Taschendiebe und Bären

Die Redakteure der „Fischer Rundschau“ widmen ihre Frühjahrsnummer Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Anfang März 2012 liegt im anglophonen Raum mit dem Band „March Was Made of Yarn: Reflections on the Japanese Earthquake, Tsunami and Nuclear Meltdown“ eine gut bestückte Anthologie zur literarischen Repräsentation der Dreifachkatastrophe von Fukushima vor. In französischer Sprache wurde zum etwa gleichen Zeitpunkt eine Textsammlung, die über zwanzig Beiträge zum neu ausgerufenen Genre „Erdbebenkatastrophen-Literatur“ (japanisch shinsai bungaku) enthält, veröffentlicht. Für den deutschsprachigen Raum bietet das Ende März erschienene Heft 1/2012 der „Fischer Rundschau“ mit dem Schwerpunkt „Japan“ auf circa 150 Seiten eine kleine Auswahl an literarischen Kommentaren zu einem Ereignis der Zeitgeschichte, das nicht nur für Japan eine Zäsur darstellt.

Die Aufgabe der japanischen Literatur

Informativ ist zunächst die Vorbemerkung von Ryôsuke Saegusa. Der Redakteur der bekannten japanischen Literaturzeitschrift „Gunzô“, die für diese Ausgabe mit der „Rundschau“ kooperiert, wirft die Frage auf, wo die landeseigene Literatur nach Fukushima stehe; er teilt mit, dass etliche Literaten schon Recherchen vor Ort getätigt und Reportagen aus Nordostjapan publiziert hätten. Saegusa hebt die wichtige Rolle der Schriftsteller als „einflussreicher Vertreter der Kultur“ hervor, die die neue Protestbewegung unterstützen und an Demonstrationen gegen die Atomkraft teilnehmen. Zu den „Aufgaben“ der Literatur nach Fukushima zählt er aber nicht nur die semi-journalistische Krisendokumentation oder das persönliche Engagement, sondern in erster Linie die Ergründung eines größeren, „systemimmanenten Problems“, das mit der Havarie des Atommeilers an der Küste zu Tage getreten sei; hier deutet Saegusa Defizite der japanischen Demokratie an, begrüßt die sich offensichtlich anbahnende Selbstermächtigung der Bürger und erwartet von der Literatur einen Geist, der gegenwärtige Ansichten einer kritischen Überprüfung unterzieht und in der Sprache neue Werte schafft.

Zur Auswahl der Texte

Der Japan-Schwerpunkt der „Rundschau“ umfasst neben der Einführung zehn Beiträge folgender Autoren und Autorinnen: Kazushige Abe, Tomoka Shibasaki, Toshiki Okada, Yurie Nagashima, Kôtarô Isaka, Natsuo Kirino, Hiromi Kawakami, Kei’ichirô Hirano und Kenzaburô Ôe; Ôe ist zweifach vertreten. Während der Leser wohl nur aktuelle Textbeispiele erwartet, sind drei der Stücke vor den Ereignissen in Tôhoku entstanden und durchbrechen damit ein Konzept, das suggeriert, sich ganz der literarischen Auseinandersetzung mit „Fukushima“ zu widmen – zu fragen wäre, warum man die Zusammenstellung der übersetzten Werke nicht begründet hat. Ôes „Der Tag, an dem ein Mensch weggeschwemmt wurde“ ist freilich eine gute Eröffnung zur japanischen Katastrophenerfahrung, auch wenn der Text bereits 2001 erschien. Tomoka Shibasakis „Hier, hier“ berichtet, wie man aus Hinweisen in der Erzählung folgern kann, vom westjapanischen Erdbeben 1995. „Erinnerung an einen Rücken“ von Yurie Nagashima lässt sich in das einschlägige Umfeld schon schwerer einordnen. Bei Kirinos „Ziegen“ – der düsteren Schilderung eines Arbeitslagers – mögen sich nur recht begrenzt Assoziationen mit Tsunami und Atomhavarie einstellen.

Da diese und die übrigen Werke ohne nähere Erläuterungen bleiben und die Angaben zu den in Deutschland – außer Ôe und Kawakami – eher unbekannten Autoren spärlich geraten sind, fällt es nicht leicht, Bezüge zur Dreifachkatastrophe zu erkennen: Welche Agenda vertritt ein Text? Wie positioniert sich ein Autor intellektuell zur Zäsur 3/11? Welche Argumente wären einer erwachten Protestbewegung zur staatlichen Atomenergiepolitik zuzurechnen? Die Kurzbeschreibung des Hefts auf den Seiten des Verlags im Internet stellt in Aussicht, über diese Punkte zu informieren: „Ein Jahr nach Fukushima scheint das Land ein Störfall. Der Tsunami hat nicht nur ganze Städte weggespült, er hat das Selbstverständnis eines ganzen Landes untergraben. Nun werden die jungen Stimmen endlich wahrgenommen, und die alten erfinden die Opposition neu: Die japanische Literaturzeitschrift GUNZO zu Gast in der Neuen Rundschau“.

Einen Einblick in die zeitgenössische japanische Literatur ein Jahr nach den Ereignissen von „3/11“ gewährt das Heft – konträr zur Ankündigung – jedoch kaum. Repräsentative Autoren, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, sind Natsuki Ikezawa, Gen’ichirô Takahashi, Sokyû Gen’yû, Hideo Furukawa und Yô Henmi; zu bemerken wäre für diese Literatur das Revival der Lyrik (Henmi, Ryôichi Wagô) und die Bevorzugung des Genres Essay, das vielen Literaten dazu dient, das „System Japan“ einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

Auch die bibliotherapeutische Geste, vertreten etwa durch Banana Yoshimoto, ist der Erwähnung wert, ebenso der Umstand, dass sich mittlerweile, wenn man so will, einige Subgenres der Post-Fukushima-Literatur gebildet haben: der Bericht von der Fahrt nach Tôhoku, die gleichsam die Schuld tilgen soll, im kritischen Moment nicht dort gewesen zu sein, die Betrachtung der verwüsteten Landschaft, einhergehend mit metaphysischen Spekulationen, die literarische Bibliotherapie, die sich nationaler und individueller Traumata annimmt, oder die Schilderung des Lebens in den Notunterkünften; „Wiederaufbau-Texte“ und sentimental gefärbte „Heimatliteratur“ appellieren an ein Zusammengehörigkeitsgefühl des japanischen Kollektivs, während andere Hoffnung beschwören. Dagegen erklingen parodistische Einwürfe als Kritik an einem Japan, das schon vor Fukushima kein reines Paradies war, sondern wachsende soziale Kälte und geringere Zukunftschancen für die Jugend zu beklagen hatte.

Distanzen, Ängste, Purgatorien

Sicher kann man die vorliegenden Texte auch außerhalb des Rahmens „Fukushima“ genießen, verspricht der Rundschau-Titel „Japan“ ja nur eine Auswahl von Literatur aus Japan. Das Heft enthält jedoch immerhin fünf Beiträge, die zu dem gerechnet werden können, was man spätestens zwölf Monate nach dem Tsunami und der Zerstörung des Kraftwerks mit ihren verhängnisvollen Folgen als „Erdbebenkatastrophen-Literatur“ zu adressieren beginnt. Da ist zum einen Kei’ichirô Hiranos „Distanz zu den Orten der Katastrophe“, eine Reisereportage, wie sie in den Wochen nach 3/11 vielfach entstand. Hirano thematisiert das Gefühl der Distanz zum nordöstlichen Japan, eine Empfindung, die fast allen Menschen außerhalb des betroffenen Gebiets zu eigen ist und die die Literaten durch Aufenthalte vor Ort zu überwinden versuchen. Der Autor bemüht sich zudem − einer Art von Deutungsdrang folgend, den das Ausmaß der Katastrophe bedingt − um eine Philosophie des Desasters; dabei gelangt er zu Immanuel Kants Konzept des „Dynamisch-Erhabenen“, aus dem er sich erklärt, dass „neue Lebensenergie aufwallt“, die sich unter anderem in Wiederaufbauslogans wie „Lass uns nicht aufgeben und kämpfen, Japan!“ niederschlage.

Kôtarô Isakas „Die mobile Bibliothek“ beschreibt ebenfalls die Fahrt nach Tôhoku und eine Initiative, die Kinder mit Lesestoff versorgen will – aus der überraschenden Perspektive eines Taschendiebs, den angesichts der nuklearen Bedrohung Vernichtungsängste quälen; die kurze Geschichte spricht einige wichtige Themen der Fukushima-Debatte an, etwa das Dilemma der freiwilligen Helfer. Zwischen Fassungslosigkeit angesichts der Ruinen, voyeuristischen Impulsen und der vagen Möglichkeit, mittels rudimentärer Bibliotherapie in Form der Buchzufuhr für Betroffene ein wenig Hilfe leisten zu können, verbringen sie ihre Tage in der Zone sozusagen auch als persönliches Purgatorium.

Toshiki Okada schildert aus der Sicht einer schwangeren Frau erneut ein Problem der Distanz: Ehemann Yutaka hält sich in Berlin auf, um ein Kunstprojekt zu realisieren. Kommunikationsschwierigkeiten, die das Paar belasten, resultieren, so zeigt Okadas Text ironisch auf, nicht nur aus innerjapanischen Ortsverlagerungen im Bestreben der Radioaktivität zu entkommen oder aus der Entfernung Japan-Deutschland, sondern vor allem aus dem Verdrängen der Ängste, die den Bürgern des Landes seit „Fukushima“ in unterschiedlicher Intensität zusetzen.

Ôe bleibt in „Darüber hinaus erinnert sich (meine Seele)“ in Reaktion auf den Brief einer Leserin und im Rahmen einer Bestandsaufnahme seiner Lebenslektüren der beharrliche Gegner der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie, die noch nach dem „Unfall“ von Yasuhiro Nakasone als „Lebenskraft des heutigen japanischen Volkes“ angepriesen wurde; seine Überlegungen offenbaren ferner einen Kenzaburô Ôe in der von ihm wiederholt reflektierten späten Schaffensphase, verpflichtet einer japanischen literarischen Gemeinde und einem intellektuellen Auftrag. Dieser sich selbst erteilte Auftrag beinhaltet, die „Nachricht der Toten“ zu übermitteln, wobei die Stimmen der Opfer von Hiroshima und Nagasaki mit eingeschlossen sind. Auch in den Notizen vom „weggeschwemmten Menschen“ (2001) erinnert sich der Autor an seine Lektüren und zitiert ein Gedicht, dessen Hauptmotiv ein Bär ist, der auf einer Lawine sitzt, „in aller Ruhe so als würde er rauchen“.

Kazushige Abe vermeidet in seinem kurzen Prosastück den direkten Bezug zu „Fukushima“, der sich inzwischen vielleicht schon in zu häufig bemühten Bildern erschöpft. Er entwirft eine Strandszene mit jungen Surfern und Veteranen, die auf die ultimative Welle warten. Es wird schließlich klar, dass es Freitag, der 11. März 2011 ist, an dem die Wassersportadepten ihrer in der Tat ungeheuren − und vermutlich letzten − Welle begegnen. Die Parabel endet mit dem Entschluss des Erzählers, sich auf seinem Brett den Fluten entgegenzuwerfen, obwohl Scheitern und Tod vorprogrammiert sein dürften – er hofft, die Zuschauer würden aus der Performance wenigstens Lehren für die Zukunft ziehen können; unter dem Titel „Ride on“ wurde der Beitrag in die englische Anthologie „March Was Made of Yarn“ aufgenommen.

Hiromi Kawakamis duplizierte Prosa ist einer der interessantesten Beiträge des Hefts, denn diese gilt bereits als fester Bestandteil einer noch jungen shinsai bungaku und wird im literarischen Fukushima-Diskurs von Schriftstellerkollegen zuweilen als Schlüsseltext genannt. Gen’ichirô Takahashi kommentiert ihn in seinem parodistischen Werk „Koi suru genpatsu“ („Das verliebte Atomkraftwerk“; November 2011); unter dem Titel „God Bless You“ ist der Beitrag auch Teil der Anthologie „March Was Made of Yarn“. Kawakamis anlässlich der Katastrophe verfasste zweite Version vom „Bärengott“ folgt einer ursprünglich als „Kami-sama“ („Gott“) im Jahr 1993 publizierten Erzählung; in beiden Versionen steht die Begegnung der Hauptfigur mit einem Bären im Mittelpunkt – der Bär verhält sich trotz seiner befremdlichen Erscheinung wie ein freundlicher, fürsorglicher Mitmensch. Kann die erste Geschichte vom Bären als Metapher auf die Interaktion mit Fremden gelesen werden, bringt die Neuversion nach Aussage der Autorin ihr Erstaunen zum Ausdruck, wie schnell sich der Alltag einschneidend verändert und „dennoch gewissermaßen normal weitergeht“. Eine „andauernde Erbitterung“ wird laut Kawakamis Nachsatz zu ihrem Text künftig das Leben der Menschen in Japan prägen, denn sie waren an der Gestaltung ihres Landes beteiligt und haben die verhängnisvollen Entwicklungen nie wahrhaben wollen.

Die fünf Beispiele einer japanischen Literatur im Zeichen von 3/11 sprechen durchaus für sich, sie lassen wichtige Motive und Argumentationslinien erkennen. Einige hausgemachte Schwächen des Hefts sind vermutlich auf mangelnde Kapazitäten sowie die enge Fristsetzung zurückzuführen und sollten zugunsten einer wohlwollenden Lektüre ignoriert werden.

Titelbild

Hans Jürgen Balmes / Alexander Roesler / Oliver Vogel (Hg.): Neue Rundschau 2012, Heft 1. Japan.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
267 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783108090883

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch