Mutter-Funktion und Mutter-Frau

Justina M. Krauze-Pierz’ „Topographie der Mütterlichkeit“ in der Literatur von Frauen des deutschsprachigen Teils der Schweiz überzeugt wenig

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon seit Längerem ist die früher zumindest in ihrem Ursprungsland geschätzte Theorie der écriture féminine im deutschsprachigen Raum nur noch höchst selten ein relevanter Bezugspunkt literaturwissenschaftlicher Arbeiten. Nun liegt allerdings eine Studie von Justina M. Krauze-Pierz mit dem Titel „Mutter und Mutterschaft – Konstruktionen und Diskurse“ vor, in der das anders ist. Geht die Autorin doch der „Topographie der Mütterlichkeit in der Deutschschweizer Literatur von Frauen“ seit 1975 „im Lichte der postmodernen feministischen Literaturkritik der écriture féminine“ nach.

Luce Irigaray, Hélène Cixous und Julia Kristeva sind zweifellos die bekanntesten Vertreterinnen des unter diesem Signet firmierenden Ansatzes; und so sind sie es denn auch, die von der Autorin gleich eingangs namentlich erwähnt werden. Krauze-Pierz zufolge „nennen“ sich die drei französischen Wissenschaftlerinnen „selbst nicht feministisch, sondern anti- oder post-feministisch“. Als Beleg zieht sie nun nicht etwa eigene Texte der genannten heran, sondern verweist auf eine Stelle in einem 2006 erschienenen Buch einer gewissen Renata Cornejo, bei dem es sich laut Untertitel um eine „Untersuchung zur Prosa der 1980er Jahre von Elfriede Jelinek, Anna Mitgusch und Elisabeth Reichart“ handelt.

Nicht nur die prominente Autorinnen-Trias der écriture féminine, auch die Schweizer ‚Frauenliteratur‘ ist der Autorin zufolge „alles andere als feministisch“. Denn „sie positioniert sich vielmehr in einer bewussten linguistischen und semantischen Opposition zum herrschenden patriarchalischen Diskurs und versucht bei der Berufung auf die außerliterarische Situation der Frau eine symbolische Ordnung zu finden, in der das Frau-Sein außerhalb der patriarchalischen Bestimmungen möglich ist.“

Ob die schweizerische ‚Frauenliteratur‘ damit tatsächlich zutreffend charakterisiert ist, mag dahingestellt sein. Jedenfalls aber ist nicht einzusehen, inwiefern ein solcher Anspruch „alles andere als feministisch“ sein soll. Die „Hauptmerkmale“ nicht nur der schweizerischen „Frauenliteratur“ wiederum bestünden in „deren Subjektivität und Authentizität“, wie Krauze-Pierz ganz im Sinne des schon lange von feministischer und anderer Seite heftig kritisierten Anspruchs und Selbstverständnisses weiblicher Bekenntnisliteratur der 1970er-Jahre schreibt.

Um „nach dem Frau-Sein der Mutter, d. h. nach ihrer Existenz (einem Anwesenheitsmodus) außerhalb der Mutterfunktion“ zu suchen, zieht die Autorin nicht literarische Mutterfiguren schweizerischer ‚Frauenliteratur‘ schlechthin heran, sondern ausschließlich Texte, „in denen eine Mutter-Figur zu finden ist, die den durch das patriarchalische System tradierten Ort der Mutter ablehnt und deren Verhalten eine neue Topographie der Mütterlichkeit impliziert“.

Verglichen mit der ‚Frauenliteratur‘ in Deutschland oder Österreich sei für die einschlägigen schweizerischen Texte eine „intensivere Auseinandersetzung mit den patriarchalischen Einschränkungen“ prägnant. Denn sie „belassen es“ der Darstellung von Krauze-Pierz zufolge „nicht mehr nur bei der Kritik, sondern unterminieren die patriarchalischen Verhältnisse und verkünden ein ‚Anderswo‘, in dem es ihnen möglich wird, sich als Mutter-Frau zu finden und zu entfalten.“ Während die „Mutter-Texte“ deutscher und österreichischer Literatinnen ihre Kritik „an patriarchalischen Lebensverhältnissen und der Reduktion der Frau auf die Mutterfunktion“ im Rahmen der écriture féminine „üben“, „setzen“ sich die „Mutter-Figuren“ ihrer schweizerischen Kolleginnen „über diese Kritik hinweg und ergreifen Maßnahmen, durch welche ersichtlich wird, dass die Mütter ihr Leben auf zwei Ebenen positionieren sollten: auf der Ebene der Mutter-Funktion, die mit dem Erwachsenwerden des Kindes aufgelöst wird, und auf der Ebene der Mutter-Frau, die parallel und ununterbrochen zur jeweiligen biologischen und gesellschaftlichen Funktionalisierung realisiert und bis zum Tod der Frau fortgesetzt wird.“

Denn die Mutter-Figuren dieser schweizerischen Autorinnen lehnen Krauze-Pierz zufolge weder „die biologische Mutterschaft und die damit einhergehenden Pflichten gegenüber dem Kind“ noch „den Mann“ ab. Letzteren zumindest „nicht von vornherein“. Denn eigentlich wünschen sie sich sehr wohl eine „partnerschaftliche Beziehung“. Eine Sehnsucht, die unerfüllt bleiben muss, „da die Männer ein Teil des Patriarchats und deshalb nicht imstande sind, die Frau außerhalb aller Bestimmungen zu sehen“. So bleibt den Mutter-Figuren nur noch der „Rückzug in die matriarchalische Sphäre“ übrig, „ohne dass sich ihnen aber das ‚Anderswo‘ erschließt.“

Das „Hauptanliegen“ der vorliegenden Untersuchung besteht darin, „auf die neuen Konzeptionen der Mutter-Figuren in der Schweizer Literatur von Frauen hinzuweisen, die weit über die theoretischen Ansätze der écriture féminine hinausgehen“. Und so erstaunt es denn auch wenig, wenn die Autorin zu dem Befund gelang, dass „die untersuchten literarischen Bilder der Mutter die theoretischen Forderungen der écriture féminine praktisch umsetzen und neue deutlich differenziertere Positionen einnehmen“.

Auch nimmt Krauze-Pierz für sich in Anspruch, mit ihrer Studie „bewiesen“ zu haben, „dass die Konstruktion der Mutter-Figur in der Schweizer Literatur von Frauen nach einem internen schweizerischen Diskurs erfolgt, der die Theorie der écriture féminine überholt und auf die spezifische gesellschaftlich-politische Situation der Schweizerinnen zurückzuführen ist“.

Wer sich von all dem überzeugen lassen möchte und bereit ist, rund 90 Euro zu investieren, möge das Buch kaufen. Der Rezensent allerdings mag sich nicht dazu entschließen, dies anzuraten.

Titelbild

Justyna M. Krauze-Pierz: Mutter und Mutterschaft – Konstruktionen und Diskurse. Topographie der Mütterlichkeit in der Deutschschweizer Literatur von Frauen.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2013.
291 Seiten, 89,80 EUR.
ISBN-13: 9783830063988

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