler mit auf die Bühne des Geschehens. Als Akteur verschlägt es ihm jetzt auch die Sprache, erliegt der Sohn der Blendung des egomanischen Geliebten der Mutter ebenso wie diese ihr Leben lang. Die psychologische Wehrlosigkeit hat sich genealogisch fortgepflanzt. Statt ihn zu ohrfeigen, sich für die konsequente Missachtung der Mutter in der persönlichen Begegnung zu rächen, bemerkt er nur ,,ich habe all Ihre Konzerte gehört“. Allenfalls seine Stimme, die den Klang seiner Mutter hat, verrät sein Zittern.
Aus dieser sadomasochisten Verstrickung, bietet nur der Tod der Protagonisten, oder die Literatur Distanz zu einer Wahrheit, der das Leben den Knebel auferlegte. Der Tod des Geliebten der Mutter ist Auftakt zu einer erlösenden sprachlichen Manifestation des zeitlebens in Krankheit veräußerten Protestes der Mutter, die dem Erzähler selbst zur Befreiung vom ohnmächtig erlebten und involvierten Leid gerät.
Ein großartiges, kleines literarisches Meisterwerk, das bei der Schwere der Thematik eine Vielzahl von Lesarten bietet: Die einer psychoanalytischen Fallstudie über internalisierte patriarchale weibliche Mißachtung, die sich in ohnmächtiger Selbstvernichtung bei Clara äußert; oder die eines an lateinamerikanische Vorbilder erinnernden magischen Realismus.
Bedauerlicherweise setzt die gegenwärtige Rezeption die Stereotype des Starkultes fort, indem die Aufklärungsbemühungen um Fiktion und Realität der Figur des Dirigenten, in dem der 1999 verstorbene Paul Sacher vermutet wird, zum Zentrum ihrer Romanbesprechungen gelangen. Das Buch, von dem Widmer sagt, dass es „ganz nahe bei seiner Mutter“ bleibe und er 20 Jahre warten mußte, um es schreiben zu können, begreift sich auch als eine Wiedergutmachung. Als literarische Figur verleiht der Roman einer Existenz eine Würdigung, die in der Realität ein ungerechtes Schattendasein fristete. Nicht zuletzt ist das Werk als Hommage an die Sprache und Literatur zu verstehen, mit der wenigstens künstlerisch ein Ausbruch aus fatalen Wiederholungszwängen gelingt und ein Scheitern im Leben versöhnt werden kann.
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