In der Festung der Hermeneutik
Gerhard Neumanns einsichtsreiche Kafka-Lektüren aus über 40 Jahren
Von Michael Braun
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Gründerzeit der großen wissenschaftlichen Kafka-Monografien (Heinz Politzer, Walter H. Sokel, Wilhelm Emrich) ist vorbei. Zwar strahlen aus der Grauzone zwischen Sachbuch und Essay immer wieder einzelne innovative Werke hervor (zuletzt die von Louis Begley und Roberto Calasso). Aber an reinem Umfang nehmen es heute mit den oben genannten Klassikern der Kafka-Forschung nur das Handbuch und die Biografie auf. Und die Aufsatzsammlung.
Im Falle des Freiburger und Münchner Germanisten Gerhard Neumann, der nach seiner konzisen Studie über Kafkas Mikrologie der Macht einen fast 600 Seiten starken und leider sündhaft teuren Band mit seinen „Kafka-Lektüren“ aus über 40 Jahren vorlegt, ist diese Sammlung, um es gleich zu sagen, weit mehr als die Summe der Teile. Die 24 hier abgedruckten Beiträge (und das sind längst nicht alle, die während Neumanns Forscherleben publiziert worden sind) scheuen die Anstrengung des Begriffs nicht, aber auch nicht die editorischen und analytischen Mühen der Ebene. Sie sind lehrreich und vermitteln einen exemplarischen Blick in Forschungskonstanten aus einer Gelehrtenperspektive. Vor allem aber setzen sie die Hermeneutik ins Recht und bekräftigen deren Anspruch, Sinnzuschreibung durch Interpretation und als kritische Editionsarbeit am Manuskript zu praktizieren. Gerade diese idealtypische Zwillingskonstellation von Edition und Interpretation – Gerhard Neumann ist Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe – hat die diversen turns der Wissenschaft überstanden, in kultur- und medienwissenschaftlichen Verwandlungen. Auch von diesen Einflüssen zeugen Neumanns „Kafka-Lektüren“.
Sie sind gegliedert in die Großabschnitte „Leben“, „Schreiben“, „Anthropologie“, „Kunst“ und „Medialität“, die ihrerseits durch vielfache Motivlinien verklammert sind. Ein wichtiges Thema ist die Poetik des Anfangs. Man kann sagen, dass Gerhard Neumann Kafka als Künstler und Lebens-Erzähler des Anfangs erst richtig entdeckt hat. Kafkas Texte „proben Anfänge“: Wenn die Figuren erwachen, kommt nicht nur ihr Schöpfer als Autor zur Welt. Es geht auch, verkürzt gesagt, um die schmerzhafte „Geburt der Literatur aus dem Körper“. Augenfällig macht Gerhard Neumann das – in mehreren Beiträgen – an dem sogenannten „Pontus“-Brief Kafkas an seine Verlobte Felice Bauer (22./23.2.1913). Es ist ein Liebesbrief, der bei genauer Lektüre zur Gründungsszene von Kafkas Schreiben und zu der apokryphen Poetik einer nicht mehr erzählbaren Liebe wird. Kafkas Brief beginnt mit der Schilderung eines Traums, in dem er auf einer Brückenbrüstung zwei „Telephonhörmuscheln“ liegen sieht und daraus „Nachrichten vom ,Pontus‘“ zu hören verlangt. Nachrichten vom Pontus: das sind Nachrichten von Ovid, von der klassischen Liebesdichtung, von einem Exilort aus, es sind auch An-Rufe der Musen, die aber im Rauschen, im „wortlosen Gesang“ des technischen Mediums untergehen.
Auch eine andere Szene illustriert die leitende Rolle, die Schrift und Körperlichkeit in Kafkas Werken spielen. Am 24. Dezember 1910 notierte Franz Kafka in sein Tagebuch: „Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann“. Sehr groß war dieser Schreibtisch nicht, den der 27-jährige Kafka beschreibt und der nach seinem Tod an die Schwester Ottla überging. Wenn man ihn in Rainer Stachs wunderbarem Trouvaillen-Buch „Ist das Kafka?“ (2012) in Augenschein nimmt, mag man sich wundern, was alles darauf entstanden ist. Und das trotz der Unordnung der Dinge: der Rasierspiegel liegt neben der Kleiderbürste, der Krawatte und dem offenen Portemonnaie. In seinem Aufsatz über Kafkas „Topographie des Schreibens“ (1980) schafft Gerhard Neumann Ordnung auf Kafkas Schreibtisch. Er weist auf, wie der junge Jurist, im Jahr 1910 gerade am Anfang seines Schreibens stehend, sich selbst porträtiert und wie er sich und der anbrechenden Moderne eine profunde Prognose ausstellt. Sie besteht in den Selbstzweifeln, die das schreibende Subjekt der Moderne konstituieren; Körper und Schrift fallen auseinander, das Theater der Welt wird für den Autor zur „Zelle“.
Es ist hier nicht der Raum, um die Fülle der Einfälle zu würdigen, die Neumanns „Kafka-Lektüren“ auszeichnet. Hingewiesen sei nur auf die Schnittstellen zwischen Recht und Erotik, den Ort des Autors zwischen Schrift und Druck, zwischen Schreibstrom und publiziertem Kunstwerk, auf das Verhältnis von Literatur und Architektur, auf die ethnologischen Konfigurationen von Ritual und Theater, auf die Rolle der Musik im Werk des einbekanntermaßen unmusikalischen Kafka, das Verhältnis von Schmerz und Gedächtnis, auf die präzise semiologische Lektüre des Romans „Der Prozeß“ als einer „Geschichte vom bösen Blick auf die Zeichen“ mit gnoseologischen wie auch komödiantischen Effekten.
Die Hermeneutik erweist sich, ethnologisch erprobt und medientheoretisch gestählt, als immer noch passender Schlüssel zu Kafkas Werk, das wie kaum ein anderes an die Grundlagen der „reflexiven Moderne“ (Helmuth Kiesel) rührt. „Was bedeutet Bedeuten?“, fragt Gerhard Neumann in dem Aufsatz über „Traum und Gesetz“ (1997). In der Festung der Hermeneutik verweist diese Frage auf sich selbst zurück. Auch deswegen ist das „gleitende Paradox“, das Gerhard Neumann in einem wegweisenden Beitrag 1968 erforscht hat, eine Schlüsselfigur für Kafkas Schreiben. Sie umfasst die „Umkehrung und Ablenkung“ der Bilder ebenso wie (in einem der am weitesten ausholenden Beiträge des Bandes über das Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur, 1996) den doppelsinnigen Blick des Anderen im Tiergesicht als Maske oder Dissimulation.
Kafkas Beschreibung seines Schreibtischs aus dem Jahr 1910 ist übrigens ein literarischer Versuch. Der Autor fand ihn „elend und doch gut gemeint“, Neumann kommentiert: Die „Selbstgeburt durch autonome Rede mißrät“. Ganz so misslungen ist die Inszenierung des Ichs auf der Bühne des Schreibpults dann wohl doch nicht. Hier dürfte der über sein „Recht zu schreiben“ sinnende Autor klüger sein als sein kritischer Leser.
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